Charlot Strasser
Reisenovellen aus Russland und Japan
Charlot Strasser

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Unter der Schweizer-Flagge im Hausboot

(1907)

Zu den vielen Freuden, die das Leben in China dem Europäer bietet, gehört neben dem Reiten, Jagen und Wassersport vor allem der Luxus, ein Hausboot zu besitzen, in dem man Tage und Wochen lang auf den Creeks, den unzähligen Kanälen, die wie ein Adernetz das ganze Reich der goldenen Mitte durchziehen, Land und Leute kennen lernen und der süssen Ruhe pflegen kann. Wer viel Geld hat, spannt vor sein schwimmendes Haus einen kleinen Dampfer oder ein Motorboot, wer etwas weniger hat, gibt sich zufrieden mit einem Segel und einigen rudernden Kulis, und wer gar keins hat, wie ich, der lässt sich von Freunden auf ein gepumptes Boot für einige Tage einladen.

Von Shanghai fuhren wir mit der Eisenbahn, die bis nach Nanking weitergebaut wird, gen Soochow, einer Stadt von einer halben Million Einwohner, worunter höchstens zweihundert Europäer sich befinden, vornehmlich Missionare und Zollbeamte, letztere unter englischer Leitung und damit beauftragt, die Staatsschulden, welche China aus den verschiedenen Aufständen und den Kriegen erstanden sind, durch Beschlagnahme seiner Zölle einzutreiben.

Mit der Abenddämmerung fanden wir im grossen Kaiserkanal, der bei Soochow vorüberführt, unser Hausboot, das die Nacht vorher von Shanghai mit sieben Ruderkulis ausgefahren war.

Ein Hausboot ist ein Kahn von der Länge eines Zirkuswohnwagens. Vorn liegt meist ein kleines Promenadendeck, auf dem zwei Personen gerade stehen 164 können, daran schliesst sich eine herrschaftliche Kajüte von etwa drei Metern und am Hinterteil des Bootes endlich befinden sich die Küche und der Mannschaftsraum, in den die Ruderknechte, der Koch und die Diener, acht bis zehn Mann, in der wunderbarsten Weise sich zu teilen verstehen.

Ein leises Gurgeln zu unsern Füssen, der immerwährende Gesang eines Hausbootes, zeigte an, dass wir in voller Fahrt waren, dass wir uns mit Fussgängergeschwindigkeit vorwärts bewegten. Wir hatten allerdings keine Zeit, um das genau auszurechnen, sassen wir doch vor gedeckter Tafel, vor Braten, Röschti und blinkendem, hellgoldenem Waadtländer.

Das Dunkel hatte seinen Sammet ausgebreitet, als wir vorn hinaus auf das kleine Verdeck traten. Wir glitten an der ungeheuren Stadtmauer entlang, die Soochow umrahmt. Hie und da ragten groteske Pagoden in den etwas helleren, violetten Himmel, und unaufhörlich streiften wie schwarze Schwimmvögel die kleinen chinesischen Boote an uns vorbei, jedes mit seinem roten Licht, gleichsam mit einem wachsamen, glühenden Auge.

Boot um Boot kam uns entgegen, trotz der späten Nacht. Rufe hallten langezogen durch die Finsternis und wenn wir nahe genug an einem der Fahrzeuge vorbeistrichen, sahen wir unter den Strohmatten auf engstem Raum zusammengekauert die schlafende Familie, Grosseltern, Eltern und Kinder. Jahraus, jahrein wohnen solcherweise Menschen in ihren kleinen Kähnen und durchqueren auf den Kanälen ganz China von Nord nach Süd, von Ost nach West.

Unermüdlich ruderten unsere Kulis, immer je drei an dem einzigen grossen Ruder, das zugleich auch 165 Steuer war, und das sie hin- und herhebelten, indem sie es zugleich etwas wirbelten, gerade so, wie die venezianischen Gondolieri zu rudern pflegen und von Venedig aus weiter nach Osten die Ruderer des ganzen Orients.

Wir fuhren gegen Mitternacht über den Sawoosee und legten in der Nähe eines romantischen, verfallenen Klosters und einer mächtigen, steinernen Brücke an.

Der Mond ging auf.

Wir schritten noch ein wenig ins schlafende Land. Endlose Ebenen, nur unterbrochen von spärlichen Baumgruppen und den vielen Grabhügeln, Gräbern und wieder Gräbern.

Nie habe ich die Nähe des Todes so sehr empfunden, als wie inmitten dieser mondnachtweiten Felder, auf denen überall die weissen Grabhäuschen emporragten, dem Zufall nach, wie es gerade des Verblichenen Wunsch, für ewig auszuruhen, gewesen war. Die Bauern pflanzen rings um die Gräber ihren Reis und ihr Getreide, mit scheuer Schonung die Schlafstätten der Ahnen umgehend. Wie wunderkräftig, ehrfurchtgebietend und erlösend muss dem Chinesen der Tod erscheinen, wenn er an die Lehre Buddhas glaubt:

»Alles, was lebt, ist dem Leiden unterworfen. Dieses Leiden hat seine Ursache in den menschlichen Leidenschaften. Die Befreiung von den Leidenschaften befreit vom Leiden.«

Befreit nicht einzig der Tod von den Leidenschaften?

