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10. Kapitel: Vedānta

Die Upaniṣaden, deren mannigfache Lehren uns aus dem dritten und vierten Kapitel bekannt sind, haben ihre Bedeutung als der höchste Ausdruck des heiligen vedischen Wissens durch die Jahrhunderte bewahrt. Während aber die vedische Offenbarung für manche Systeme wie z. B. für das Nyāya-Vaiśeṣika mehr ein gelegentlicher Schmuck ihrer selbständigen Argumentationen war, für die Mīmāṃsā nichts als eine Sammlung ritueller Gebote und Verbote, so sind für gewisse Kreise die am Ende ( anta) des Veda in den Upaniṣaden verkündeten Gedanken die Basis aller wahren Erkenntnis geblieben: Vedānta ist die Lehre der »Aupaniṣadas«, d. h. der Upaniṣadanhänger.

Daß diese Basis keine systematische war, mußte sich freilich auch dem Gläubigsten aufdrängen. Aber während sich unserm historisch eingestellten Blick die große Mannigfaltigkeit der Upaniṣadlehren durch die Verschiedenheit der Kreise und Epochen erklärt, war die Stellung des Vedagläubigen eine völlig andere. Wie man in der Karma-Mīmāṃsā die Schwierigkeit der oft einander entgegenstehenden Vorschriften im Werkteil des Veda durch ein System scharfsinnig erdachter Regeln hinwegzuräumen gesucht hat, so bedurfte auch der mit dem Erkenntnisteil des Veda Befaßte eines Leitfadens in dem Gewirr der divergierenden Upaniṣadlehren. Es galt dem Ritualismus der Mīmāṃsā, der Philosophie des Sāṃkhya, den buddhistischen Doktrinen und andern philosophischen Weltanschauungen und abgerundeten religiösen Systemen die eigenen heiligen Lehren in solcher Form gegenüberzustellen, daß man im Disput sich verteidigen, ja der Konkurrenten Herr zu werden unternehmen konnte. So formte man aus der Masse der heterogenen Ueberlieferung ein zusammenstimmendes Ganzes, in dem festen Glauben, daß hinter den flutenden Aussprüchen der Alten ein einheitliches Gerüst stehen müsse, weil die neue Zeit mit ihren entwickelteren Ansprüchen das forderte und es unmöglich schien, daß heiligste Ueberlieferung nicht höchsten Anforderungen genügen sollte. Um den Gipfelbegriff des Brahman suchte man in den Schulen der Upaniṣdanhänger, d. h. der Vedāntins, alle wesentlichen Punkte der Lehre systematisch zu gruppieren. Daß unter diesen alten Vedāntaschulen mancherlei Unstimmigkeiten über große und kleine Probleme der Lehre herrschten, ist bei der Vielgestaltigkeit des in den Upaniṣaden überlieferten Materials nicht anders zu erwarten und müßte a priori angenommen werden, aber wir besitzen auch historische Beweise dafür. Die uns vorliegenden Brahmasūtras, in denen ein uns sonst nicht weiter bekanntes Schulhaupt namens Bādarāyaṇa die Lehre endgültig zusammengefaßt hat -- es handelt sich um ein Werk von ungefähr 550 Aphorismen --, erwähnen nämlich gelegentlich alte Lehrer, die hinsichtlich gewisser Fragen den Standpunkt des Sūtraverfassers nicht teilten, und es scheint, daß diese Divergenzen ähnlich gerichtet waren, wie die der späteren Vedāntaschulen, von denen später die Rede sein wird [R253]. Die Richtung der alten Vedāntaschule des Bādarāyaṇa hat offenbar die andern zurückdrängen können, das beweist eben die Existenz der vorliegenden Brahmasūtras. Die Gründe für die Kodifizierung des Systems in dieser Richtung kennen wir nicht, sie mögen in erfolgreicher Vertretung durch eine starke Persönlichkeit oder in äußeren Umständen wie Fürstengunst u. dgl. nach Analogie mit andern ähnlichen Fällen der indischen Literaturgeschichte zu suchen sein. Auch die Datierung unserer Brahmasūtras ist trotz eines glänzenden Versuchs [R254], sie zeitlich zu fixieren, immer noch ungewiß. Der Fixierungsversuch geht von Stellen aus, welche mahāyānistische Anschauungen widerlegen, aber einmal ist es sehr schwierig, die kurzen Sūtras mit Sicherheit auf den Vijñānavāda oder den Śūnyavāda zu beziehen, und selbst wenn das geschehen ist, bleibt bei der Unsicherheit über die Anfänge der einzelnen buddhistischen Schulen die Datierung immer noch in der Schwebe. Wir müssen uns mit der Vermutung begnügen, daß die Kompilation der Brahmasūtras irgendwann in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten stattgefunden hat.

Zunächst haben wir nun die Anordnung und Form der Brahmasūtras zu betrachten, denn nur so kann der Leser einige Klarheit darüber gewinnen, in welchem Sinne die nachher zu gebende Inhaltsskizze als den Tatsachen entsprechend gelten kann. Das Ganze zerfällt in vier Kapitel ( adhyāya), deren jedes wiederum in vier Viertel ( pāda) eingeteilt ist. Die Pādas enthalten eine ungleiche Zahl von Sūtras (durchschnittlich zwischen 20-50). Die Sūtras innerhalb eines Pāda werden dann weiter zu Gruppen vereinigt, welche einen bestimmten Lehrpunkt behandeln ( adhikaraṇa). Während aber die Einteilung in Adhyāya und Pāda feststeht, ist die Aufstellung der Adhikaraṇas bei den verschiedenen Kommentatoren sehr verschieden. Angesichts der Natur der Brahmasūtras -- Wortgruppen von 2-10 Worten, vielfach ohne Subjekt und Verbum finitum -- wird man verstehen, daß in der Gruppierung einer Anzahl von Sūtras unter einem Thema ( adhikaraṇa) schon ein wichtiges Stück Interpretation liegt. Ferner herrscht auch nicht volle Einigkeit über den Umfang einzelner Sūtras, d. h. ein Kommentator faßt gelegentlich als ein Sätzchen auf, was ein anderer als zwei gesonderte Aussagen betrachtet, wodurch die Numerierung der einzelnen Sūtras nicht gleichmäßig ist [R255]. Endlich herrscht nicht immer Einigkeit über die Herauslösung der einzelnen Wörter. Da die einzelnen Wörter des Satzes im Sanskrit nach einem komplizierten System von Wohllautregeln miteinander verschmolzen werden, wobei Wortende und Wortanfang Veränderungen erleiden, ergeben sich öfter verschiedene Möglichkeiten der Worttrennung, die eventuell zu sehr verschiedenen Bedeutungen führen können: so kann man z. B. an einer Stelle (4, 3, 15) je nach Wunsch »weil in beiden Fällen ein Fehler (bzw. kein Fehler) vorliegt« verstehen, und tatsächlich sind beide Möglichkeiten verwertet worden. Schließlich finden sich noch Unstimmigkeiten hinsichtlich der Reihenfolge und der Authentizität einiger Sūtras.

Neben diesen äußeren Unterschieden bestehen innere. Wir finden eine Ausdrucksweise, die das Prägnante meidet und gern mit ziemlich unbestimmten Wörtern arbeitet. Das läßt sich, wie mir scheint, an verschiedenen Stellen verschieden erklären. Manchmal dürfte eine noch nicht ganz scharfe Erfassung des Problems der Grund sein, z. B. bei der Erörterung der Nichtverschiedenheit von Ursache und Wirkung (2, 1, 14 f.). In anderen Fällen, z. B. im vierten Pāda des vierten Adhyāya, tritt deutlich ein Kompromißstreben hervor, wahrscheinlich mit dem Zwecke, möglichst viele Vedānta-Anhänger verschiedener Schattierungen zusammenzufassen. Vor allem aber wird man die Absicht vermuten dürfen, Unberufene vom Verständnis auszuschließen und das Verhältnis von Schüler und Lehrer zu sichern, so z. B. wenn in fünfzehn Sūtras (2,2, 18-32), welche inklusive der Partikeln nur 45 Wörter enthalten, die philosophischen Schulen des späteren Buddhismus widerlegt werden, ohne daß das Wort »Buddhisten« darin vorkommt, ja unter Vermeidung aller speziell buddhistischer Fachausdrücke mit Ausnahme von »Momentanheit« ( kṣaṇikatvāt 2,2, 31).

