Rudolph Stratz
Die kleine Elten
Rudolph Stratz

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XXIII.

Der Theaterzettel verzeichnete jetzt eine kürzere Pause. Die große entscheidende Pause, in der das Premierenpublikum zwischen Bierseidel und Schinkenstulle das mutmaßliche Schicksal des Stückes feststellt, kam nach dem zweiten, mit einem stärkeren Abschluß versehenen Akt.

Trotzdem hatte sich auch jetzt das Parkett gelichtet. Breite Lücken klafften da und dort. Die Logentüren gingen auf und zu, in den Gängen standen heftig gestikulierende und aufeinander einsprechende Gruppen.

Sehr lebhaft war die Stimmung sonst gerade nicht. Man verhielt sich zuwartend. Die Zeit zur Kraftprobe zwischen Stück und Publikum, zur Entscheidung, welches von beiden der Gewalt des anderen unterliegen müsse, war noch nicht gekommen. An einzelnen Stellen wurde zwar schon ein Durchfall prophezeit, und die neuesten, in aller Hast von den vereidigten Premierenwitzbolden geschmiedeten Kalauer gingen von Mund zu Mund, aber im ganzen stand die Sache »flaumweich«, nicht gut und nicht schlecht.

Jenseits des Vorhangs war die Stimmung gedrückt, sehr gedrückt, wie immer, solange man noch keine Fühlung mit dem Publikum gewonnen. Es herrschte keine Aufregung, aber man sprach nicht viel, man ging gedankenvoll auf und nieder, man starrte müßig in die Soffitten hinauf, und in den Ecken rekapitulierten flüsternde Paare noch in aller Eile ihre nächsten Szenen. Es war, als ob man sich auf einen schweren Kampf vorbereitete.

Hochmann, der während der Pause in Frack und weißer Binde auf die Bühne kam, trug eine lächelnde, hoffnungsvolle Miene zur Schau.

»Nun . . . es steht ja soweit ganz freundlich!« sagte er zu der Elten, aber seine Worte waren kurz, und ein besonderes Wohlwollen lag nicht darin.

Valeska trat zur Seite. Sie empfand eine bittere, quälende Angst. Von überallher glaubte sie vorwurfsvolle Blicke auf sich gerichtet zu schauen, in jedem Augenzwinkern und Flüstern einen versteckten Hohn zu erkennen.

Ein verzweifelter Drang ergriff sie, das Premierenpublikum zu sehen, das Ungeheuer, das unheimlich hinter dem herabgelassenen Vorhang summte und brummte.

Sie ging auf die Szene und blickte durch das Loch in der Gardine hinaus in das Parkett.

Menschen, überall Menschen, wie sie sie täglich zu Tausenden auf der Straße sah. Lachende, plaudernde, gähnende Alltagsgesichter, an denen durchaus nichts Besonderes zu bemerken war, nicht einmal ein auffallend boshafter oder tückischer Ausdruck.

Und doch waren diese Leute so grausam gegen sie und blieben kalt bei allen ihren Bemühungen und fällten vielleicht in zwei Stunden, zerstreut zischend und mit den Gedanken schon bei dem warmen Abendbrot, das Todesurteil über sie. Freilich . . . sie hatten die Mehrzahl für sich. Achthundert oder tausend Menschen gegen eine arme kleine Komödiantin!

Bei dem Gedanken mußte sie beinahe lachen. Eine Art Galgenhumor erfaßte sie. Sie würde durchfallen und kühl pfeifend nach Hause schlendern und sich achselzuckend sagen:

»Na . . . denn nicht!«

Da fühlte sie sich an der Schulter berührt. Zajonchek stand neben ihr. Seine Augen glänzten finster aus dem rosa gepuderten Gesicht.

»Komm mit!« sagte er kurz, und sie traten in einen Winkel im Hintergrund der Bühne.

Dort sah die Elten in banger Erwartung zu ihm auf. Er blickte ihr zornig ins Gesicht und faßte plötzlich ihre beiden Hände.

»Warum spielst du so schlecht?« zischte er zwischen den Zähnen. »Willst du dich mit Gewalt unglücklich machen?«

Valeska erschrak.