Still gingen wir schlafen, nachdem wir lange schweigsam auf der stolzen Neunbogensteinbrücke gesessen und nachdem wir unsere alten, traurigen Volkslieder mit ihrer gewaltigen Sehnsucht in die Totenstille hatten ausklingen lassen. 166

* * *

Mit dem ersten Sonnenstrahl war unsere erste Sorge, den flaggenkundigen Chinesen unsere Nationalität kundzutun. So wurde denn das weisse Kreuz im roten Feld an den Mast des Hausbootes gebunden, der Mast an Land aufgepflanzt.

Hei, wie sie da gelaufen kamen, um unser Feldzeichen zu kommentieren. Sie fanden sich aber nicht ganz zurecht. Sie machten sich an unsern Laoda, den Kapitän. Er musste übersetzen.

»Master, deine Flagge aus Amerika?« (Er meinte wohl einen der südamerikanischen Staaten.)

»Nein, Flagge aus Switzerland.« Neue Beratungen. »Wo Switzerland?« »In Europa. Neben France und Germany.«

»O, so, so. Viele Schiffe mit dieser Flagge?«

»Plenty, plenty! Viele, viele!«

Und dann eilten sie fort ins Dorf, um die Kunde zu verbreiten von der neuen, mächtigen, seefahrenden Nation der »fremden Teufel«, die wieder zum Reich der goldenen Mitte gekommen sei.

Der eine meiner Freunde hatte zu allem ein üppiges Ruhebettkissen von irgend einer seiner Verehrerinnen in der Heimat zum Geschenk erhalten, ein rotseidenes, mit einem prächtigen Schweizerkreuz darauf, das wurde nun unter Bewunderungsgemurmel der ganzen Dorfschaft, die mittlerweile um uns herumgestanden kam, aus den Tiefen der Kajüte geholt und von einem unserer Kulis vorangetragen. So machten wir unsern Morgenspaziergang.

Das Tagesziel war die Pagode am Sawoosee. Ganz aus der Ferne, hoch von einem Berge, grüsste sie her; wir mieteten Träger, da ich schlecht zu Fuss war, und das Schweizerkissen wurde diesmal zur weichen 167 Unterlage in meinem Tragstuhl degradiert. Sic transit gloria mundi.

Der lange Weg hinauf war mit grossen, quadratischen Granitplatten ausgepflastert, was um so mehr auffiel, als man sonst hier draussen von eigentlichen Wegen und Strassen nicht viel bemerken konnte. Ich liess mir dann erzählen, dass diese Fliesenstrasse und die Pagode selbst vor etwa tausend Jahren auf Wunsch irgend einer kaiserlichen Prinzessin gebaut worden waren, und dass der Weg nur dem einzigen Zweck gedient hatte, den Sänftenträgern der Prinzessin bequeme Bahn zu bieten zum einmaligen Bittgang hinauf in die Höhe. Seither war die Strasse wieder verfallen, und nur die Reste davon in den unverwüstlichen Steinquadern zu erkennen. – Ein seltsames, fast kreisrundes Tor war am Anfang des Weges aufgebaut; von ihm aus führte der Pfad so, dass man beständig in der Ferne den heiligen Turm vor Augen hatte.

Die Chinesen legen mit Vorliebe ihre Gräber an Berghänge, und zwar besteht eine Friedstätte in der einfachsten Form aus einem Hügel und einem hufeisenförmigen Wall darum, der sich nach vorn öffnet. Meistens befindet sich am Eingang eine kleine Steinbank, die den Seelen der Toten zum Ausruhen dienen soll.

Je höher wir inmitten der Gräber stiegen, desto herrlicher breitete sich das Reich der goldenen Mitte unter uns aus. Am fernen Horizont lag als graue Masse, aus der wie kleine Zacken die Pagoden herausragten, die grosse Stadt Soochow. Rings herum war das Land geteilt in glitzernde Vierecke, die Reisfelder, glitzernd darum, weil sie künstlich 168 überschwemmt waren. Wie Maulwurfshügel verstreut, soweit das Auge sah, Grab an Grab, was dem ganzen Bild seinen eigenartigen Charakter verlieh, den Charakter Buddhas, der da sprach: Nicht im Luftraum, nicht in des Meeres Mitte, nicht wenn du in die Felsenhöhle eindringst, findest du auf Erden eine Stätte, wo dich der Tod nicht überwältigt.