Nach dem Gesagten wird es nicht wundernehmen, daß die hervorragendsten Kommentatoren der Brahmasūtras in ihrer Deutung des Textes sehr stark voneinander abweichen. Aber diese Abweichungen sind weniger durch die Vieldeutigkeit des Textes begründet, als vielmehr durch sie ermöglicht. Die Kommentarverfasser stehen nämlich nicht auf dem Standpunkt des modernen Forschers, der den Sinn eines alten Textes historisch und objektiv festzustellen bemüht ist, sondern für sie sind die Brahmasūtras die große Autorität, deren Gewicht sie für die spezielle Richtung ihrer eigenen Vedānta-Auffassung benutzen wollen. Es handelt sich also bei den großen Kommentaren um selbständige systematische Fortbildungen des Vedāntasystems, und man hat sich ihr Verhältnis zum Grundtext etwa so zu denken, wie wenn alle die großen deutschen Philosophen, die sich als Kantanhänger bekennen, statt unabhängige Werke zu verfassen, es ihrer Zeit schuldig zu sein geglaubt hätten, ihre Auffassungen in Form von Kommentaren zur Kritik der reinen Vernunft darzulegen. Es kann daher ein Kommentar den Sinn der Brahmasūtras, wie er ihrem Verfasser vorschwebte, durchaus verfehlen und doch, als selbständiges System genommen, von hoher Bedeutung sein. Das ist nach heutiger Meinung der Forschung mit dem Kommentar des Śaṃkara (9. Jahrhundert n. Chr.) der Fall, wie es sich durch Vergleich mit dem Kommentar des Rāmānuja (11./12. Jahrhundert n. Chr.) ergibt [R256]. Neben diesen beiden hervorragendsten Kommentarverfassern, die übrigens beide mit älteren verlorengegangenen Vorarbeiten in Beziehung stehen, sollen noch Nimbārka (12. Jahrhundert) und Vallbha (um 1500) gelegentlich berücksichtigt werden [R257]. Jeder der genannten vertritt eine besondere Richtung des Vedānta und sucht mit allen Mitteln der Interpretierkunst den Sūtras die Schattierung seiner eigenen Richtung abzugewinnen. Von den Systemen dieser Männer wird nachher zu reden sein, hier kommt es uns jetzt nur auf den Nutzen an, den wir aus einer Vergleichung ihrer verschiedenen Deutungen zu ziehen vermögen. Wir werden nämlich dadurch in Stand gesetzt, mittels Auswahl der plausibelsten Deutungen zu einer auf indisches Denken und indische Tradition gestützten Auffassung des Inhalts der Brahmasūtras zu gelangen, was ohne sie alle nicht möglich, mit nur einem von ihnen sehr bedenklich wäre [R258]. -- Nach dieser Klärung der Sachlage wenden wir uns dem Inhalt der Brahmasūtras zu.

Der erste Adhyāya unternimmt den Beweis, daß die Lehre vom Brahman das Ziel aller Upaniṣaden ist. Daher werden nach programmatischer Proklamierung der Brahman-Forschung ( brahmajijñāsā) in den drei ersten Pādas alle solche Upaniṣadstellen diskutiert, bei denen die Beziehung auf Brahman mehr oder minder zweifelhaft sein könnte, indem auf den ersten Blick auch eine Deutung auf die individuelle Seele oder irgendeine Gottheit oder die Prakṛti des Sāṃkhya möglich wäre, während der vierte Pāda sich mit solchen Stellen der hl. Schrift befaßt, die von Sāṃkhya-Anhängern besonders nachdrücklich für ihr System in Anspruch genommen werden, -- überall mit dem Resultat, daß die einzig zulässige Deutung auf Brahman gehen muß.

Hierbei ist es von besonderem geistesgeschichtlichen Interesse, daß die Nachweisung des vedāntistischen Zentralbegriffs beständig, wenn auch in wechselnder Deutlichkeit, von einer Kampfstellung gegen die Sāṃkhyadoktrinen begleitet ist. Wir sehen daraus, wie groß die Macht der Sāṃkhyaphilosophie in der Abfassungszeit der Brahmasūtras gewesen sein muß und wie tief das Sāṃkhya als in den Upaniṣaden (auch den ältesten) wurzelnd empfunden wurde. Die populäre Mischphilosophie, wie wir sie in der Bhagavadgītā und im Mokṣadharma des Mahābhārata kennengelernt haben, hat gewiß ihren Teil dazu beigetragen, in strengeren Kreisen das Bedürfnis nach klarer Systematisierung ihrer Schulstandpunkte wachzurufen, wobei dann das Bestreben hervortritt, ein so beliebtes Stück wie die Gītā als Eigentum der eigenen Schule zu betrachten; spielt doch besonders die Gītā für den Sūtraverfasser -- wenn wir den Kommentaren glauben dürfen -- und für den ganzen späteren Vedānta eine der hl. Schrift an Autorität nur wenig nachstehende Rolle.

Zu der Bekämpfung des Sāṃkhya seien noch einige Einzelheiten angeführt. Besonders liegt dem Sūtraverfasser daran, die Idee von der Ungeistigkeit der schöpferischen Weltursache als unmöglich zu erweisen, also an Stelle der Prakṛti des Sāṃkhya das Brahman des Vedānta als causa materialis der Welt zu stipulieren. Das tritt öfter hervor, besonders bedeutsam aber erscheint es, daß gleich am Anfang (1,1, 1-2) ein Einwand des Sāṃkhya-Anhängers in dieser Hinsicht geltend gemacht und dann vom Vedāntastandpunkt zurückgewiesen wird, wie Jacobi neuerdings wahrscheinlich gemacht hat [R259]. Während aber an vielen Upaniṣadstellen der Beweis, daß es sich um Brahman und nicht um Prakṛti handelt, auch vom historischen Standpunkt als erbracht gelten kann, darf andererseits nicht verschwiegen werden, daß der Eifer des Vedāntavertreters oft keine Grenzen kennt, so wenn der Vers der Śvetāśvatara-Upaniṣad (4, 5), der von der Ziege, ihren verschiedenfarbigen Jungen und den Böcken handelt (vgl. oben Kap. 4), für den Vedānta beansprucht wird, während man historisch gar nicht umhin kann, hier Sāṃkhya zu erkennen.

Einen wertvollen Hinweis auf die Vorgeschichte der Brahmasūtras bieten im vierten Pāda unseres Adhyāya die Sūtras 20-22, in denen die drei verschiedenen Ansichten dreier alter Lehrer über das Verhältnis der individuellen und der höchsten Seele mitgeteilt werden, wobei die Kommentare übereinstimmend die ersten beiden Ansichten als zu widerlegende ( pūrvapakṣa), die dritte als mit der Meinung des Sūtraverfassers übereinstimmend ( siddhānta) erklären, wobei freilich die Blaßheit des entscheidenden Wortes ( avasthitei) die verschiedenartigsten Deutungen ermöglicht. Ohne die Frage hier im einzelnen behandeln zu können, konstatieren wir nur: Angesehene Männer, die der Sūtraverfasser mit Namen zu nennen für angemessen hält, haben über das systematisch so wichtige Verhältnis von Jīva und Brahman verschiedene Lehren aufgestellt, es hat also abweichende Schulen neben oder vor unsern Brahmasūtras gegeben.

Endlich sei noch Sūtra 26 des vierten Pāda erwähnt, welches in einem Adhikaraṇa über Brahman als materielle Weltursache das Wort pariṇāma(Umwandlung) gebraucht, wodurch der Sūtraverfasser zu erkennen gibt, daß er die Welt als real und nicht als eine Scheinmanifestation ( vivarta) ansieht.

Nachdem nunmehr die Einwendungen gegen die Vedāntalehre hinsichtlich einzelner Schriftstellen widerlegt sind, beschäftigt sich der erste Pāda des zweiten Adhāya damit, Einwendungen gegen die Brahman-Lehre auf Grund der Smṛtis und unabhängiger Argumentation zurückzuweisen. Auch hier spielt zunächst der Kampf gegen das Sāṃkhya wieder die entscheidende Rolle, was von Śaṃkara (ad 2,1, 12) mit dem wichtigen Hinweis begründet wird, daß diese Lehre dem vedischen System eben besonders nahe stände, gewichtige Gründe für sich anzuführen vermöge und von einigen vortrefflichen Vedāntins teilweise angenommen werde. Dieser berechtigte Hinweis auf die Verwandtschaft von Sāṃkhya und Vedānta erfährt gleich seine Bestätigung in den Sūtras 14-20, in denen die beiden Systemen gemeinsame Lehre von der Nichtverschiedenheit der Ursache und des Produkts aufgestellt wird, wobei die verschiedenen Kommentatoren Gelegenheit finden, ihre speziellen Standpunkte in dem Begriff der Nichtverschiedenheit wiederzufinden. Für Śaṃkara bedeutet dieser Ausdruck, daß nur die Ursache ( brahman) real, das Produkt (die vielfache geistige und ungeistige Welt) aber einfach Illusion ( vivarta) ist. Für Rāmānuja ist das Produkt nur eine Umwandlung (parinäma) der Ursache; das Brahman als Ursache hat Geistiges und Ungeistiges als feinen Körper; wandelt es sich zum Produkt, so hat es Geistiges und Ungeistiges als groben Körper. Für Nimbārka ist das Produkt gleichzeitig verschieden und nicht-verschieden. Der Sūtraverfasser stützt seine Lehre von der Nichtverschiedenheit auf den oben von uns besprochenen Śvetaketu-Abschnitt der Chāndogya-Upaniṣad und scheint, was seine Beispiele (2,1, 19-20) besonders deutlich machen, die Nichtverschiedenheit etwa im Sinne der Umwandlung zu verstehen. Ganz scharf freilich wie seine so viel weiter vorgeschrittenen Erklärer wird man den Sūtraverfasser wohl nicht interpretieren dürfen, wie schon daraus hervorgeht, daß er im folgenden Brahmans Schöpfertätigkeit, die ohne äußere Hilfsmittel nur vermöge der ihm innewohnenden wunderbaren Kraft vor sich geht, mit dem selbständigen Gerinnen der Milch und gleichzeitig mit der Schaffenskraft der mythischen Götter vergleicht. Brahmans Weltschöpfung, so hören wir weiter, hat keinen Beweggrund, sondern ist reines Spiel. Schließlich wird der Vorwurf, seine Schöpfung zeuge wegen der Ungleichheit der Schicksale von Ungerechtigkeit und Unbarmherzigkeit, damit zurückgewiesen, daß dabei die Rücksicht auf die früheren Taten der Menschen entscheidend ist, -- eine Rücksicht, die angesichts der Anfanglosigkeit des Saṃsāra immer in Betracht kommt.