»Ich kann nicht anders . . .«, sagte sie beklommen, »ich habe solche Angst . . . Gott . . . wenn es nur schon vorbei wäre . . .«

Zajoncheks Augen brannten auf ihrem Gesicht. Sie empfand den Druck seiner Hände und fühlte sich wie hypnotisiert von seinem Willen.

»Du wirst keine Angst mehr haben!« befahl er leise und herrisch. »Du wirst an mich denken und daß ich neben dir bin, und daß dir nichts passieren kann, wenn du nur halb so gut spielst wie bisher auf den Proben!«

»Aber das Publikum . . .!« stöhnte die Elten.

»Kümmere dich den Teufel um das Publikum!« sagte ihr Freund barsch. »Das Publikum ist für dich nicht da! Spiele du deine Komödie, so gut du's kannst, einerlei wie's ausgeht! Wir beide behalten uns lieb und heiraten uns, ob du durchfällst oder nicht . . . und das ist doch die Hauptsache!«

Das war wahr! Valeska hatte die Empfindung, als fiele ihr ein Stein vom Herzen. Sie fühlte sich plötzlich frei und leicht.

»Du Lieber, Süßer . . .!« sagte sie zärtlich. »Du hast recht! Wenn ich nur dich hab'! . . . Meinetwegen mag dann die abscheuliche Bande da unten tun und lassen, was sie will . . .«

»Sie wird schon mitgehen!« erwiderte Zajonchek mit gerunzelter Stirn. »Sowie du keine Angst mehr vor ihr hast. Denke nur immer daran: Was ist denn das alles hier? Ein kleines steinernes Haus inmitten des riesigen Berlins, dessen Hunderttausende und Millionen sich gar nicht um uns und die achthundert Leute da unten kümmern, und in dem Hause ein buntes Gaukelspiel, so nützlich und so dauerhaft wie ein Regenbogen. In zwei Stunden ist hier alles gewesen! Unsere Worte sind verhallt, das Licht erloschen, und der Hauskater schleicht einsam durch das dunkle Parkett. Und alles war wie ein Traum, ein schöner oder ein böser, je nachdem, und draußen auf den Gassen lärmt das wirkliche Leben weiter, das Leben, das wir beide jetzt in Freud' und Leid miteinander teilen wollen . . .«

Die Elten richtete sich auf, so hoch sie konnte.

»Ja wirklich . . . du hast recht!« sagte sie und sah ihn entschlossen an. »Und nun hab' ich auch wahrhaftig gar keine Angst mehr!«

Zajonchek drückte ihre Hände zwischen den seinen und sah auf sie nieder.

»Gut!« sagte er nachdrücklich. »Dann versprich mir, daß du dich jetzt tapfer hältst in unserer großen Szene im zweiten Akt, und daß du gleich unverzagt und mit allen Kräften loslegst, sowie du herauskommst . . .!«

»Ich schwör' es dir!« Valeska blickte kampflustig nach dem Vorhang, als könne sie es nicht erwarten, daß er wieder in die Höhe ginge. »Und wenn ich auch noch bis dahin einmal Angst bekomme, so sage ich mir einfach: ›Um halber dreizehn ist alles aus . . . und er behält mich doch lieb . . .«

* * *

Der zweite Akt hatte begonnen, mit einer Reihe von Gesellschaftsszenen, in denen Valeska noch nicht beschäftigt war.

In rascher Kurve senkte sich »Lilith« dem Abgrund zu.

Das Premierenpublikum fühlte sich durch die zahlreichen kleinen Ungeschicklichkeiten des Anfängerwerkes, die gefährlicher sind als die groben Fehler des Bühnenroutiniers, halb beleidigt und halb belustigt.

Das Husten im Parkett – ein Zeichen mangelnder Aufmerksamkeit – wurde immer häufiger. Man rückte ungeduldig auf den Sesseln hin und her, man blätterte zerstreut in der Theaterzeitung. Der eine oder andere, der gegen das Werk Stimmung machen wollte, drehte sich, halblaut seufzend, auf seinem Sitz um und musterte gelangweilt die Nachbarschaft.

Es war schwül in dem halbdunklen, schweigenden Hause. Ein jedes unvorsichtige Wort auf der Bühne konnte die Entscheidung herbeiführen, jenes aus Lachen, Widerspruch und ironischem Beifall gemischte Murmeln und Grollen, das unfehlbar ein Stück zu Grabe geleitet.