Ich sagte vorhin: den Charakter Buddhas. Ich müsste beifügen: und den Confutses, des grossen Weisheitslehrers und Reformators, der 551–478 v. Chr. lebte und der das folgende Gedicht am verfallenen Grabmal eines berühmten Kriegers improvisiert haben soll:

    »Folgte nicht Herbst dem Sommer nach?
War's nicht, als ob ein jeder Lenz
vom nächsten, harten Winter sprach?
Und wenn die Sonne aufersteht,
eilt's nicht in Hast zum Untergang?
Und jegliches Gewässer geht
nicht bis ans Ende, bis ins Meer? – –
Und gleichwohl – Jahreszeiten fliehn
und wechseln, fluten wieder her;
die Sonne nimmt den Lauf zur Nacht;
das Wasser fliesst ohn' Unterlass,
und Leben strömt aus ewiger Macht. –
Der Mensch allein lebt einmal nur
und kehrt nicht wieder. Wo verblieb
von Leib und Taten seine Spur?
    Ein Hügel, der zerfallen muss,
und Unkraut wächst an seinem Fuss.« –

Nach einem anstrengenden Marsche, besonders für meine keuchenden Träger, aber auch für mich, der ich in meinem Sessel herumschwankte, wie eine Nussschale auf wilder See, langten wir bei der Pagode an. 169

Am besten vergleicht man die Pagoden und ihre religiöse Bedeutung mit den Kapellen in katholischen Ländern. Nur wenige besitzen einen Aufstieg im Innern. Der Eingang führt meistens in einen kleinen Raum, in welchem einige Buddhafiguren sitzen, vor denen Räucherstäbchen und Kerzen verbrannt werden.

Angesichts des uralten Steinbaues, angesichts der silbernen Kanäle, dieser ebenso alten Menschenwerke, die tief unten das Land kreuz und quer durchzogen, zu all denen das Wasser hergeleitet wurde aus den unversieglichen Fluten des »blauen Flusses«, und auf denen die Dschunken als unzählige weisse, nie rastende Punkte zu erkennen waren, stand ich bewundernd vor der gewaltigen einstigen und noch heute grossen Leistungsfähigkeit des chinesischen Volkes. War das alles wirklich dem Verfall preisgegeben? Ja, solange der Chinese, im Gegensatz zum Japaner, den Patriotismus, die Rassenzusammengehörigkeit nicht kennt, solange die Mandarine ihre Stellungen nur zum Vollpfropfen ihrer Taschen benutzen, solange endlich das Kaiserhaus in Peking nicht an Reformen ernstlich denkt, so lange wird China unter den Zeichen des Zerfalls und der Verarmung stehen bleiben. Aber wenn es sich einmal regen sollte, dieses kluge, durch eine vieltausendjährige Kultur vorgebildete Riesenvolk, darin auch heute verschwindend wenige Analphabeten sich finden dürften, wenn es vom Vorbild einiger Vizekönige, die schon jetzt mit ihren geringen Mitteln Bewunderungswürdiges geleistet haben, lernen sollte, dann werden wir mit ebensolchem Erstaunen das Erwachen einer geschichtlich gefestigten Macht sehen, wie wir es beim Wunderwachstum Japans gewahren mussten. 170

Unter solchen Gedanken vollzogen wir den Abstieg auf der andern Seite des Berges. Dorf an Dorf lag vor uns, und wie ein Lauffeuer verbreitete sich unter ihren Bewohnern die Kunde von den reisenden Fremden. Was Beine hatte, lief nun hinter uns her, mit kindlicher Neugierde alles bestaunend und betastend, was wir an uns trugen. Es war äusserst verlockend, zum Apparat zu greifen und einige Aufnahmen zu machen von diesen Dörflern in ihren blauen Kleidern mit den langen weiten Ärmeln, in die sie sich, wenn es kalt wird, einfach zurückziehen, wie die Schildkröten in ihre Schalen. Aber, sowie einer von uns den Apparat anlegte und visierte, flog der ganze Haufe kreischend und schimpfend auseinander und jagte in wilder Flucht vor uns her. Unser Boy belehrte uns über die seltsame Furcht der Leute. Nicht, weil sie den photographischen Apparat nicht kannten, sondern weil sie schon recht gut Bescheid wussten, dass in einem solchen Kasten eine Mattscheibe sei, auf die man, die Füsse nach oben und den Kopf nach unten hingezaubert werde, und weil sie fürchteten, dass ihre Seelen derart verkehrt in den Händen der »fremden Teufel« blieben, flüchteten sie so wild vor unseren Schnappschüssen. Die einzigen, die sich nicht stören liessen in den Dörfern, durch die wir kamen, waren die Spieler. Sie sassen an kleinen Tischen, würfelten, schrien, zankten sich und liessen die durchlochten Messingmünzen, Cash genannt, über die Tische rollen. Durch den ganzen Orient hindurch zeigt sich der Spielteufel, von Italien angefangen bis hinüber nach China, Japan und Wladiwostok. Wir wollten aber keinesfalls auf ein Bild der flüchtigen Dorfjugend verzichten, und so gelang es, nachdem wir, wie huldreiche Könige, 171 Messingmünzen unter das Volk geworfen hatten, die Nichtsahnenden zu überrumpeln und ihre kostbaren Seelen gefangen zu nehmen.

* * *

Gegen Mittag erreichten wir das Hausboot wieder.