Der zweite Pāda unseres Adhyāya beschäftigt sich mit der Widerlegung der wichtigsten Systeme durch den Nachweis ihrer inneren Unstimmigkeit. Wieder steht (1-10) die Widerlegung des Sāṃkhya voran, dem vor allem vorgehalten wird, daß ein Ungeistiges (die Prakṛti) nicht schaffen oder sich bewegen kann, ohne von einem Geistigen geleitet zu werden, wobei auf die Schwächen in dem klassischen Bilde vom sehenden Lahmen (Puruṣa) und blinden Träger (Prakṛti) desselben hingewiesen zu werden scheint. 11-17 ist gegen die Vaiśeṣikas gerichtet und hebt besonders hervor, daß die Produktion der Welt durch die vom Karman-Gesetz in Bewegung gebrachten Atome unmöglich und die Annahme eines besonderen Inhärenzbegriffes ( samavāya) überflüssig sei. 18-32 werden die verschiedenen buddhistischen Schulen, die wir im neunten Kapitel kennen gelernt haben, abgefertigt. Dann folgen ganz kurz die Jinisten, denen besonders die Behauptung, die Seele habe gleichen Umfang wie der Leib, vorgeworfen wird, die Pāśupatas, welche Gott unrichtigerweise nur als wirkende und nicht als materielle Ursache auffassen, sowie die Bhāgavatas, deren Lehre (zuerst bezeugt durch den Schlußteil des Mokṣadharma) dem Vedānta unter den vorangegangenen am nächsten steht [R260]. Während die anderen Kommentatoren naturgemäß auch aus diesen Sūtras eine Ablehnung herauslesen, sucht Rāmānuja, der mit diesen Lehren innerlich zusammenhängt, charakteristischerweise hier eine bejahende Haltung des Sūtraverfassers zu konstruieren.

Der dritte Pāda unseres Adhyāya lehrt in seinen ersten fünfzehn Sūtras, daß Aether, Luft, Feuer, Wasser und Erde Schöpfungen des selbst ungeschaffenen Seienden sind. Wie sie in der genannten Reihenfolge durch Brahmans Schöpferkraft auseinander entstehen, so gehen sie umgekehrt, d. h. von unten angefangen, bei der Weltabsorption in Brahman zurück. Intelligenz und Organe entstehen und vergehen zusammen mit den Elementen, zu denen sie gehören. Die folgenden Sūtras bis zum Schlüsse des Pāda behandeln das wichtige Thema der individuellen Seele ( jīva). Der Jīva ist nicht geschaffen, sondern ewig; wo die Upaniṣaden von seinem Entstehen und Vergehen sprechen, ist das übertragen gemeint. Der Jīva wird als Erkenner bezeichnet ( jña 2, 3, 18), woraus sich ergibt, daß der Sūtraverfasser die Einzelseele nicht als unpersönliche Geistigkeit, sondern als besondere Individualität versteht. Der Jīva ist atomklein ( aṇu), heißt aber öfter in der hl. Schrift allverbreitet ( vibhu), weil, wie wir den Sūtraverfasser mit Nimbārka verstehen zu dürfen glauben, seine Eigenschaft »Geistigkeit« allverbreitet ist. Ferner wird der Jīva »aktiv« ( kartṛ) genannt, was gegenüber der Zuteilung aller Aktivität an die Buddhi im Sāṃkhya besonders betont werden muß. Seine Aktivität ist aber nicht ununterbrochen im Gange, sondern oft nur potenziell, wie der Zimmermann auch nicht immer arbeitet. Ferner ist seine Aktivität nicht unabhängig, vielmehr macht die höchste Seele die Einzelseele handeln entsprechend ihren früheren Taten und ihren eigenen Impulsen.

Die letzte Sūtragruppe (43-53) behandelt das Verhältnis von Jīva und Brahman. Gleich in 43 wird gelehrt, daß der Jīva ein Teil ( aṃśa) des Brahman ist. Aus dieser Tatsache dürfe man aber nicht folgern, daß die höchste Seele, wie der Jīva, mit Lust und Leid behaftet sei, vielmehr ist sie frei davon. Trotzdem die Jīvas Teile des Brahman sind, tritt keine Verwirrung ihrer individuellen Werkresultate ein, da sie, obwohl untereinander wesensähnlich, nicht identisch sind. Der Begriff »Teil« gibt, wie man sich denken kann, den Kommentatoren zu den verschiedensten Deutungen die Möglichkeit, und ebenso liegt die Sache im 50. Sūtra, wo das Wort ābhāsa (Erscheinung, Schein), gebraucht ist. Śaṃkara erklärt: Der Jīva ist nur ein Reflex des Brahman und somit weder mit ihm identisch noch von ihm verschieden. Wie die Reflexe eines Dinges auf den spiegelnden Flächen untereinander verschieden sind und nicht durcheinander geraten, so ist es auch mit den einzelnen Seelen und ihrem Karman. Vallabha findet in dem Worte ābhāsa nicht etwas Irreales wie Śaṃkara, sondern die Bedeutung, daß etwas wie etwas anderes erscheint, ohne doch ganz dasselbe zu sein. Rāmānuja und Nimbārka sehen in ābhāsa eine Kürzung für hetvābhāsa (Scheingrund) und betrachten das Sūtra als Verwerfung verschiedener, ihnen falsch erscheinender Doktrinen über die Seele. Diese Andeutung der auseinandergehenden Interpretationen möge ein Beispiel für die Schwierigkeit des Verständnisses vieler Sūtras abgeben. Eine Entscheidung im gegebenen Falle ist sehr arbiträr. Ohne meine Gründe hier näher diskutieren zu können, möchte ich die Absicht des Sūtraverfassers in der Richtung von Vallabhas Deutung vermuten.

Der vierte Pāda unseres Adhyāya handelt von den systematisch weniger wichtigen Organen der Seele, die hier im Anschluß an die alte uns bekannte Ausdrucksweise »Prāṇa« (Lebenshauche) genannt werden, womit aber nach den Kommentatoren die fünf Erkenntnissinne, die fünf Tastsinne und Manas gemeint sind. Sie sind sämtlich atomisch. Im übrigen verfolgen wir der Raumersparnis wegen die Einzelheiten hier nicht weiter.

Der dritte Adhyāya handelt in seinem ersten Pāda von der Wanderung der Seele. Beim Verlassen des Leibes im Tode ist die ausziehende Seele umhüllt von den feinmateriellen Elementen, welche die Organe in sich befassen. Diejenigen Seelen, welche das heilbringende Wissen ( vidyā) erworben oder gute Werke ( karman) getan haben, gehen zum Monde. Dort genießen sie die guten Resultate, um dann gemäß dem unverbrauchten Rest ( anuśaya) neuer Verkörperung zu verfallen. Die Seelen dagegen, welche weder Wissen noch gute Werke aufzuweisen haben, gehen zu Yama, dem Fürsten der Unterwelt. Seelen, die in Bäumen usw. wiederverkörpert werden, nehmen nicht an deren Körpern teil, sondern sind nur im äußeren Kontakt mit ihnen.

Der zweite Pāda beginnt mit einer sehr interessanten Erörterung des Traumes. Aus der Ausdrucksweise der Upaniṣaden könnte man entnehmen, daß im Traume eine Schöpfung stattfindet und die Seele der Schaffende dabei ist (1-2), aber das Traumbild ist in Wahrheit nur ein Zauberstück ( māyā), denn das Traumschaffen ist nicht wie anderes natürliches Schaffen. Zwar hat der Traum nach Schrift und Praxis prophetische Bedeutung, aber sein höchster Sinn ist durch den Willen des Höchsten verborgen oder durch die Verbindung des Jīva mit dem Leibe (3-6) [R261]. An die Erörterung des Traumschlafes schließt sich die Belehrung über den Tiefschlaf. Während desselben weilt der Jīva in den seit alters von der mystischen Anatomie angenommenen Kanälen ( nāḍī, 7) des Körpers und damit im Brahman. Den hieran möglicherweise sich knüpfenden Schluß, daß die Seele, weil im Brahman geweilt habend, nun erlöst und die erwachende eine andere sei, weist der Sūtraverfasser mit der durch Gründe gestützten Feststellung zurück, daß die Seele bei dem Erwachen aus dem Tiefschlaf dieselbe wie beim Einschlafen ist. Vom Wachen, Traumschlaf, Tiefschlaf und Tod wird dann noch die Bewußtlosigkeit der Ohnmacht usw. unterschieden.

