Rudolph Stratz
Das freie Meer
Rudolph Stratz

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13

Der Zug hielt. Der Yonkheer Ter Meer beugte sein besorgtes Haupt aus dem Fenster. Die Unruhe flackerte in seinen kühlen grauen Augen.

»Sind wir schon in Harwich?«

In dem zähen weißen Morgennebel sah man nichts von dem Bahnhof am Pier, wo im Frieden zwanzig Schritte neben dem harrenden holländischen Dampfer die drei Schienenstränge der Schnellzüge aus London, Edinburg und Liverpool zusammenliefen. Es war nur Wiesenland umher. Ein paar entwurzelte Bäume über einem verwüsteten Tennisplatz mit zerfetzten Netzgittern. Dann Stimmen von Beamten.

»Aussteigen, wenn es beliebt! Reisende haben die kurze Strecke bis zum Schiff zu Fuß zu gehen.«

»Warum?«

»Bombenlöcher im Bahngeleise! Kein Platz an der Seeseite ist weniger vor den Germans sicher als Harwich.«

Cornelis Ter Meer half Frau und Kind aus dem Wagen und ergriff sein Handgepäck. Er atmete schwer, aber nicht unter der Last der Reisetasche, während sie in langem Gänsemarsch der Zuginsassen durch die dicke graue Seeluft und längs des Bahnkörpers dahinstapften.

»Jantje . . . wenn wir nur schon aus England fort wären!«

»Fürchtest du dich vor England, Vater?«

Der neunjährige Jan trabte an seiner Hand, mit seinem weißen Klappkragen und schwarzen Röckchen wie ein kleiner englischer Gentleman, und schaute aus erstaunten, fragenden Augen zu ihm empor.

»England hilft doch allen Menschen? Reverend Pilgram sagt es.«

»Seine Ehren hat recht, Jan.«

Er stolperte. Da lagen Schwellen wirr durcheinander. Er drehte sich um, half seiner Frau, sie zu übersteigen. Dann hob er Jan hinüber. In der Luft frug der Kleine: »Vater, ist der Löwe ein sehr großmütiges Tier? Reverend Pilgram sagt, deswegen sei auch der Löwe das englische Wappentier . . .«

Und Cornelis Ter Meer, der Vielgereiste, der Vielerfahrene, der Welt- und Sprachen- und Menschenkundige, der Freiheits- und Selbstbewußte, dachte sich: Muß ich erst aus dem Munde der Unmündigen erfahren, daß England der gute Hirte der Völker ist? Und Angst vor England ein Unrecht vor England? Aber die Angst in ihm blieb. Er ging so rasch wie möglich.

»Mutter . . . sieh das große Loch in der Erde! Wer hat es gemacht?«

»Die Deutschen, Jan.«

»Oh – verdammte Germans! . . . Au, Mutter, warum legst du mir die Hand auf den Mund?«

»Du sollst nicht fluchen, Jan!«

»Aber Mr. Pilgram sagt, die Barbaren dürfe ein kleiner Christ doch verwünschen.«

»Du sollst nicht ›Barbaren‹ sagen!«

»Willst du uns in Unglück stürzen, Jantje? Wenn das jemand hört . . .«

Cornelis Ter Meer flüsterte es zwischen den Lippen. Seine Frau zuckte nur schweigend mit den Achseln. Es war wie eine Kriegserklärung der Seelen zwischen ihnen.

Sie gingen weiter. Die meisten Reisenden mußten ihr Gepäck selber schleppen und schimpften. Ein Belgier strauchelte über ein paar Äste.