Wir hatten gehofft, unser Segel aufspannen zu können, wenn wenigstens die Götter der Winde uns gnädig wären. Aber die Hoffnung trog.

Auf einmal fingen unsere Ruderleute aus allen Kräften zu pfeifen an und machten die ensthaftesten Gesichter dazu, während der Kapitän, der Laoda, Schreie ausstiess, wie ein erschrockenes Wasserhuhn.

»–? –«

»Um die Windgeister herbeizurufen!«

Der Koch näherte sich unterdessen dem Schnabel des Fahrzeugs und zündete einige Weihrauchstäbchen an, breitete in einer Reihe drei Schälchen mit Reis aus und brachte sogar ein ganzes Viertel gebratenen Spanferkels mit. Dann verneigte er sich dreimal und zündete Papierfetzen an, auf denen Geldstücke aufgemalt waren. Die brennenden Papiere warf er ins Wasser des Kanals, leerte eine Schale Reis nach, um die bösen Genien dieser Weise zu besänftigen und ihnen Tribut zu zahlen, verneigte sich aufs neue dreimal, um nachher den übrigen Reis und das Fleisch sorgfältig wegzustecken und der Mannschaft ein leckeres Mahl daraus zu bereiten.

Aber die Geister des Windes merkten den Betrug und erhörten das fromme Gebet nicht.

Und wohl oder übel mussten die Ruderer, diesmal aber als Vorspann, an die Arbeit gehen. Zwei von ihnen kletterten ans Ufer, zogen ein langes Seil hinter sich her, das an einem kurzen Mast in der Mitte des 172 Schiffes befestigt war, und begannen vom Damm aus uns zu ziehen. Die Ruderleute waren übrigens prächtige Menschen. Immer fröhlich, wie gute Kinder, zeigten sie jeden Augenblick, wenn sie lachten, zwei Reihen blendender Zähne; Zähne, welche die Reisnahrung und die tägliche Mundpflege auch bei den Chinesen der niedrigsten Klassen so weiss und schön erhalten haben. –

Wir drei sassen auf dem Verdeck und liessen uns von der Vorfrühlingssonne anwärmen.

Zu beiden Seiten unabsehbar die Felder. Überall arbeiteten die fleissigen Bauern und pflanzten Reis, spanischen Pfeffer, Bohnen, Getreide und Baumwolle.

Kleine Düngerhaufen auf den Feldern, regelmässig angeordnet, grad wie bei uns im Frühling. Hier und dort weisse Kalksteine, um die samenfressenden Vögel zu erschrecken.

In Stücke geschnittene weisse Rüben trockneten vor den Türen der Hütten, auf schönen Bambusmatten ausgebreitet. Fast aus jedem Haus tönte das Reibegeräusch der Reismühlen.

Immer mehr Häuser reihten sich dem Kanal entlang, aus Holz oder Bambus gebaut und aussen mit Lehm oder Kalk beschmiert. An den Türen hingen überall rote Zettel mit kunstvollen schwarzen Schriftzeichen. Es war die Zeit des chinesischen Neujahrs und die Zeichen bedeuteten hier: Fu = Glück, dort: Tsai = Reichtum, und endlich: Sing chi = Es glückhaftigs neus Jahr!

Da hingen an einem Haus vier grosse Bilder, die alle den gleichen phantastischen Krieger darstellten, der in jeder Hand einen krummen Säbel schwang. Er hatte die Aufgabe, alle bösen Geister als Geisterscheuche zu vertreiben. 173

Auf jenem Haus zeigte ein blauer Schild weisse Schriftzeichen. Es war die irdische Wohnung eines Himmelsbewohners, den der Tod vom Elend hinieden erlöst hatte, so besagte wenigstens die Inschrift, die seine Verdienste pries und ihm die Glückseligkeit im Jenseits wünschte.

Die Bewohner der Häuser kamen neugierig heraus und schauten unserem Boot wie Kinder nach. Ab und zu schrie einer hinter uns her. Ab und zu machte einer die Faust. »Yangkuitse! Yangkuitse! Teufel des Westens!«

Das Schönste waren die grossen Halbkreisbogen der Steinbrücken, unter denen wir durchfuhren. Viele der Brücken sind älter denn tausend Jahre und mit einer Kunstfertigkeit und einem Formensinn erbaut, davor wir heute staunend und unvermögend stehen. Kein Mörtel wurde verwendet; Stein legten sie auf blossen Stein. Ab und zu fügten sie einen in den andern, wie das Holz ineinander gefügt wird, wenn Nägel vermieden werden sollen.