Mit Sūtra 11 beginnt eine Diskussion, deren Erklärung im einzelnen sehr große Schwierigkeiten macht, da alle Kommentatoren ihren Spezialstandpunkt hineinzuinterpretieren versuchen, ohne daß es doch einem gelänge, die ganze Sūtrakette ungezwungen in den sicher vorhandenen logischen Zusammenhang zu bringen. Es handelt sich sichtlich um das Wesen des Brahman und dessen widerspruchsvolle Beschreibung in den heiligen Texten. Es wird von einem doppelten Charakter ( ubhayalinga) gesprochen. Śaṃkara findet diesen in dem Unterschiede des attributhaften und attributlosen Brahman und erklärt, daß der Sūtraverfasser diesen doppelten Charakter ablehne, weil das Brahman in Wahrheit ohne jedwede Attribute sei. Aber diese Unterscheidung Śaṃkaras, mit der sein strenger Monismus und seine Illusionslehre aufs engste zusammenhängen, findet im Ganzen der Brahmasūtras so wenig eine Stütze, daß man sie, auch abgesehen von den hier vorliegenden Bedenken im einzelnen, a limine als die Absicht des Sūtra Verfassers ablehnen muß. Rāmānuja und Nimbārka sehen in dem doppelten Charakter Brahmans die Freiheit von allen Unvollkommenheiten und den Besitz aller Vollkommenheiten, so daß es von den Mängeln des Jīva nicht berührt werden kann. Vallabha meint, daß das rein geistige Brahman alle Attribute gleichzeitig habe und nicht habe, und kommt vielleicht so den Absichten des Sūtraverfassers am nächsten. Aehnliche Verschiedenheiten der Auffassung finden sich hinsichtlich Sūtra 22 f., wo die berühmte Brahman-Beschreibung Yājñavalkyas »nicht, nicht« angedeutet sein soll. So recht Śaṃkara bezüglich der Upaniṣadstelle hat, daß hier jede Beschreibung abgelehnt werden soll, so wenig scheint er mit dieser Erklärung dem Sūtraverfasser gerecht zu werden. Auch im folgenden (27 f.) macht der Sūtraverfasser den Eindruck systematischer Unbestimmtheit, wenn er das Verhältnis des Brahman zur vielheitlichen Welt (oder zur Vielheit der Seelen?) mit dem Verhältnis der Schlange zu ihren Windungen oder des Lichts zur Lichtquelle oder des Ganzen zum Teil illustriert, denn genau betrachtet wären diese Vergleiche nicht der Nebeneinanderstellung durch »oder« fähig, wenn eine scharf formulierte systematische Anschauung dahinterstände. Ganz sicher geht nur daraus hervor, daß das eine Brahman sich in Vielheit zeigt, ohne daß diese Vielheit Schein ist. Sehr klar dagegen sind die Schluß-Sūtras, in denen die Lehre der Mīmāṃsā (unter ausdrücklicher Nennung des Jaimini), daß die Werkfrucht automatisch eintrete, abgelehnt wird zugunsten der Lehre des ebenfalls genannten Bādarāyana, daß für das Eintreten der Werkfrucht die höchste Seele der Veranlasser ist.

Mit dem dritten Pāda beginnen wesentlich andere Ueberlegungen. Es handelt sich nunmehr um die praktischen Mittel, welche zur Vereinigung mit Brahman dienen. Die zu verschiedenen vedischen Schulen ( śākhā) gehörigen Upaniṣadtexte geben die zur Meditation ( upāsana) über das Brahman bestimmten Stücke in mehr oder minder abweichenden Formen und erfordern so für den Gläubigen eine Entscheidung, wie weit sie als praktisch identisch oder verschieden anzusehen sind. Hinsichtlich der Differenzen in den Opfervorschriften konnte man sich mit verschiedenen gleichwertigen Verrichtungen für die Anhänger der einzelnen Schulen abfinden, hinsichtlich der Ueberdenkung der Wahrheit aber, die ja nur eine sein kann, mußte eine einheitliche Regelung erfolgen. Das wollen nun die Brahmasūtras in dem vorliegenden Abschnitt leisten, gewiß im Anschluß an sehr alte Traditionen, da das Bedürfnis schon frühzeitig hervorgetreten sein muß. So wichtig aber diese Zusammenordnung der heiligen Texte für die Praxis des Vedāntafrommen ist, so hat sie doch nur sehr mittelbar philosophisches Interesse und soll daher hier nicht näher verfolgt werden, zumal die dazu notwendige Vorlegung der einschlägigen Upaniṣadstücke den zu Gebote stehenden Raum weit überschreiten würde.

Auch der vierte Pāda ist mehr praktisch orientiert, indem er das Verhältnis der Brahman-Wissenschaft zum Werkdienst, zu den brahmanischen Lebensstadien u. a. m. regelt.

Der vierte und letzte Adhyāya diskutiert die Erlösung. Im ersten Pāda handeln noch einige Sūtras (1-12) als Anhang zum Vorangehenden über Meditationen als Mittel zur Erlösung, während die restlichen sieben Sūtras lehren, daß für den, der die Brahman-Erkenntnis erreicht hat, das Karman-Gesetz nicht mehr wirksam ist, d. h. die Folgen seiner bösen Taten sind sofort vernichtet und die Folgen der guten bei seinem Tode, beides aber nur, falls ihre Wirkung nicht schon vor der Erlangung der Erkenntnis begonnen hat, andernfalls muß der Ablauf noch stattfinden. Der zweite Pāda behandelt den Auszug der erlösten Seele aus dem Leibe. Śaṃkara nimmt hier und im folgenden einen Unterschied zwischen dem Kenner des niederen und des höheren Wissens an, was offensichtlich nicht in der Absicht des Sūtraverfassers liegt. Im dritten Pāda ist zuerst von dem in den Upaniṣaden nicht widerspruchsfrei geschilderten Wege die Rede, den die erlösten Seelen unter der Leitung göttlicher Wegführer zu Brahman gehen. Da entsteht nun die Frage über die Natur dieses als Brahman bezeichneten Zieles. Nach dem alten Lehrer Bādari (7) kann nur der vom Brahman zuerst geschaffene Gott Hiraṇyagarbha gemeint sein, da Eingehen zu dem allgegenwärtigen höchsten Brahman ein Widerspruch ist. Gegen den Einwand, daß das keine wahre Erlösung sei, da Hiraṇyagarbha als geschaffen nicht ewig ist, wird dann das Eingehen zum höchsten Brahman nach dem Untergang des niederen für die Seelen verheißen. Gegen diese Lehre des Bādari wird aber Jaiminis begründete Ansicht gestellt, daß nur das höchste Brahman das Ziel sein könne. Wahrscheinlich steckt unausgesprochen in beiden Lehren noch die Stellungnahme zu der Frage, ob der Weg zu Brahman für die Verehrer des höheren Brahman allein oder auch für die des niederen gelte, denn Bādarāyaṇa schließt mit der Feststellung, daß alle Brahman-Verehrer, soweit sie sich nicht mit den in Chāndogya-Upaniṣad 7 aufgezählten Symbolen ( pratīka) begnügt haben, zum höchsten Brahman geführt werden. So wenigstens scheinen die schwierigen, sehr verschieden erklärten Sūtras 7-16 den zusammenhängenden Sinn zu ergeben, der vielleicht vom Sūtraverfasser beabsichtigt ist. Der vierte Pāda beschäftigt sich mit dem Wesen der erlösten Seele und ihrem Verhältnis zur höchsten. Erlöstheit, so lernen wir, ist das Offenbarsein der höchsten Natur der Seele, nicht etwa der Besitz neuer Eigenschaften. Ihr Verhältnis zum Brahman wird als »Ungeteiltheit« ( avibhāga) bezeichnet, was von den Kommentatoren in verschiedenen Abschattungen aufgefaßt wird. Hinsichtlich der Streitfragen, ob die erlöste Seele alle die ihr öfter beigelegten Eigenschaften wie Entschlossenheit zum Rechten, Gottherrlichkeit usw. besitze oder nur reine Geistigkeit, ob sie einen feinen Körper habe oder keinen, nimmt Bādarāyaṇa eine Kompromißstellung ein. In beiden Fällen trifft beides zu. Wünscht die erlöste Seele einen feinen Körper, so hat sie ihn und genießt mittels seiner Organe, -- wünscht sie ihn nicht, so realisiert sie ihre Wünsche, wie wir es vom Traume her kennen. Eine Wiederkehr in grober Verkörperung gibt es für sie nicht mehr.

Ueberblicken wir die Vedāntalehren der Brahmasūtras, so gewinnen wir den Eindruck, daß hier die hohen und die weniger hohen Gedanken der wichtigsten Upaniṣadstellen zu einem System vereinigt sind, welches den Bewunderer etwa der Reden Yājñavalkyas nicht ganz befriedigen wird. Die Bedürfnisse mythischer Religion haben den Aufschwung der großen religiös-philosophischen Ideen beeinträchtigt, wie es besonders der letzte Adhyāya deutlich macht. Was aber an rein philosophischen Keimen in den alten Texten liegt, das hat Bādarāyana nicht in dem Maße entwickelt, wie es würdig und fähig wäre, entwickelt zu werden. Hier setzt die Arbeit des großen Śaṃkara ein, der, Hohes und Niederes trennend und den Einheitsgedanken zu Ende denkend, die Form des Vedānta festgelegt hat, die noch heute die meisten der besten Geister Indiens befriedigt, so daß allgemein, wenn von Vedānta die Rede ist, ohne weiteres Śaṃkaras System verstanden wird. Daß sein Versuch, seine Ideen den Brahmasūtras aufzuzwingen, vom kritisch-historischen Standpunkt unhaltbar ist, wurde schon erwähnt; unabhängig davon aber verdient sein strenger Monismus ( kevalādvaita) größte Beachtung.