Und schwüler, immer schwüler wurde es, während die Handlung der großen Szene zwischen der Elten und Zajonchek entgegentrieb, mit der der zweite Akt fiel und stand.

»Daß die Dobschütz auch gerade jetzt krank werden mußte!« murmelte Hochmann in seiner Loge grimmig vor sich hin und warf einen spähenden Blick auf das in gereizter Aufmerksamkeit sich zurechtsetzende Parkett. Die Operngläser hoben sich, das Husten verstummte, es wurde still, während Valeska auftrat . . .

* * *

Ihre ersten Worte erstaunten. Die Stimme klang hell und frisch und so sicher, daß man sie kaum wiedererkannte.

Und ebenso war es mit dem Spiel. Das war frei und lebendig vom ersten Schritte an, den sie auf die Bühne getan. Und es entwickelte sich immer stärker und temperamentvoller, je mehr die Szene aus der verhaltenen Leidenschaft des Anfangs zu schrankenlos losbrechendem Sturme fortschritt. Man merkte es ihr an, daß sie jetzt erst die Hilfsmittel ihrer Kunst beherrschte und so erst die Kraft gewann, die tiefe, heiß strömende Empfindung zu offenbaren, mit der die Rolle sie erfüllte.

Jetzt war es totenstill im Hause. Niemand sah sich um. Niemand las den Zettel. Die kleine Elten interessierte! Die schwüle Stimmung ließ nach. Ein gespanntes, hoffnungsvolles Lächeln zeigte sich auf einzelnen Gesichtern.

Und wie ein magnetischer Strom flutete die versöhnliche Atmosphäre aus dem Zuschauerraum hinauf auf die Bühne. Valeska wußte nicht, ob sie gefiel oder nicht, sie kümmerte sich nicht darum, aber sie fühlte ihre Kräfte wachsen, sie empfand, wie alle Register der Stimme, alle Farbentöne der Leidenschaft mühelos ihrem Willen gehorchten, und ließ sich von Zajoncheks temperamentsprühendem Spiel fortreißen, daß die Szene wie ein heißer Wirbel über die Bühne flog.

Nun kamen ihre letzten Worte. Sie sprach sie schon dicht an der Tür, durch die sie, die verlassene Kleine, für immer von dem Geliebten gehen sollte. Vor ihr stand Zajonchek, dahinter lag in unbestimmtem Halbdunkel der merkwürdig klein erscheinende schweigende Zuschauerraum.

Sie nahm ihre ganze Kraft zusammen.

»Und ihr, die ihr im Weibe jetzt die Dirne und jetzt die Heilige seht, die ihr heute vor uns kniet, um uns morgen in den Staub zu treten – dir und deinesgleichen sag' ich: Ich bin dasselbe wie du . . . ein Mensch wie du, nicht besser und nicht schlechter! Und wenn du meiner dereinst gedenkst, wirst du's erkennen und von mir sagen: Sie war, was wir alle hier sind auf Erden . . . in Lachen und Weinen und Lieben ein armes Menschenkind!«

* * *

Die Tür fiel hinter Valeska zu. Sie blieb atemlos an dem Leinwandgestell stehen. Das Blut hämmerte in ihren Schläfen, und vor ihren Augen tanzten flimmernde Punkte.

Da erhob sich draußen ein leichtes Prasseln, ein Rauschen, wie wenn der Herbstwind die welken Blätter über den Boden fegt. Das Prasseln wurde stärker, es schwoll mehr und mehr an, es gestaltete sich zum Lärm. Vereinzelte Zurufe klangen dazwischen. Auf der Bühne stockte das Spiel. Sie merkte, wie Zajonchek mitten im Satz abbrach, sie glaubte die Kollegen vor sich zu sehen, wie sie wartend auf offener Szene standen, bis der Beifall sich gelegt.

Jetzt schien er schwächer zu werden. Aber plötzlich brach von oben, von der Galerie herunter, von neuem das Klatschen und Prasseln los und ging durch alle Ränge des Hauses. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, während sie reglos, mit zitterndem Herzen, an der Tür stand.

Dann wurde der Lärm allmählich wieder schwächer. Sie horchte bang, bis das letzte Klatschen verhallt sei. Doch mit einemmal schwoll der Beifall, als er eben zu versiegen drohte, abermals zu seiner früheren Stärke an.