Den ganzen Nachmittag hielten wir Ausschau vom Verdeck, glitten an Dörfern vorbei und unter Brücken durch, bis gegen Abend die Häuser dichter wurden und wir wieder in die Nähe der Stadt Soochow kamen. Oder waren wir mit einemmale in Venedig? Waren das nicht lauter Wasserstrassen, die sich kreuzten, Kanäle, welche die ganze Stadt durchzogen, von kühnen Steinbauten überwölbt und eingerahmt? Nein, wir waren doch in China, denn plötzlich sahen wir uns einer ungeheuren Festungsmauer gegenüber, jenseits eines etwa hundert Meter breiten Kanales. Wir fuhren der gewaltigen Burg entlang, die sich wohl fünf Kilometer in der gleichen Richtung dahinzog und die 174 in ihrer grauen Eintönigkeit und Masse einen unheimlichen, mit ihren angemalten Kanonenmündungen und wachsamen Augen einen heimtückischen Eindruck machte. Endlich ging's um die Ecke. Wir befanden uns in einem Gewirr von mächtigen Dreimasterdschunken, von schnaubenden Tendern, von prustenden FIussdampfern. Mitten ins Durcheinander lenkte unser Laoda, fuhr an das nächste chinesische Hausboot, dass alle Fugen krachten, und nachdem wir über drei weitere Hausboote und die in ihnen liegenden Familien geklettert waren, gelangten wir ans Ufer vor dem grossen Stadttor.

Wenn wir jedoch erwartet hatten, endlich eine Stätte des fernen Ostens zu betreten, an welcher man der Kultur des Westens nicht begegnen würde, so hatten wir uns geirrt. Schon stand zur Rechten des Stadttors ein modernes Postamt, allerdings ein japanisches, und natürlich fehlten daneben die Ansichtskarten nicht. Aber ein Europäer störte ausser uns das Bild in diesen engen Strassen, die wir nun betraten, nicht.

Während wir noch mitten im buntesten Gewimmel standen und in die schmutzigen und doch frohen Farben staunten, in denen das Blau der chinesischen Seidenkleider allmählich die andern Farben verdrängte, sahen wir uns auf einmal umringt von grauen, ausschlagenden Bestien und einem ohrenzerreissenden Geschrei. Es waren aber nur Esel, die so schrien, und kleine, bezopfte Eseltreiber, die wie besessen auf die armen Knochengerüste ihrer Tiere loshieben. Wir sollten reiten!

Wir hatten zwar beabsichtigt, uns in Sänften durch die Stadt tragen zu lassen, wie der hohe Mandarin, der eben in einem grünlackierten Häuschen an uns vorbei balancierte, und dem ein Pfauenfederwedel 175 vorangetragen wurde, aber diese Esel mit ihrem bezaubernden J–a waren so bejahend, dass wir zur Freude der Eselsbuben, deren Gesichter sich mit einem breiten Grinsen überzogen und deren mandelförmige Augen strahlten, nicht nein sagen konnten. Und hussa ho! ging's wie die wilde Jagd durch die aufgeschreckte Stadt.

Man stelle sich einmal das Bild vor: Drei biedere Schweizer auf Eseln – oder nein, – einmal das Entsprechende: Man stelle sich drei bezopfte Chinamänner vor, die auf Eseln unter den alten, ehrwürdigen Lauben Berns hinrasten, begleitet vom Jubelgeheul sämtlicher Gassenbuben. Ich kann nur gestehen, dass die Chinesen, die am Wege allerschleunigst Platz machten, mehr als erstaunt ausgesehen, dass sie von Herzen und wie Kinder gelacht haben, wie wir selber auch, und dass keine Polizei dazwischen kam und unsere Namen aufschrieb.

Vor einer mächtigen, alten Pagode fanden sich wie durch ein Wunder mit unsern wildgewordenen Eseln auch unsere drei schönen Seelen wieder zusammen.

* * *

Als ich nun so von ungefähr um die Pagode herumschritt, mitten in Soochow, auf einem grossen, von Unkraut bewachsenen Platz, sass da in ihrem Schatten ein kleines »Singsonggirl«, ein kleines Singmädchen und weinte bitterlich. Die Tränen rollten in grossen Tropfen über die rosig gefärbten Backen und gruben tiefe Furchen in die kunstvoll aufgestrichene Schminke.

Sie war geputzt und geschmückt; drei Reihen echter Perlen waren zur Zier in den schwarzen, enganliegenden, à la Cléo gekämmten Haaren verwendet; schwere Goldreifen lagen um die feinen, runden Arme; 176 ein saphirblauseidenes Kleid mit rosenroten Stickereien umschloss den zierlichen Körper, und aus den weiten, schwarzseidenen Hosen schauten die winzigen, bestickten Schühlein heraus, in denen die verkrüppelten Füsschen, die »goldenen Lilien«, wie sie der Chinese in der Poesie bezeichnet, eingenäht waren. – Hosen? – Ja, die Chinesinnen tragen eben weite Hosen, meist aus leichter, schwarzer Seide, während gerade die Männer sich eines bis zu den Knöcheln fallenden Rockes bedienen.