Ein früherer Bekenner des Monismus ist uns aus der brahmanischen Literatur bekannt: Gauḍapāda, nach der indischen Tradition der Lehrer von Śaṃkaras Lehrer (also etwa um die Mitte des 8. Jahrhunderts n. Chr.), der Verfasser eines vierteiligen philosophischen Gedichts, welches sich im Anfang an die kurze Māṇḍūkya-Upaniṣad anschließt, um dann selbständige Lehren zu entwickeln, deren Inhalt und historische Bedingtheit uns nunmehr beschäftigen muß [R262].

Die poetische Form und die Begeisterung für die eine zu verkündende Wahrheit hat einen scharfgegliederten Gedankengang in den 215 Strophen nicht aufkommen lassen, vielmehr ein immer erneutes Umkreisen einiger zentraler Ideen erzeugt, wie wir es z. B. in der Gītā beobachten konnten. Zum Verständnis des Wesentlichen scheint daher eine den Kurven des Gedichts im einzelnen nicht folgende unabhängige Skizze der Hauptgedanken der beste Weg. Auch für Gauḍapāda ist wie für Bādarāyaṇa die Śruti, d. h. die Ueberlieferung der heiligen Upaniṣaden, grundlegende Autorität. So sehen wir ihn seine Lehre durch eine Reihe von Zitaten aus Bṛhadāraṇyaka, Chāndogya u. a. erhärten, welche für ihn klar auf dem Boden des strengen Monismus stehen, während wir vom historischen Standpunkte -- daran sei hier im Vorübergehen erinnert -- in diesen Stellen nur die Keime späterer Entschiedenheit erkennen. Soweit sich die Śruti aber zweiheitlich äußert, wird sie von unserem Autor in übertragenem Sinne ( gauṇa) verstanden. Denn die höchste Wahrheit ( paramārtha) ist die Nichtzweiheit ( advaita). Zweiheit oder Verschiedenheit ( bheda) ist Verhüllung ( samvṛti) der Wahrheit nach der Ausdrucksweise unseres Autors, der sich damit eng an die Terminologie der Mahāyāna-Philosophen anschließt.

Das Grundprinzip der Welt wird von den verschiedenen religiösen und philosophischen Systemen fälschlich auf die allerverschiedenste Weise aufgefaßt, ebenso wie man in der Dämmerung einen auf dem Wege liegenden Strick irrtümlich für eine Schlange [R263] oder sonst etwas anderes hält (2, 17). Ein anderer Vergleich, dem wir häufig im philosophischen Mahāyāna-Buddhismus, aber auch schon in der Maitrāyaṇa-Upaniṣad (6, 24) begegnen, hat dem vierten Teil unseres Gedichts den Namen gegeben: die Beilegung des Feuerbrandes ( alāta) [R264]. Wie ein geschwungener Feuerbrand den Schein ( ābhāsa) grader und krummer Lichtstreifen erzeugt, die aber in Wirklichkeit nur Augentäuschung sind, so entsteht durch die Bewegung des Bewußtseins ( vijñāna) der Schein von Entstehen und Vergehen, während in Wirklichkeit nichts vor sich geht (4, 47-52).

Fragt man, wie ein solcher Irrtum möglich sei, wie das eine absolute Geistigkeitsprinzip sich irren könne, so ist die Antwort: »Das göttliche Selbst (ātman) stellt sich selbst vermöge seiner eigenen Māyā als Vielheit vor« (2,12). Auf dieses schwierige metaphysische Problem des göttlichen Selbstbetruges wird nicht näher eingegangen, dafür aber wird unser Autor nicht müde, in immer neuen Wendungen das tatsächliche Zustandekommen des Irrtums in der ja letztlich unwirklichen Sphäre der Empirie zu beschreiben: das Denken schafft sich die Dinge und projiziert sie nach außen. In der Verbalwurzel kalp, die zur Bezeichnung der Tätigkeit des Denkorgans ( manas, citta) gebraucht wird, liegt der Sinn des Bildens, Konstruierens, der freien Schöpfung, und das wird den Leser an die Theorien erinnern, die wir im vorigen Kapitel bei der Mahāyāna-Philosophie kennengelernt haben; auch der Ausdruck Dharma (Gegebenheit), den Gauḍapāda gern neben anderen Wörtern für »Ding« benutzt, weist auf die Diktion des späteren Buddhismus.

Zu den gefährlichsten Denkkonstruktionen rechnet unser Autor die Kausalanschauung, denn auf ihr beruht die irrige Annahme von Entstehen und Vergehen, das größte Hindernis zur wahren Einheitserkenntnis. Er sucht daher mit aller Kunst einer Dialektik, die an das Verfahren des Śūnyavāda erinnert, die Kausalität als eine logische Denkunmöglichkeit zu erweisen. Die Lehre, daß Ursache und Produkt nicht verschieden seien, weil das Produkt nur eine Umwandlung der Ursache sei (vgl. Brahmasūtras 2,1, 14 f.) führt nach Gauḍapāda dazu, daß entweder Produkt (z. B. die Welt) wie Ursache (z. B. das Brahman) unentstanden oder daß eben beide entstanden sind. Vielleicht darf man hierin eine Polemik gegen Bādarāyaṇa sehen, obwohl der Kommentar das Sāṃkhya als Beispiel heranzieht. Fernere Argumente gegen die Kausalität sind der Vorwurf, den logischen Fehler eines regressus in infinitum ( anavasthā) herbeizuführen, sowie die nötige zeitliche Aufeinanderfolge ( krama) nicht aufrechterhalten zu können, da das Früher oder Später in der Reihe nicht mehr unterscheidbar sei, wenn eins aus dem anderen hervorgehe. Das hier gewöhnlich gebrauchte Bild von Same und Pflanze wird ebenfalls dialektisch abgelehnt. In diesem Sinne ist auch die Lehre von Saṃsāra und Erlösung unmöglich: Es gibt nur Ewigkeit oder zeitliche Begrenztheit nach beiden Seiten, aber Anfanglosigkeit mit Ende, wie man sie dem Saṃsāra zuschreibt, oder Endlosigkeit mit Anfang, wie sie der Erlösung eignen soll, ist undenkbar. Ewigkeit des Saṃsāra aber schließt Erlösung aus, Ewigkeit der Erlösung den Saṃsāra. Somit ist alles Werden sinnlose Einbildung.

Eine ähnliche Wendung gegen die Brahmasūtras scheint auch in der Darstellung des Verhältnisses zwischen Universal-Ātman und Einzel-Ātman (jīva) zu liegen, wenn (4, 7) ausdrücklich betont wird, daß der Jīva weder eine Umwandlung ( vikāra) noch ein Teil ( avayava) des höchsten Ātman ist, womit man Brahmasūtra 2, 3, 43 konfrontiere. Das Verhältnis wird durch einen glücklichen Vergleich deutlichgemacht: Der höchste Ātman ist wie der Raum ( ākāśa), die Einzelseelen wie der Raum in den einzelnen Töpfen (Leibern). Ueberall ist derselbe Raum, der Unterschied wird nur durch die Topfbegrenzungen hervorgerufen, -- so gibt es nur einen Ātman in den vielen Leibern. Aber Lust und Leid ist doch in den verschiedenen Seelen verschieden! Ebenso wie in einem Topf Staub, im andern Rauch sein kann, ohne daß der Raum im Topfe beeinflußt wird, so steht es auch mit den Seelen. Völlige Einheit also ohne Werden und Teilung ist die höchste Wahrheit.

In diesem Sinne unterscheidet unser Autor im vierten Abschnitt (87 f.) die vier Zustände, welche er schon eingangs im Anschluß an die Upaniṣad behandelt hatte, als vier Stufen von verschiedenem und zwar ansteigendem Wahrheitswert: erstens den zweiheitlichen gewöhnlichen Zustand des Wachens, welcher Wahrnehmer und Wahrgenommenes getrennt umfaßt, zweitens den geläuterten gewöhnlichen des Traumes, in welchem objektlos vorgestellt wird, drittens den überweltlichen des Tiefschlafs, wo weder Objekt noch Wahrnehmung vorhanden ist, und endlich einen vierten absoluter Einheit und Geistigkeit -- die höchste Wahrheit.

Daß hier alles zum Yoga drängt, wird man sofort sehen. Der hier empfohlene Yoga der »Kontaktlosigkeit« ( asparśayoga [3, 39]) wird als so schwierig dargestellt, daß er selbst geübten Yogins Scheu einflößt. Die völlige Ueberwindung des konstruierenden Manas ist dabei die Hauptsache. Das Manas muß sich seiner Natur entäußern ( amanībhāva), zum Nicht-Manas werden ( amanastā), dann tritt die Realisierung des schon vorher theoretisch erkannten Mangels aller Unterschiede ein: kein Werden, überall Erleuchtung und Erlösung von Anfang an, ewige Unveränderlichkeit. Das Leben eines solchen Erkenners -- frei von Schwatzen und Grübeln -- ist die völlige von allem äußeren Kult abgewandte Ruhe des Starren ( jaḍa), der keinerlei Interesse an der Welt mehr hat. Es ist das alte Ideal des Yājñavalkya, aber mit einem philosophischen Unterbau, wie ihn die neue Zeit forderte. Daß dieser Unterbau aus dem Mahāyāna entlehnt ist, wird man nach Gedankengang und Diktion nicht leugnen können. Wenn aber Gauḍapāda hier das Beste seiner Zeit zur Klärung des höchsten Upaniṣad-Standpunkts übernommen hat, so handelt es sich nicht um Aneignung fremden Gutes, sondern um das altbrahmanische Element im spätbuddhistischen Denken.