»Eh – sales Prussiens!«

Wieder ein klaffender Erdtrichter. Verbogene Schienen, abenteuerlich verschnörkelt über dem Weg. Hinter ihnen:

»Verflukte Mofs!«

»Mutter – da schimpfen sie auch auf holländisch!«

»Still!«

»Oh – die deutschen Schweine!«

»Mutter, der Gentleman vorn ist auch böse. Alle Gentlemen sind böse!«

»Laß sie. Sei du nur still gegen die Deutschen, Jan!«

Da lag vorn die See im Frühlicht. Die mächtigen Umrisse der »City of New York«. Davor die Hälfte des Zollschuppens. Die andere ein Haufen verkohlter Bretter und Ziegel. Die Reisenden drängten sich halb im Freien in langen Reihen an drei Stellen hintereinander vor der Durchsuchung des Gepäcks, der Paßprüfung und dem militärischen Verhör. Cornelis Ter Meer, den durch fünfundvierzig Jahre unter vielen Menschen und Dingen auf beiden Hälften der Erdkugel seine Seelenruhe selten verlassen, war bleich, als er vor dem Beamten stand. Es fiel nicht auf. Alle Reisenden waren bleich. Das Meer vor ihnen glitzerte trügerisch unbewegt, ein Bild des Sommerfriedens. Aber was es zwischen Harwich und dem Hoek van Holland unter der stillen Oberfläche barg, wer konnte es wissen?

Um den Riesenleib der »City of New York« zog sich der rot-weiß-blau gemalte breite und grelle Neutralitätsgürtel in den holländischen Farben. Die neutrale rot-weiß-blaue Flagge Hollands flatterte schützend am Mast. Der Yonkheer Cornelis Ter Meer atmete, auf Deck gelangt, tief auf, voll Dank gegen Gott. Er ließ sich erschöpft in einen Schiffsstuhl fallen und sagte:

»Das verdanken wir Lord Saint Asaphs.«

Er saß behaglich zurückgelehnt, eine träumerische Ruhe kam über ihn. Die Luft war jetzt klar geworden. Man sah die Küste, das Städtchen Harwich. Daneben, halb verborgen, den großen, im Krieg neu angelegten und ringsum abgesperrten Kriegshafen, dahinter das englische Land. Jetzt, wo es Cornelis Ter Meer sicher von der See aus beobachtete, erschien es ihm auf einmal so gastlich wie sonst. Plötzlich wieder die Insel der Freiheit und des Friedens. Es war sein alter, ruhiger Gesichtsausdruck, mit dem er für diesmal von England Abschied nahm und in dem beinahe schon ein »Auf Wiedersehen!« lag.

Das Schiff setzte sich langsam in Bewegung. Johanna Ter Meer trennte sich von ihrem Mann und ging nach dem Hinterdeck. Der kleine Jan lief mit ihr. Sie schlug ihm den Kragen des Mäntelchens gegen die einsetzende kalte Brise hoch. Viele Fischersegel standen nahe dem Ufer still auf der schlafenden Wasserfläche. Weiter hinaus war die See von Dampfern leer. Nur drei schiefe Masten ragten aus den Wellen. Dort wieder. In der Ferne zwei mächtige, halb versunkene gelb gestrichene Schornsteine.

»Sind die Schiffe alle versenkt, Mutter?«

»Ja.«

»Von den Deutschen?«

»Ja.«

»Oh – blutige Deutsche!«

»Pfui, Jan!«

»Warum, Mutter? Alle Knaben bei Reverend Pilgram sagten es täglich.«

»Aber du sollst es nicht sagen!«

»Mr. Pilgram sagte, nichts komme an Mordlust den Deutschen gleich.«

»Nein, Jan! Sondern die Engländer wollen aus Mordlust kleine Knaben wie dich, ihre Mütter und alle alten und kranken Leute in Deutschland verhungern lassen . . .«

»So sagte Seine Ehren! . . . Er sagte, es sei wahrhaft betrübend, daß so viele Menschen in Deutschland sterben müßten, und alle wohlerzogenen Kinder in England sollten für ihre Seelen beten . . .«

»Und weil die Engländer aus Mordlust keine Schiffe nach Deutschland lassen, versenken die Deutschen aus Notwehr die englischen Schiffe, Jan, und haben recht!«

Eine kräftige Hand faßte den kleinen Jan und zog ihn von der Mutter fort. Der Yonkheer Ter Meer war den beiden gefolgt. Er war bleich von unterdrücktem Zorn.