Der Lebenslauf eines Singsonggirls ist meist wohl folgender: Irgend ein armes oder in Unglück geratenes Elternpaar oder eine hilflose Witwe, sei es nun in der Stadt oder auf dem Lande, bestimmen eine ihrer Töchter für die Laufbahn der Sängerin. Von frühester Jugend an werden ihr die Füsschen durch Verschnürung und Operation in winzige Schuhe gezwängt und möglichst klein erhalten. Dieses so gezeichnete Mädchen wird das Kleinod des Haushaltes, für das alles arbeitet, es wird in Seide gekleidet, besonders gut gespeist und hat weiter nichts zu tun, als klassische chinesische Gedichte, als Gesang und dessen Begleitung auf einer einsaitigen Violine zu erlernen. Mit zehn Jahren ungefähr wird das Kind dann zu einer Pflegemutter in die grosse Stadt gebracht, zu einer Frau, die drei bis vier solcher Kinder kauft und sie für ihre Zwecke ausnutzt. Die Begriffe von gut und böse wechseln eben, sowie wir selber unsern Standort verändern, und es gilt in China als das gute Recht der Eltern, sich aus der Notlage zu helfen durch Verkauf der Mädchen. Es gilt sogar als eine heroische und grosse Tat, wenn ein Kind sich aus freien Stücken für seine ins Elend geratenen 177 Erzeuger feilbietet. Nicht, dass übrigens die Mädchen zu einem unzüchtigen Zwecke verkauft werden, – sie stehen unter strenger Aufsicht ihrer Pflegemutter, – sie haben lediglich die Aufgabe, Unterhaltung zu bieten bei den Gastgelagen der Mandarine und reichen Chinesen. Eine Sängerin wird ausgeliehen auf ein, zwei und mehr Stunden in das Haus eines Kunden und muss dort durch geistreiche Wortspiele und Gesang die Gäste unterhalten. Oder aber, sie sitzt abends im Teehaus auf einer kleinen Schaubühne mit andern Sängerinnen zusammen und wartet, bis ein Teehausgast den Wirt bittet, ihm einen Besuch in ihrer Wohnung zu vermitteln. Der Teehauswirt lässt der ausgewählten Schönen eine Wasserpfeife bringen. Raucht sie einige Züge daraus, so ist es das Zeichen ihrer Zustimmung, und die Pfeife wird dem beglückten Gast gebracht, der nun seinerseits einige Züge raucht. Ein Hausknecht führt dann, nachdem die Sängerin sich in einer Sänfte oder Jinrikisha hat nach Hause bringen lassen, den oder die Besucher, meistens sind es mehrere, zu des Mädchens Wohnung, wo ihm die Aufgabe obliegt, zu unterhalten, zu singen, die Opiumpfeifen zu stopfen und den Gästen beim Glücksspiel und Samshootrinken Gesellschaft zu leisten. Samshoo ist ein berauschendes Reisbier, das wie Tee aussieht und warm getrunken wird.

Der Liebe aber, und gerade der geschlechtlichen Liebe sind solche Sängerinnen unzugänglich, ausser es finde sich ein reicher Käufer, der das Mädchen von seiner Pflegemutter gegen zwei- bis dreitausend Taëls loskauft und es als zweite, dritte oder soundsovielte Gattin in sein Haus führt. Ein beneidenswertes Los haben sie nicht, diese Sängerinnen. 178

Als ich aber hier solch ein kleines Geschöpf weinen sah, – bitterlich weinen, – war der Anblick doch so sonderbar, so mitleiderregend bei einer Chinesin, deren ewig lächelnde Gesichter ich sonst zu sehen gewohnt war, dass ich das Mädchen auf gut Glück mit Englisch anredete.

Ihre schmalen Lidspalten wurden vor Erstaunen ganz rund, und ihre glänzenden schwarzen Augen schauten so hilflos auf mich, dass ich meine Frage nach ihrem Leid wiederholte.

Sie schien lange mit sich im Unklaren. Dann sagte sie etwas. Sie wiederholte. Ja, es war Englisch, ein paar Brocken Pidginenglisch, die ich verstand. Als dann noch meine Freunde sich eingefunden hatten, ging ein Fragen hin und her; die Tränen versiegten; das Lächeln kam wieder, obschon eigentlich die Geschichte, die wir zu hören bekamen, nichts weniger als lustig war.

Ein dicker, reicher Mandarin hatte sie gekauft, Das Glück! Die Ehre! Aber sie hasste ihn, sie verabscheute ihn, – sie liebte einen jungen Dschunkenführer, der schön war und zwischen Shanghai und Soochow hin- und herfuhr.

Wir waren nach unsrem Eselsritt noch in der ausgelassensten Stimmung.