Auf dem Boden der von Gauḍapāda vertretenen Weltanschauung hat Śaṃkara (ungefähr erstes Viertel des 9. Jahrhunderts), von den Indern gewöhnlich Śaṃkarācārya, d. h. Meister Śaṃkara genannt, sein Werk aufgebaut, welches von weitestem und dauerndstem Einfluß geworden und bis heute geblieben ist. Aus einer Brahmanenfamilie Südindiens stammend, hat er auf weiten, bis nach Kaschmir ausgedehnten Propagandareisen nicht nur seine religiös-philosophische Lehre durch Predigt und Disputation verbreitet, sondern auch die praktische Seite des religiösen Lebens durch Organisationen in seinem Sinne aufs stärkste beeinflußt [R265]. Zahlreiche Schriften -- Kommentare zu den wichtigsten Upaniṣaden und zur Bhagavadgītā sowie selbständige Werke -- gehen unter seinem Namen, aber mangels einer zusammenfassenden kritischen Untersuchung hinsichtlich der Begründetheit dieser Tradition in den Werken selbst kann ihm nur ein Werk mit Sicherheit beigelegt werden: der große Kommentar (Bhāṣya) zu den Brahmasūtras.

In diesem Bhāṣya hat Śaṃkara den schroffen, keinem Kompromiß zugänglichen, nur auf wenige Upaniṣadstellen gestützten Monismus, welchen Gauḍapāda in seinem Gedicht vorgetragen hatte, zum Kern einer erweiterten, den verschiedenen menschlichen Bedürfnissen mehr angepaßten Lehre gemacht, indem er einerseits durch Heranziehung aller wichtigen Upaniṣadstellen der absoluten Einheitslehre die breiteste Basis gab, andererseits dem höheren und allein erlösenden Wissen ( parā vidyā) vom absoluten Brahman, das Gauḍapāda gelehrt, ein niederes, nur auf die relative Wahrheit gerichtetes, aber doch auch nicht wertloses Wissen ( aparā vidyā) von Gott und Seele, Strafe und Belohnung zur Seite stellte. Dieser Gedanke einer doppelten Wahrheit, einer absoluten und einer relativen, der auf die Mahāyāna-Philosophie zurückweist, läßt sich zu seiner Wurzel in den ältesten Upaniṣaden zurückverfolgen, wo die Welt die Wahrheit und das Brahman die Wahrheit der Wahrheit genannt wird.

Von der höchsten Wahrheit ( paramārthatai) erübrigt es sich hier noch einmal zu reden, nachdem wir das Werk Gauḍapādas betrachtet haben; von der relativen ( vyavahāratai, wörtlich: dem Gebrauch, dem Welttreiben gemäß) werden wir eine Schilderung zu geben haben, die um so kürzer sein darf, als dem Leser in Deussens »System des Vedānta« eine streng auf Śaṃkaras Bhāṣya basierte Darstellung zur Verfügung steht. Bei der großen Verbreitung des absoluten Monismus hat sich nun aber naturgemäß an Śaṃkaras Grundwerk eine reiche Literatur nicht nur von Kommentaren, sondern auch von selbständigen Werken im Laufe der Jahrhunderte angeschlossen, in welchen teils die Probleme der Śaṃkaralehre genauer durchgedacht, teils Gebiete systematischen Denkens, die im Grundwerk vernachlässigt waren, im Sinne der gegebenen Grundsätze neu angebaut wurden. Da auch die kürzeste beschreibende Aufzählung dieser großen Literatur den Rahmen dieses Buches weit überschreiten würde [R266], beschränke ich mich auf die Erwähnung zweier zur Ergänzung hier benutzter Werke, welche ungefähr am Ende dieser Literatur (um 1600) stehen: der »Siddhānta-leśa-saṃgraha« des gelehrten Appaya Dīkṣita [R267] gibt eine Sammlung der verschiedenen Lehrmeinungen über einzelne Punkte innerhalb des strengmonistischen Vedānta; von diesen soll wenigstens einiges im Zusammenhang mit Śaṃkaras eigenen Lehren angedeutet werden, während das von Śaṃkara kaum bearbeitete Gebiet der Erkenntnistheorie der wichtigen »Vedāntaparibhāṣā« des Dharmarāja [R268] entnommen werden soll.

Wir betrachten zunächst das Verhältnis des Brahman zur materiellen Welt, wie es Śaṃkara vom relativen praktischen Standpunkt aus darstellt. Da ist nun Brahman sowohl die bewirkende als auch die materielle Ursache, der mit Qualitäten ausgestattete Weltschöpfer und höchste Herr ( parameśvara), der die Welt schafft, regiert und zerstört, und gleichzeitig der Stoff der Welt, die in anfang- und endloser Wiederholung aus ihm entsteht und in ihn zurückkehrt. Es handelt sich dabei um die materielle Welt, um die fünf Elemente (man beachte, daß also auch der Aether hier im Gegensatz zum Nyāya-Vaiśeṣika als »geschaffen« gilt) und alles aus diesem Gebildete, wozu nicht nur der Leib, sondern auch (in Uebereinstimmung mit dem Sāṃkhya) die sogenannten psychischen Organe gehören. Wie steht es nun aber mit der Realität dieser Welt, die doch für den Standpunkt der niederen Wissenschaft ( aparā vidyā) existiert, vom Standpunkt der höheren Wissenschaft ( parā vidyā) aber als Blendwerk ( māyā), als Resultat des Nichtwissens ( avidyā) bezeichnet wird? Auf diese Frage antwortet Śaṃkara, daß die Welt, wie wir sie wahrnehmen, wirklich ist, und bekämpft aufs heftigste die buddhistischen Lehren, daß sie nur eine Gedankenkonstruktion oder ein Nichts sei. Der Vergleich des Lebens mit dem Traum spricht nicht gegen die Realität der Welt in jedem Sinne: »Das Traumerlebnis eines Schlangenbisses, eines Wasserbades und dgl. erweist sich dem Erwachten zwar als unwahr, wirklich aber bleibt für ihn die Tatsache, daß er solche Wahrnehmungen gehabt hat.« Ebenso ist das Welterlebnis solange wahr, wie es nicht durch die höhere Wissenschaft vom Brahman aufgehoben ist, aber diese Aufhebung ist ja nur durch die Erkenntnis des einzelnen für den einzelnen bewirkt, praktisch bleibt die Welt, diese Māyā des Brahman, bestehen. In diesem Begriff der Māyā, die übrigens das höchste Selbst, obwohl von ihm ausgehend, so wenig berührt, wie den Zauberer das von ihm ausgegangene Zauberstück (māyā) [R269], liegen nun Schwierigkeiten, die freilich Śaṃkara nicht beachtet hat, welche aber die Späteren sehr erheblich beschäftigt haben. Da sieht man in Māyā die direkte materielle Ursache der Welt und Brahman ist die Grundlage der Māyā, oder Māyā ist eine helfende Ursache neben dem Brahman als der eigentlichen causa materialis, oder Māyā ist gar die eigentliche Ursache und Brahman ist über alles Ursachesein erhaben [R270]. Man bemerke, wie nahe die Gefahr liegt, Māyā zur Materie im Sāṃkhyasinne oder zur weiblichen Potenz ( śakti) des höchsten Gottes im Tantrasinne zu machen. Logischer Definition bot der Māyā-Begriff die größten Schwierigkeiten. Man konnte nicht sagen, Māyā existiere, denn im absoluten Sinne ist sie ja Trug, aber man konnte sie auch nicht »nichtseiend« nennen, denn sie existiert ja, sofern sie praktisch erlebt wird. So nannte man sie »unbeschreiblich« ( anirvacanīya) [R271].

Von der materiellen Welt wenden wir uns zur Seele ( jīva). Sie ist ihrem Wesen nach reine Geistigkeit ( caitanya), denn sie ist ja im absoluten Sinne Brahman, der Einzel-Ātman und der höchste Ātman sind ja identisch. Die Spaltung ( bheda) des Einen in die Vielheit, die Abgrenzung der einzelnen Jīvas gegeneinander ist nur durch das anfanglose Nichtwissen ( avidyā) bewirkt. Vermöge der Avidyā ist die Seele mit »Upādhis« (Beilegungen, Bedingungen) verbunden, aus der Absolutheit in die Bedingtheit versetzt, d. h. zur individuellen, handelnden ( kartṛ) und die Folgen ihrer Werke genießenden ( bhoktṛ) geworden. Der Umfang des Upādhi-Begriffs nun erscheint in verschiedener Größe: Upādhi ist der grobe Leib, indem er die Seele beschränkt, wie wir bei Gauḍapāda in dem Gleichnis vom Topfraum und Weltraum gesehen haben. Upādhi ist ferner der »feine Leib«, welcher, aus den Feinteilen der Elemente bestehend, dem psychischen Apparat in potenzieller Form auf dem Wege von einem Leben zum andern als Stütze dient und von den die Wiedergeburt bestimmenden Wirkungen der Werke begleitet ist. Upādhi ist ferner der Hauptlebensodem ( mukhyaprāṇa), dessen fünf Verzweigungen ( prāṇa usw.) die unbewußten Körperfunktionen ausführen. Wenn wir dann noch die Funktionen der fünf Erkenntnisvermögen (Gesicht, Gehör, Geruch, Geschmack und Tastsinn), sowie die fünf Tatvermögen (Greifen, Gehen, Reden, Zeugen, Entleeren) als Upādhis aufgezählt haben, kommen wir endlich gleichsam zum innersten Upādhi der Seele, dem Innenorgan ( antaikaraṇa), welches für Śaṃkara das Zentralorgan der eben genannten zehn Vermögen ist. Bezeichnend für sein geringes Interesse an eingehenderer Analyse des Erkenntnisprozesses erwähnt unser Philosoph, der Innenorgan und Manas als Synonyma verwendet, nur gelegentlich nebenbei (z. B. ad 2, 4, 6), daß man dieses Organ wegen der Vielheit seiner Funktionen öfter in Manas, Buddhi, Ahaṃkāra und Citta zerlege, denen (im Anschluß an die Andeutung ad 2, 3, 32) die Vedāntaparibhāṣā [R272] die Spezialfunktionen des Zweifels, der Gewißheit, des Selbstbewußtseins und der Erinnerung zuordnet.