»Lasse diese Reden, bis wir daheim sind, Jantje!«

»Wir sind hier schon auf niederländischem Boden.«

»Da, sieh . . .«

Ein Gentleman mit Reisekappe und Stummelpfeife, die Hände im Flauschmantel, bummelte gleichgültig vorbei.

»Es ist einer der englischen Geheimagenten, Jantje! Eben sprach man in meiner Nähe von ihm. Er und viele andere Detektivs hören jedes Wort. Das Schiff ist voll von ihnen.«

Und ebenso alle Schiffe auf allen Meeren. Das unsichtbare Auge John Bulls überall. Solange man Salzwasser unter sich hatte, war man in England und unter englischer Faust. Es kam britischen Behörden nicht darauf an, da, wo es nützlich schien, auf hoher See Neutrale von neutralen Schiffen herunterzuholen. Gerade eben schoß ein englischer Zerstörer gleich einem langen schwarzen qualmenden Pfeil heran, umkreiste lauernd in rasender Fahrt den Dampfer wie ein Schäferhund die Herde und verschwand in der Richtung nach einer anderen Rauchfahne am Himmelsrand.

Cornelis Ter Meer und seine Frau gingen stumm, den kleinen Jan zwischen sich, das Schiff entlang, an dem feuerfertig dastehenden Böller für Notschüsse vorbei. Um sie unruhige Sätze in zwei, drei Sprachen.

»Ich sah den Schiffsraum unten. Er führt eine gute Ladung Bretter als Auftrieb, wenn wir leck werden.«

»Wenigstens ist die See ruhig. Die Boote kommen gut zu Wasser . . .«

». . . wenn der Steamer nicht gleich Kopf steht!«

»Oh – verwünschte Barbaren!«

»Mutter, alle sagen ›Barbaren‹.«

»Still, Jan!«

»Was sind das für lange, lange Reihen von schwimmenden Kugeln im Wasser?«

»Daran hängen unter dem Wasser große Stahlnetze, Jan«, sagte der Yonkheer Ter Meer. »Wenn die Deutschen auf dem Meeresgrund gefahren kommen, bleiben sie darin stecken.«

»Und dann ertrinken sie?«

»Oh – möchten sie alle zur Hölle gehen!« sprach eine sanfte alte Dame, die, in ihren Plaid gewickelt, abgespannt daneben saß. Johanna Ter Meer beugte sich zu Jan hinunter und sagte laut:

»Wir sind auf einem neutralen Schiff. Die Deutschen führen mit England Krieg, nicht mit uns.«

»Oh – und die schimpflichen Minen, Madam?« Ein langer hagerer Amerikaner stieg fröstelnd vorbei. »Die Verbrecher waren heute nacht wieder am Werk!«

»Wen nennt der Gentleman, der da so weit über Bord spuckt, Verbrecher? Die Deutschen?«

»Nein, Jan. Er meint damit seine Landsleute in Amerika, die neutral sind und jeden Sonntag in die Kirche gehen und die ganze Woche lang Mordgeräte über See schicken, um die Deutschen zu töten . . .«

Cornelis Ter Meer trat brüsk zwischen seine Frau und ein paar Reisende in der Nähe, die erstaunt und halb ungläubig den Kopf nach ihr umgewandt hatten.

»Jantje . . . du kommst jetzt unter Deck!«

»Ich bleibe hier oben!«

Er faßte sie unter dem Arm, um sie hinabzuführen, vermochte es nicht, ohne daß ein Ringen zwischen ihnen offensichtlich geworden wäre, und blieb mit gequältem Gesichtsausdruck stehen. Es war, als zittere der Haß der streitenden Völker in dem Schweigen zwischen ihm und ihr. Dann sagte er sich mit einer verzweifelten Schulterbewegung von ihr los und ging mit langen Schritten nach dem Achterdeck.