»Das arme Ding! Ach was, wir nehmen sie mit! Entführen wir sie!«

»Unser Hausboot steht draussen, nahe beim Zollhaus, vor dem grossen Stadttor. Wir fahren heut abend nach Shanghai. Komm mit, wenn du willst. Nur gib acht, dass man dich nicht sieht.«

Sie schüttelte den Kopf, aber über das ganze, rosenrot gefärbte Gesicht huschte doch die Hoffnung, wie ein echter Sonnenstrahl über eine künstliche Blume. 179

Während alledem hatten unsre Eselsjungen um uns herumgetobt. Aber wir vertrauten uns ihren Bestien kein zweitesmal an, sondern wir liessen uns in ein Teehaus führen. Ein solches dürfte im allgemeinen einem Kaffeehaus bei uns entsprechen, nur dass man allerlei sieht, was man bei uns nicht sehen kann. Besonders angenehm scheint es den Herren Chinesen zu sein, während der Ruhe, der sie beim Teegenuss fröhnen, sich von einem eigens dazu ausgebildeten Spezialisten die Ohren mit zierlichen Bürstchen und Löffelchen ausputzen und die Fingernägel reinigen zu lassen. Ihre ehrbaren Hausfrauen sitzen neben ihnen und reichen den durstigen Kindern die Brust. Den Wänden entlang aber liegen auf länglichen Stühlen in den seltsamsten Stellungen Männer mit langen Rohren, die einer Piccoloflöte ähnlich sehen, auf denen ein haselnussgrosses Pfännchen sitzt, worüber ein vorher halb angebranntes, schmierig schwarzes Kügelchen gebracht wird – Opium! Ein Spirituslämpchen brennt beständig vor den Rauchern. Ich hatte mir vorgestellt, dass auch in China das Opium heutigentags nur noch im Geheimen geraucht würde. Dem ist aber nicht so. Fast in allen Teehäusern, die ich besuchte, sah ich die rauchenden Männer mit verglasten Augen, mit eingefallenen Zügen und dem toten, stumpfen Ausdruck im Gesicht. Neuerdings hat der Kaiser ein Reichsgesetz gegen den Opiumgenuss erlassen, das seinen Beamten das Gift gänzlich verbietet und denen, die ihm bis dahin verfallen waren, eine Frist vorschreibt, bis zu welcher sie sich das Laster abzugewöhnen hätten. Wenn nur des chinesischen Kaisers Reformen zu Ohren seiner Untergebenen kämen und wenn es nur nicht so viele Europäer und besonders 180 Engländer gäbe, die das grösste Interesse am Opiumhandel haben. –

Nachdem wir uns an kandierten Erbsen und Bohnen, die zum Tee serviert werden, erquickt hatten, suchten wir durch das Gewirr der Strassen zum Stadttor und zu unsrem Boote zurück.

Von Soochow gehen Trains nach Shanghai; es werden bis zu zwölf Booten an einen Schleppdampfer gehängt. Um unser Boot in einen solchen Zug einreihen zu können, war es unterdessen ganz nahe ans Ufer gelegt worden und die liebe Jugend, die hinter uns herfolgte, stand in der Runde und machte Randbemerkungen. Wiederum wie huldreiche Könige streuten wir Messingmünzen unter das »Volk« und veranstalteten so die schönsten Wettläufe und Balgereien, bei denen die Rattenschwänze, alias Zöpfe, nicht die ungünstigsten Handhaben boten. Als wir gar Kuchen erstanden hatten und sie den kleinen, abseitsstehenden Mädchen zuwarfen, mengte sich Alt und Jung in den Wettbewerb, und manches heissumstrittene Stück fiel dabei in den grössten Unrat und wurde mit noch grösserem Vergnügen verschlungen.

Mir aber fiel plötzlich die weinende Sängerin ein. Ich fragte den Kapitän-Laoda, ob sich nicht ein Fräulein bei ihm zur Mitreise gemeldet habe.

Er wusste von nichts. Dieweil ich aber, um den photographischen Apparat zu holen, in die Kajüte ging, sass auf meinem Bett das blauseidengekleidete Geschöpf, hielt ein Spiegelchen in der Hand, fuhr sich mit roter Schminke über die durch Tränen verunstalteten Wänglein und strich sich mit Kohle die Augenbraunen schwarz; dann kam das Puderbüchslein und dann nickte sie mir neugeschaffen, glückselig zu. 181

Als ich hingegen unsern Besuch den beiden Freunden anmeldete, hielten wir Kriegsrat. Es war uns eigentlich gar nicht geheuer. Wenn der chinesische Liebhaber hinter den Streich kam, so konnte es fürchterliche Folgen absetzen. Wir verhängten denn alle Kajütenfenster sorgsamst, – vor unseren Kulis waren wir sicher, – denen war es streng untersagt, vorzüglich ihres Geruches wegen, in die Kajüte zu kommen, und stellten uns draussen mit den unschuldigsten Gesichtern auf Wache. Endlos schien die Stunde, die wir zu warten hatten, endlos, bis der Zug sich in Bewegung setzte. Endlich rückte das chinesische Boot vor uns knarrend von der Stelle, endlich spannte sich das Tau, das uns mit ihm verband. Kein drohender Liebhaber zeigte sich am Ufer.

Unser Schützling war aber nicht nur entführt, sondern mittlerweile auch fest entschlafen, müde von der ausgestandenen Not.

Der Abend regte zum Singen an. Die Bezopften im vorderen Boot liefen in wildem Schrecken zusammen, und doch waren es die schönsten Schweizerlieder, die da in die Nacht hinaus klangen, vom Vreneli ab em Guggisberg, vom Burebüebli und Schwyzerhüsli.