Aus der Vedāntaparibhāṣā mag hier auch in gröbsten Zügen einiges über den Wahrnehmungsprozeß hinzugefügt werden, wie ihn manche späteren Vedāntins im Anschluß an die realistischen Systeme unter Anpassung an die eigenen Grunddogmen und mit mancherlei Anklängen an Dharmakīrti zu deuten gesucht haben. Im ersten Kapitel seines Werkes behandelt Dharmarāja die Wahrnehmung ( pratyakṣa, mit der doppelten Bedeutung des Aktes und des Resultats wie das deutsche Wort) als erstes der sechs Mittel zu richtiger Erkenntnis, welche er gemeinsam mit der Mīmāṃsāschule des Kumārila (oben Kap. 7) annimmt.

Wir betrachten zuerst den durch einen Vergleich erläuterten Vorgang zwischen Innenorgan und Gegenstand (z. B. Topf): »Wie Wasser, aus dem Loch im Damme des Teiches austretend und mittels eines Kanals in ein Feld einströmend, die viereckige oder runde Form dieses Felds annimmt, so tritt das Innenorgan aus der Augenöffnung, geht mittels des Gesichtssinnes zu dem Topfe hin und nimmt dessen Form an. Solche Umformung ( pariṇāma) heißt Funktion ( vṛtti).« Diese Funktion des Innenorgans, das, an sich ungeistig, nur im Augenblick seiner Umformung (Funktion) von der immer leuchtenden Seele beleuchtet, d. h. bewußt gemacht wird, ist also dem Topfe gleich. Wie ist das möglich? Alles ist im Grunde Brahman, und Brahman ist Geistigkeit ( caitanya). Die Anpassungsform des Innenorgans und die Topfform sind dieselbe durch zwei verschiedene Faktoren bestimmte Geistigkeit, und da sie denselben Platz einnehmen, sind sie identisch. In diesem Sinne wird die richtige sinnliche Wahrnehmung definiert als die Uebereinstimmung zwischen der Geistigkeit ( caitanya = brahman), welche durch ein gegenwärtiges, von irgendeinem Sinnesvermögen erfaßbares Objekt qualifiziert ist, und der Erkenntnis ( jñāna = caitanya), welche durch die Anpassung an die betreffende Form des Objektes bestimmt ist [R273]. Daß aber hier Uebereinstimmung von doch in Wahrheit Identischem erst noch konstatiert werden muß, liegt an den Upādhis Innenorgan und Topf, deren Spaltung und damit Vereinigungsmöglichkeit auf Avidyā oder Māyā zurückgeht. Aber innerhalb der großen Weltillusion ist, wie wir eben sahen, eine relativ wahre, praktisch brauchbare Wahrnehmung möglich und entsprechend auch eine Täuschung, eine Illusion also sozusagen zweiten Grades.

Wie entsteht der Irrtum, der einen Menschen tatsächliches Perlmutter für Silber halten läßt? Die große Weltausbreiterin, Avidyā oder Māyā, hat in diesem Falle tatsächlich die Form von Perlmutter, aber sie formt sich um, so daß sie auf der Seite des Objekts als silberfarbiger Gegenstand und auf der Seite des Subjekts als scheinbare Silbererkenntnis erscheint. Die Veranlassung dieser Umformung aber liegt im Subjekt, in welchem, unterstützt durch einen organischen Defekt, die durch die Aehnlichkeit des Glanzes hervorgerufene Erinnerung an Silber wirksam ist. Es handelt sich also im Vedānta beim Irrtum um »falsche Auffassung« ( anyathākhyāti) wie im Nyāya-Vaiśeṣika, zum Unterschied von der Mīmāṃsā, die hier einfach »Nichtauffassung« ( akhyāti) des eigentlichen Gegenstandes lehrt.

Man beachte hier noch, daß diese vedāntistische Erkenntnistheorie, soweit sie sich in der Sphäre der relativen Wahrheit bewegt, ebenso realistisch ist wie die Anschauung im Nyāya-Vaiśeṣika. Es hat aber auch andere, dem buddhistischen Vijñāavāda nahestehende Anschauungen innerhalb der Śaṃkaraschule gegeben. Der Siddhāntaleśa (p. 70) erwähnt eine Richtung, welche die Existenz alles Wahrnehmbaren als durch Denken konstruiert ( kalpita, vgl. Gauḍapāda und Dharmakīrti!) ansah, -- die Lehre von der Schaffung der jeweiligen Gegenstände durch die jeweilige Wahrnehmung des einzelnen ( dṛṣti-sṛṣṭi-vāda).

Mit diesen Andeutungen müssen wir uns hier begnügen. Sie können nur einen bescheidensten Hinweis darstellen auf die Fülle schwieriger Probleme, welche Śaṃkara seinen Nachfolgern hinterlassen hat, und auf die verwirrende Mannigfaltigkeit der Lösungen, die meistens, wenn auch nicht ausschließlich, an den Grunddogmen des strengen Monismus orientiert sind.

Endlich wäre nun noch von den Schicksalen der Seele nach dem Tode und von der Erlösung zu reden, doch muß ich mich hier unter Hinweis auf die schon vorhandenen Darstellungen besonders kurz fassen. Gute Werke verhelfen zu guter Neuverkörperung, hinsichtlich der Erlösung werden sie nur als Hindernisse beseitigend angesehen, es tritt also hier jener negative Charakter der asketischen Ethik hervor, dem wir schon öfter begegnet sind. Die Erkenner teilen sich nach ihrem Wissen. Wer nur das niedere besitzt ( aparā vidyā), d. h. wer das attributhafte Brahman als Gott verehrt, der geht nach dem Tode zu diesem niederen Brahman ein und genießt einen herrlichen, aber mit dem periodisch eintretenden Weltuntergang endigenden Zustand, wo ihm dann nachträglich die vollendete Schau zuteil wird, zu welch sonderbarer Annahme Śaṃkara durch die Brahmasūtras genötigt wird, die, zwischen höherem und niederem Wissen nicht unterscheidend, dem Erkenner allgemein Nichtwiederkehr ( anāvṛtti 4, 4, 22) verheißen. Die wahre Erlösung aber wird nach Śaṃkara nur dem Besitzer der höheren Wissenschaft zuteil. Wenn zwar auch hier wieder ein Kompromiß stattfindet, in dem gewisse religiöse Mittel als wissenfördernd anerkannt werden, so liegt doch die eigentliche Idee in der unmittelbaren Innewerdung ( anubhava) der absoluten Identität mit dem einzig Realen. Der wahre Erkenner geht nicht irgendwohin, wird nicht zu etwas, sondern seinem nun nicht mehr durch Nichtwissen getrübten Blick enthüllt sich die immer vorhandene allein wahre Tatsächlichkeit. Jenseits von Gut und Böse ist er, mag sein illusorischer Leib noch zu bestehen oder nicht mehr zu bestehen scheinen, absolutes Sein, Geist und Wonne.

Der strenge Monismus Gauḍapādas, der die ganze Welt der Vielheit ( prapañca) als Täuschung ablehnte, ist also von Śaṃkara in seiner Interpretation der Brahmasūtras als die höchste Wahrheit beibehalten, aber ergänzt worden durch die Hinzunahme des konventionellen Standpunkts ( vyavahāra), dem wenigstens relative Wahrheit (empirische Realität) zugebilligt wird. Daß eine solche Unterscheidung mit der aus ihr folgenden Zweiteilung der Erkenntnis in höhere und niedere nicht in der Absicht des Sūtraverfassers gelegen hat, haben wir bei der Besprechung der Brahmasūtras gesehen, wenn auch deren positive Lehre nicht klar festzustellen war, indem in 1, 4, 22 der Wortlaut keinen sicheren Sinn für das Verhältnis von Brahman und Jīva an die Hand gab, während in 2, 1, 14-20 das kausale Verhältnis des Brahman zur Welt nur mit Sicherheit als nicht durch den Gedanken der Scheinmanifestation ( vivarta) gekennzeichnet, aber nur ganz ungefähr etwa als als Umwandlung ( pariṇāma) auffaßbar verstanden werden konnte.