Die englische Küste war verschwunden. Man war auf hoher See. Kein Windhauch kräuselte sie mehr. Aber eben diese Glätte und Stille war unheimlich. Das Schiff dampfte unter der blaßblauen Himmelswölbung wie in einer runden, an den fernen Rändern silbern schimmernden Riesenschüssel von schwerem, geschmolzenem Blei. Auf deren Grund lag lauernd der Tod. Die Reisenden standen in Gruppen an der Reling und starrten meist stumm und mit seltsam leidenden Gesichtern auf die friedliche Meeresoberfläche hinab.

»Was sehen die Ladies und Gentlemen, Mutter? Ich kann nichts sehen!«

»Wenn man den Streifen im Wasser sieht, ist es auch zu spät«, sagte Cornelis Ter Meer. Er war mit einer kleinen Korkweste zurückgekommen, warf einen finsteren Blick auf seine Frau, beugte sich nieder und gürtete seinem Söhnchen den Schwimmschutz um. Zorn und Sorge stand auf seinen Zügen.

»Jan, die Deutschen wissen, daß dies ein neutrales Schiff ist. Sie tun uns nichts. Hab keine Furcht.«

»Jan, die Deutschen haben ein großes neutrales Schiff versenkt, das ›Lusitania‹ hieß!«

»Jan, in dem großen neutralen Schiff, von dem dein Vater spricht, war alles voll Granaten, von denen die Deutschen sterben sollten! Wir in Holland haben so etwas nicht in unseren Schiffen.«

»Jan, deine Mutter sagt dir nicht, daß die Deutschen heimlich Minen in die See versenken. Diese Minen sind nicht so klug, daß sie neutrale Schiffe von englischen unterscheiden können. Sie platzen, sobald sie ein Kiel berührt!«

»Jan, dein Vater verschweigt dir, daß die Engländer ebensolche Minen legen. Und alle anderen Völker, die einander feind sind, auch!«

Jeder Satz riß die Kluft zwischen ihnen tiefer auf. Sie sahen sich beim Sprechen ruhig, aber fast wie zwei Feinde ins Gesicht. Beinahe alle Reisenden hatten jetzt Schwimmwesten angelegt. So saßen und standen sie umher. Auch der Yonkheer Ter Meer schnallte sich den Korkpanzer an und band seiner Frau einen zweiten um. Dabei sagte er leise und heiser:

»Die letzte Rettung vor deinen Landsleuten, Jantje.«

»Ich bin der einzige Mensch unter euch, der sich nicht vor ihnen fürchtet.«

»Und wenn sie uns doch zu den Fischen schicken, he?«

»Was auch geschieht, Deutschland hat recht!«

»Um Gottes willen . . . Still!«

Yonkheer Ter Meer warf einen verstörten Blick umher. Zum Glück war niemand in der Nähe. Eine Gruppe von Reisenden umdrängte einen der Schiffsoffiziere, der aus der Funkkammer kam. Ein Flüstern, als könnte man sonst die U-Boote da unten wecken.

»Wo denn?«

»Keine zehn Meilen von hier!«

»Wann?«

»Vor einer Stunde. Eben kam die drahtlose Nachricht.«

»Was denn?«

»Die ›Chepstow Castle‹ weg. In drei Minuten. Siebentausend Tonnen. Mit Kaffee aus Santos.«

»Heute nacht der ›Herakles‹!«

»Ein großer norwegischer Dampfer war schon heute früh von Fischerbooten leck gesichtet.«

»Ah . . . la piraterie!«

»Die Seeräuber in der Pickelhaube!«

»Die Seepest!«

»Mutter, alle hassen Deutschland!«

»Ja, alle hassen es, Jan, weil es sich nicht von ihnen über Nacht umbringen lassen will, sondern sich tapfer wehrt!«