Jodeln macht hungrig, und kalt wurde es auch, und wir wären zu gern in die Kajüte gekrochen. Doch immer noch lag unser Gast hold schlafend auf meinem Lager, und weiter huben wir an zu singen. Wir versuchten es diesmal mit dem Appenzeller- und Emmentalerlied, aber wir froren trotz alledem, wurden immer hungriger und warfen sehnsüchtige Blicke durch die Kajütentüre. Es wurde neun, zehn Uhr und keiner wollte das Mädchen stören. 182

Plötzlich kam der Koch mit erstaunt-erschrecktem Gesicht gelaufen und erzählte, eine wundersame Göttin sei auf unser Boot vom Himmel herabgestiegen und sei an ihm und den Ruderern vorbei in der Richtung des hinter uns liegenden Schiffes – verschwunden.

Als wir in die Kajüte kamen, war sie leer. Nur ein ellenlanger Zettel lag da, mit schönen Tuschzeichen bemalt. Es war ein Brief von Fräulein Hakkyu, der Sängerin, an die Geister der freundlichen, hohen Fremden. Er lautet in der Übersetzung ungefähr folgendermassen:

»Dieser Brief ist von mir geschrieben. Eure gehorsamste Dienerin hat nicht die Ehre, Eure Namen und hohen Titel zu kennen, mit denen sie Euch anrufen sollte.

Ihr seid gütig zu mir gewesen wie »Fo«, der Buddha der Chinesen. Ihr habt mir Unterschlupf gewährt, wie Ihr den kleinen Sperling beschützt, wenn er in Eurem Haus Zuflucht sucht vor dem gierigen Falken.

Aber die Augen eines so gemeinen Menschen, wie ich bin, sind zu schwach und unwürdig, länger das Feuer der Eurigen zu ertragen.

Ich sehe, wie Ihr als aufgestörte Edelfasane herumgeht, denn Ihr wisst nicht, was Ihr mit dem kleinen, niedrigen Vogel anfangen sollt.

Ich sehe das wohl. Ich muss deshalb aus Eurer stolzen, herrlichen Nähe enteilen, solange ich es kann.

Ich werde auf eines der Boote hinter dem Euren klettern, mich verstecken, und niemand wird mich finden.

Unbezahlbaren Dank schulde ich Euch, Ihr freundlichen Fremden. 183

Ich kann Euch die Lieder, die ich gelernt habe, nicht singen. Ich verstehe Eure Sprache nicht. Das schönste Lied, welches ich weiss, schreibe ich hier an das Ende dieses Briefes. Es ist von dem göttlichen Dichter Litai-Po. Vielleicht kann man Euch die Bedeutung sagen.

Möge Euch von Euren Kindern und Kindeskindern himmlische Verehrung beschieden sein!

Dieser Brief ist mit einem ungeübten Pinsel geschrieben.

Bis auf die Erde verneigt sich vor Euch Hakkyu.«

Litai-Po war der grösste Lyriker des alten China und wurde im Jahre 698 unserer Zeitrechnung geboren. Sein Leben war voller Tollheiten und Ausschweifungen. Ein faustischer Drang, eine tiefe Melancholie, die im Taumel und Weine Vergessen suchten, liegen seinen Gedichten zugrunde. 762 starb er.

Hier das von der Sängerin zurückgelassene Gedicht:

»Das Gestern, das entfloh, kann ich nicht halten.
Das Heute kann ich nicht von Kummerslast befrein.
Die Wandervögel ziehn in Schwärmen ein,
bei Frühlingswind, bei Lenzes Lust und Walten.

Zur Warte steige ich, den Kelch gefüllt,
der Dichter eingedenk, den Blick im Weiten, –
der grossen Dichter längstvergangner Zeiten,
aus deren Versen Kraft und Anmut quillt.

In mir auch loht ein heilig Feuerwagen!
Begeisterung, die ihre Schwingen reckt! –
Doch, der sein Ziel zu jenen Grossen steckt,
der müsste himmelhoch zu Sternen ragen. 184

Wer trennt den Wasserstrahl mit seinem Schwert?
Wer kann, dieweil er seinen Becher leert,
ertränken, was da Gram und Unlust war?

Der zwischen Sehnsucht und Erfüllung schweben
und dieses eine Leben leben muss, –
er werfe sich im Nachen auf den Fluss, –
der Mensch, – um sich, mit windzerzaustem Haar,
der Elemente Willkür zu ergeben!«

Noch lange stand ich draussen auf dem Verdeck des Bootes, sah der roten Lichtwelle des Schiffszuges entlang und musste den wundersamen Worten des chinesischen Dichters nachsinnen:

Der zwischen Sehnsucht und Erfüllung schweben
und dieses eine Leben leben muss, –
er werfe sich im Nachen auf den Fluss, –
der Mensch, – um sich, mit windzerzaustem Haar,
der Elemente Willkür zu ergeben! –

 


 


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