Nun ist es von besonderem Interesse, daß, wie schon oben angedeutet, der Sūtraverfasser selbst Vertreter verschiedener Standpunkte hinsichtlich dieser Kardinalfragen mit Namen nennt. Die in 1,4, 20 angedeutete Lehre des Āśmarathya über das Verhältnis des Brahman zu den Jīvas wird uns von einem späteren Kommentar [R274] zu dieser Stelle dahin erklärt, daß die Einzelseelen nicht vollkommen verschieden von Brahman sein können, denn dann wäre ihre Natur nicht Geistigkeit, -- aber ebensowenig vollkommen nichtverschieden von ihm, da sie dann nicht voneinander unterschieden werden könnten; die Einzelseele muß also in gewissem Sinne von Brahman verschieden und gleichzeitig in gewissem Sinne mit ihm identisch sein. Das ist »die Lehre von der Verschiedenheit und Nicht-Verschiedenheit« ( bheda-abheda-vāda). Sie findet sich in dem alten, nicht sektarischen Kommentar des Bhāskara zu den Sūtras [R275], dann aber auch bei den Sekten. Unter den Viṣṇuiten (diese Bezeichnung soll alle Schattierungen des Viṣṇuismus umfassen) nennen wir hier Nimbārka, der wahrscheinlich im 12. Jahrhundert einen kurzen Kommentar (Vṛtti) zu den Brahmasūtras verfaßt hat, und seinen Nachfolger Śrīnivāsa, den Verfasser eines großen Kommentars (Bhāṣya). Für diese Schule gibt es drei Prinzipien, nämlich den Herrn ( īśvara), die geistige Welt ( cit) und die ungeistige ( acit). Das zweite und dritte Prinzip ist von den ersten verschieden und nicht-verschieden; das Verhältnis entspricht dem zwischen Funken und Feuer: die Funken haben teil an der Natur des Feuers, sind aber nicht mit ihm identisch, da sie sonst weder vom Feuer selbst, noch voneinander unterschieden werden könnten. Verschiedenheit ( bheda) also bedeutet hier die Möglichkeit einer besonderen und abhängigen Existenz, Nicht-Verschiedenheit ( abheda) die Unmöglichkeit einer unabhängigen Existenz. Diese Lehre vom Bhedābheda findet sich auch im südindischen Śivaismus, welcher zuerst im 13. Jahrhundert vom Meykaṇḍa durch Werke tamulischer Sprache philosophisch fundiert und systematisiert worden ist [R276].

Wir haben den Bhedābheda-Standpunkt deshalb vorangestellt, weil er in seiner Unbestimmtheit das Gepräge der beginnenden Bemühung zeigt, die Gedanken der Upaniṣaden und Brahmasūtras von der Einheit des Brahman und seines Ursacheseins sowohl in bewirkender wie in materieller Hinsicht mit dem Bedürfnis nach einem persönlichen Verhältnis zum Göttlichen philosophisch in Einklang zu bringen. Schärfer und systematischer ist diese Schwierigkeit von dem 1137 gestorbenen Südinder Rāmānuja gelöst worden, der neben anderen Werken einen Kommentar zu den Brahmasūtras (Śrībhāṣya) und zur Bhagavadgītā verfaßt hat [R277]. Ursprünglich bei einem Śaṃkara-Anhänger in der Lehre, hat er sich dann dem Viṣṇuismus zugewandt, der seit längerer Zeit in Südindien von religiösen Sängern und gelehrten Theologen gepflegt wurde. Einem der letzteren, Yāmunācārya, der selbst theologisch-philosophische Werke verfaßt hat, ist er dann in der Leitung des großen Tempels zu Śrīrangam gefolgt. Seine Lehre, die auf die Ausbildung von Nimbārkas Standpunkt von Einfluß gewesen ist, führt den Namen Viśiṣṭa-advaita, d. h. »qualifizierte Nichtzweiheit«. Die einzelnen Seelen und die unbelebten Dinge der Welt sind zwar untereinander realiter verschieden, finden aber ihre Einheit darin, daß sie den Körper Gottes bilden, seine Attribute ( viśeṣaṇa), seine Modi ( prakāra) sind. Das Brahman oder der höchste Gott ist im Besitz aller guten Qualitäten in höchster Potenz (bei Śaṃkara dagegen ist das höchste Prinzip eigenschaftslos) und frei von allem Schlechten. Vor der Schöpfung bildet alles Geistige ( cit) und Ungeistige ( acit) den feinen Körper Gottes, der so im Zustande der Ursache ist. Die Schöpfung ist nichts als eine Umwandlung dieses feinen Körpers in einen groben, -- Gott im Zustande der Wirkung. So ist der Grundsatz der Brahmasūtras von der Nichtverschiedenheit der Ursache und der Wirkung festgehalten [R278]. Die Seelen sind erkennend und handelnd (bei Śaṃkara ist die Seele in Wahrheit nur Zuschauer), von Atomgröße (bei Śaṃkara allgegenwärtig) und nicht mit Gott identisch, sondern ihm nur sehr ähnlich, weshalb der Upaniṣadsatz: »das bist du« ( tat tvam asi) nicht im Sinne einer Identitätserklärung zu verstehen ist. Die materielle Welt ist real und in ihrer Existenz von Gott abhängig. Während Śaṃkara den Werkteil des Veda als unnötig zur Brahman-Erkenntnis verwirft, hält Rāmānuja das Studium desselben für eine wichtige Vorstufe, welche freilich überwunden werden muß. Brahman-Erkenntnis ist auch bei Rāmānuja Wissen, aber in ganz anderem Sinne als bei Śaṃkara. Die Meditation ist ein ständiges liebendes Sicherinnern an Gott, und daraus erwächst die unmittelbare Gottesschau ( pratyakṣatā). In diesem Sinne ist hier die Bhakti auf weniger emotionalem Boden aufgebaut als in den meisten anderen Systemen des »Liebespfades« ( bhaktimārga). Der Grundgedanke des von Rāmānuja vertretenen qualifizierten Monismus findet sich auch in dem śivaitischen Sūtrakommentar (Śaivabhāṣya) des Śrīkaṇṭha [R279].

Während alle bisher angedeuteten Spielarten des theistischen Vedānta nur auf Umwegen mit dem monistischen Gedanken fertig werden konnten, weil bei ihnen der Gedanke der Verschiedenheit stärker war als der der Nicht-Verschiedenheit, hat ein weiterer Sūtrakommentator trotz oder neben seinem Bhakti-Standpunkt den Monismus, wenigstens als philosophischen Unterbau, scharf herausgearbeitet. Vallabha (um 1500), der Gründer der viṣṇuitischen Sekte der Vallabhācāryas (Kṛṣṇa-Rādhā-Form), lehrte philosophisch die »reine Nichtzweiheit« ( śuddha-advaita). Unter »rein« soll hier die Freiheit von Śaṃkaras Māyā-Konzeption zu verstehen sein, aber in Wirklichkeit arbeitet das System, um die absolute Identität von Gott und Welt festzuhalten, doch mit einem der Māyā nicht allzu fernstehenden Begriff des Irrtums hinsichtlich der Objektivität der materiellen Welt [R280].

In schroffem Gegensatz zu diesem dem Advaitavāda Śaṃkaras verwandten Monismus steht der viṣṇuitische Sektengründer Madhva (13. Jahrhundert), welcher, einen klaren Pluralismus vertretend, diesen in einem oft geradezu phantastischen Kommentar den Brahmasūtras aufzudrängen versucht hat. Solch pluralistische Tendenz, wenn auch in weniger krasser Form, war offenbar schon in alten Zeiten im Vedānta vertreten, denn die Meinung des in Brahmasūtra 1,4, 21 mit Namen genannten Auḍulomi ging nach Aussage der Erklärer dahin, daß die Einzelseele bis zum Augenblick ihrer endgültigen Erlösung vom Brahman absolut verschieden sei.

Ich darf diese flüchtigen Andeutungen der hauptsächlichen, vom absoluten Monismus abweichenden Vedāntarichtungen nicht schließen, ohne ausdrücklich darauf hinzuweisen, daß das eigentliche Wesen dieser Richtungen, welches im Religiösen besteht, durch meine Bemerkungen nicht gekennzeichnet ist und nicht beschrieben sein soll. Seit Rāmānuja ist es vielen Sektenstiftern notwendig erschienen, ihre Lehren als in Uebereinstimmung mit der heiligen Ueberlieferung der Upaniṣaden, mit der Bhagavadgītā und den Brahmasūtras durch Kommentare zu erweisen. Damit ging Hand in Hand der Wunsch und offenbar die Notwendigkeit, Śaṃkaras Standpunkt zu widerlegen, weil er die Möglichkeit wahrer Erlösung nicht in einem persönlichen Verhältnisse des Menschen zu Gott gesehen hatte. Der sektarische Theismus aber mit all seinen viṣṇuitischen (Viṣṇu, Nārāyaṇa, Kṛṣṇa, Rādhā usw.) und śivaitischen (Paśupati, Durgā usw.) Abschattungen findet im inneren und äußeren Kult, in dem spezifisch Religiösen erst den eigentlichen Ausdruck seines Wesens, in welchem jene von uns angedeuteten philosophischen Gesichtspunkte eine mehr oder minder geringe Rolle spielen. Auch ist seine Verknüpfung mit den älteren Upaniṣaden meist künstlich und nachträglich herbeigeführt, während eigentlicher Zusammenhang mit den Purāṇas, Saṃhitās und Āgamas besteht. Daher auch die Aufnahme zahlreicher Sāṃkhya-Begriffe, die übrigens auch im späteren Kevalādvaita nicht immer fehlen.


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