»Kann man sich denn gegen England wehren, Mutter?«

»Wenn wir jetzt auf einem englischen Schiff wären, würden die Deutschen es versenken, und wir müßten alle ertrinken. So stark sind die Deutschen!«

»Jan, deine Mutter ist heute nicht wohl. Du mußt nicht alles glauben, was sie sagt. England ist stärker als alles in der Welt . . .«

»Vater, Reverend Pilgram sagt, das ließe sich aus der Bibel erklären.«

». . . und wer auf England baut, hat nichts zu fürchten!«

Das Schiff machte plötzlich eine so jähe Schwenkung, daß die Planken zitterten und das Kielwasser in weißem Gischt um die Schraube strudelte. Es war ein Rennen auf dem Verdeck nach der Leeseite. Bisher hatten die Reisenden kaum miteinander gesprochen. Jeder mißtraute dem anderen. Jetzt schwirrten aufgeregte Stimmen, deuteten unruhig fuchtelnde Hände:

»Dort . . . dort . . .«

»Das dunkle runde Ding in den Wellen . . .«

»Da schaukelt es vorbei.«

»Das ist doch gar keine Treibmine!«

»Es ist ein leeres Faß . . .«

Ein nervöses Lachen. Gezwungen belustigte Gesichter. Man ging wieder auseinander. Kannte sich wieder nicht. Der Yonkheer Ter Meer führte stumm die Seinen zu einem Platz dicht am Schiffsbord.

»Warum sitzen wir denn da, Vater?«

»Siehst du nicht, daß das große Rettungsboot über uns ausgeschwungen ist und schon über der See liegt? Sowie Gefahr durch die Deutschen droht, steigst du mit deiner Mutter schnell als die ersten hinein. Wir werden zu Wasser gelassen und rudern flink davon.«

»Vater, du hast doch gesagt, wenn man auf England vertraut, kann einem nichts geschehen?«

»Jan, dein Vater sagt es, aber du siehst, er glaubt es nicht! Alle Leute glaubten es früher. Aber jetzt längst nicht mehr. Das haben die Deutschen bewirkt!«

Der Yonkheer Ter Meer warf seiner Frau einen erbitterten Blick zu. Die »City of New York« dampfte stetig mit dem Kurs nach Süd-Ost dahin. Es waren jetzt mehrere andere Schiffe in Sicht. Sie fuhren anscheinend in tiefem Frieden unter wolkenlosem Himmel auf spiegelglatter See. Fremdartig blinkten die fremden breiten Schutzstreifen in ihren Landesfarben längs der Bordwand: das Blau und Gelb eines Schweden, das Rot und Gelb eines Spaniers, das andere waren Norweger in britischem Frachtdienst auf gefährlicher Reise. Mitten im Meer umflatterten die Möwen aufgeregt schrillend einen Flaggenstock, der mit einem darumgewickelten verwaschenen blau-weiß-roten Lappen ein paar Fuß hoch aus den Fluten ragte. Es war schon ein paar Wochen her, seit der Bergener Dampfer mit Bannware hier den Fangschuß erhalten.

»Wir sind jetzt mitten in der Gefahrenzone«, sagte ein Yankee Er lief mit langen Beinen auf Deck auf und nieder wie ein Tiger im Käfig, rieb sich nervös-heiter die Hände und lächelte mit bläulichen Lippen. »Wir fahren quer durch ein abgefischtes deutsches Minenfeld!«

»Und wenn eine Mine übrigblieb?«

Der Amerikaner antwortete nicht. Er summte nur:

»Näher, mein Gott, zu dir . . .«

Und immer wieder von Bug zu Heck das:

»The Germans . . . the Germans . . .«

»Les Boches . . .«

»De Mofs . . .«

Und die Stimmung, die hier über den Planken der »City of New York« brütete, schien die zu sein, die über allen Wassern der Erde schwebte. Überall das Menetekel der Wracks im Meer, das warnende Knattern der drahtlosen Wellen, die harmlosen Fischerboote, hinter deren Segeln die Geschütze lauerten, die geheimnisvollen frisch gestrichenen Dampfer mit überpinseltem Namen und ohne Landesflagge am Mast oder mit einer falschen, die starren Lotsen oben auf der Brücke, die nach einem Buch, das in keines Menschen Hände kommen durfte, das Fahrzeug in rätselhaftem Zickzack durch verschleierte Gefahren steuerten, die abgespannten Schiffsoffiziere in Reihen neben ihnen, hoch vom Himmel abgehoben, die Hände auf dem Geländer, ohne sich zu rühren, den Blick seitlings in das Wasser oder durch das Fernrohr über die lächelnde See, die Trübung des Horizontes in der Ferne vom Qualm eines kreuzenden Kriegsgeschwaders . . . Briten oder Franzosen oder Japaner. Deutschland unsichtbar, von der Welt verschwunden, und doch überall, unter den Wassern, im Kampf mit England um die Welt. Und die Welt wider Deutschland.

»Oh, Mutter, ich möchte kein Deutscher sein!«

»Warum nicht, Jan?«

»Die Ladies und Gentlemen hier sagen, es wäre besser, ein reißender Wolf zu sein, als ein Deutscher.«

Johanna Ter Meer sah nach der Gruppe neben ihr: britische Misses, Yankees, Italiener, Portugiesen, Rumänen, mit denen der kleine Jan kindlich auf englisch geschwatzt hatte. Sie streckte, im Schiffsstuhl sitzend, die Hände aus, stellte ihn vor sich hin und sagte laut, auch auf englisch:

»Es gibt ein Volk, Jan, das hat ein halbes Jahrhundert im tiefsten Frieden mit aller Welt gelebt. Nun fallen alle anderen zusammen über das friedliche Volk her!«

»Was sagt die Lady da?«

»Jan . . . wäre es dir recht, wenn dein Vater und deine Mutter von großen schwarzen Wilden totgeschlagen würden . . .?«

»Oh, Mutter!«

». . . oder wenn böse Menschen dir nichts mehr zu essen gäben, so daß du verhungern müßtest, mein Kind . . .?«

»Nein, Mutter!«

». . . oder wenn Räuber kämen und zündeten unser schönes Haus in Holland an . . .? Alles das, Jan, haben die Engländer und die Franzosen gegen Deutschland vorgehabt, und noch tausend Schändlichkeiten mehr!«

»Oh, Madam . . .«

»C´est un peu fort!«

»Man muß den Captain holen!«

»Der Captain wird Ihnen sagen, daß ich auf neutralem Boden eines freien Landes mit meinem Sohn spreche . . .«

»Jantje . . . Gott bewahre . . . höre auf . . . das Schiff hat Ohren!«

Johanna Ter Meer wandte flüchtig den blonden Kopf nach den unauffällig herangetretenen englischen Reisenden.

»Ich weiß, Cornelis, daß diese Gentlemen Londoner Polizeispitzel sind«, sagte sie.

»Jantje . . . wir sind noch nicht daheim . . .«

»Wir sind hier in Holland, Cornelis! In Holland ist man frei. Also rede ich auch frei. Merke dir, Jan, viele Menschen haben mörderisch das eine deutsche Volk umbringen wollen, aber das deutsche Volk ist so stark und so tapfer, daß sie es nicht umbringen können!«

»Jantje . . . die Stimmung um uns ist gefährlich . . .«

»Deutschland ist gefährlich! Das sieht jeder auf dieser Fahrt. Jan, du bist ein kleiner Holländer und sollst, wenn du groß bist, deinem Vaterlande treu dienen! Aber vergiß nie und sei stolz darauf, daß du zur Hälfte deutsches Blut hast. Denn ich, deine Mutter, bin eine Deutsche!«

»Oh – was gibt es hier?«

»Proboches?«

»Nein. Die Barbaren selber!«

». . . und mit einem zynischen Freimut . . .«

Johanna Ter Meer war aufgestanden und trat zwei Schritte gegen die Gruppe der Feinde.