Nun endlich verklang er. Ein paar Handflächen schlugen noch aneinander, ein abmahnendes sanftes Zischen tönte dazwischen, die Darsteller nahmen ihr Spiel wieder auf, und in ihre Worte mischte sich noch minutenlang das Summen und Brausen des aufgeregten Parketts.

* * *

Wie im Traum ging Valeska langsam nach hinten.

Seltsam . . . es war doch alles noch so, wie wenige Minuten zuvor. Die staubigen Versatzstücke in den Ecken, die Arbeiter in ihren Leinwandkitteln, das dämmernde Schweigen ringsumher. Und doch kam ihr das alles so vergoldet und erhellt und so farbig leuchtend vor, als lächle durch das Schnürwerk der Soffitten die Maiensonne direkt auf die Bühne des Westend-Theaters herab.

Sie wußte kaum, wie ihr geschah. Eine Menge Menschen drängten sich im Garderobengang und auf der Bühne an sie heran und gratulierten ihr flüsternd und geheimnisvoll zu dem Erfolg, dem Beifall des Premierenpublikums auf offener Szene. Und sie reichte jedem die Hand, dem Inspizienten, den Kollegen, den Garderobieren, selbst einem alten Theaterarbeiter und einem Feuerwehrmann, der schmunzelnd in der Nähe stand. Aber sie tat es mechanisch und sprach ebenso mechanisch ihren Dank.

Und dann sah sie plötzlich einen korpulenten, alten Herrn in Frack und weißer Binde vor sich stehen, der ihr die Hände drückte und sie belobte, und sie entsann sich, daß das ja ihr Direktor sei. Eben wollte sie ihm irgend etwas antworten, als von der Bühne das leise Surren des Vorhangs tönte. Der Akt war zu Ende.

Ein matter Beifall rang draußen mit heftigem Zischen.

»'raus, liebste Elten!« Hochmann schob sie zur Tür. »Rasch . . . rasch!«

Kaum war sie auf der Bühne, als das Zischen in dem Applaus verklang, der sich jäh und brausend erhob. Bravorufe ertönten aus den Sperrsitzen und den Logen. Sie faßte instinktiv nach Zajoncheks Hand und verbeugte sich mit schüchternem Lächeln.

Dann fiel der Vorhang und stieg wieder, und wieder scholl einmütiger Beifall, als sie sich zeigte, und wiederholte sich vier-, fünfmal.

Die Opposition hatte indessen geschwiegen. Jetzt erst, wo die Elten ihre Ehren eingeheimst, die man ihr gönnte, begann aufs neue der Sturmlauf gegen das Stück, und durchdringend und unermüdlich spann sich das Zischen von einer Beifallspause in die andere hinüber.

»Gilt denn das Zischen auch mir?« fragte die Elten, vor Aufregung zitternd.

Hochmann schüttelte den Kopf.

»Kein Gedanke! Ihr Erfolg steht fest! Das gilt dem Stück. Sie wollen's umbringen. Liebste Elten . . . retten Sie sie, die ›Lilith‹! . . .«

Die kleine Elten warf siegesfroh den Kopf zurück. Jetzt fürchtete sie das Premierenpublikum nicht mehr, im Gegenteil, sie empfand eine Art von inniger Zuneigung zu diesen guten Menschen da unten, die soviel Freude an ihrem Spiel hatten.

»Ich rette das Stück, Herr Direktor!« sagte sie stolz. »Ich reiß' es an den Haaren durch dick und dünn!«

Ein übermütiges Kraftgefühl schwellte ihr die Brust. Sie konnte ein leichtes Rachegelüst nicht unterdrücken.

»Und glauben Sie mir . . .«, sagte sie, »ich hätte auch die ›Ellinor‹ seinerzeit herausgerissen, wenn ich nicht darin die Rieke hätte spielen müssen . . . diese Rieke . . . diese . . .«

»Ja . . . aber, liebes Kind . . .«, Hochmann seufzte auf, »wer konnte dann das ahnen? Und Sie wissen ja, was der alte Laube immer sagte: ›Beim Theater ist nur eines gewiß: Es kommt alles anders!‹ . . .«

 


 << zurück weiter >>