»Sie belehrten meinen Sohn, daß die Deutschen reißende Wölfe sind«, sagte sie. »Ich belehre ihn, daß ich eine aufrichtige Achtung vor jedem reißenden Wolf habe, wenn ich ihn mit einem Engländer vergleiche, denn er wirft sich wenigstens selbst auf sein Opfer. Der Engländer aber verführt andere Menschen, daß sie sich für ihn töten lassen. Er treibt einen blutigen und grausamen Betrug mit all den armen Menschen auf der Erde, die an ihn glauben!«

»Genug!«

»Wo ist der Kapitän?«

Der Yonkheer Ter Meer trat entschlossen schützend vor seine Frau.

»Ich rate, sich nicht zu nah an meine Frau heranzudrängen, Ladies und Gentlemen!«

»Oh – Yonkheer Ter Meer! Ich kenne Sie doch als einen besonnenen und aufgeklärten Mann.«

»Sind das wirklich Ihre Anschauungen, die wir hier eben hören mußten?«

»Nichts kann verschiedener sein als meine Meinung und das, was Mrs. Ter Meer eben aussprach . . . in einer Weise, die ich durchaus mißbillige! . . . Komm, Jantje!«

Sie ging mit ihm. Jan an der Hand. Unter seinem Schutz. Aber in dem Schweigen zwischen ihnen brannte das trennende Wort: Nichts kann verschiedener sein, als was ich denke und was meine Frau denkt . . .

So sagte er auch plötzlich, mit unterdrückter Heftigkeit und ganz veränderter Stimme:

»Du sprichst nicht mehr wie meine Frau. Du sprichst wie eine Deutsche.«

»Das bin ich!«

»Du warst es! Jetzt ist nicht die Zeit, sich daran zu erinnern. Es ist Krieg, Deutschland im Kampf gegen eine erdrückende Übermacht!«

»Eben deswegen! Im Krieg muß man tapfer sein!«

»Aber das soll unsere Ehe nicht zerreißen!«

»Zwischen uns, Cornelis, steht nicht Deutschland, sondern England. England ist das Unglück. Auch für uns. Für alle Menschen. England ist der Krieg . . .«

Der Krieg. Der Krieg überall. Nicht nur in den Mastspitzen versunkener Schiffe. Auch in den Seelen der Menschen. Ein Weltgewitter, verwüstend, reinigend, klärend, alles, was an Menschen atmete, in zwei Lager teilend. Auch Mann und Frau. Nach einer Weile versetzte Cornelis Ter Meer dumpf:

»Vielleicht ist das, was du eben sagtest, jetzt schon drahtlos nach London gemeldet. Man wird uns noch hier auf hoher See verhaften . . .«

»Cornelis, du traust England jeden Völkerrechtsbruch zu und rühmst dabei die englische Freiheit für alle?! Habt ihr denn alle das Denken verlernt?«

Der Yonkheer Ter Meer ließ wieder wie während der ganzen Fahrt, halb unbewußt den Blick über die weite Wasserfläche schweifen. Plötzlich murmelte er:

»Um Gottes willen!«

»Was denn?«

»Die Bewegung auf der Kommandobrücke! . . . Es kommen Offiziere herunter. Auf uns zu!«

»Nein. Sie rufen etwas über Deck!«

»Wie froh auf einmal alle Mienen werden! Der Amerikaner zieht seine Korkweste aus.«

»Die Belgierin steckt ihr Gebetbuch ein. Da klettert einer aus dem Rettungsboot auf das Schiff herunter . . .«

»Er hat die Vorsicht nicht mehr nötig«, sagte Cornelia Ter Meer mit einem tiefen. Aufatmen der Erlösung. »Wir haben die holländischen Hoheitsgewässer erreicht. Wir sind außer Gefahr. Bald sehen wir den Hoek!«

 


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