Theodor Storm
Zur »Wald- und Wasserfreude«
Theodor Storm

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Und dennoch einmal! Wulf Fedders hatte eben ihr Lieblingslied gesungen, und Kätti saß vor ihm auf ihren dicken Büchern, die dunkeln Augen wie im Traum auf ihn gerichtet, die eine ihrer schwarzen Flechten um die Hand geschlungen.

»Die Blumen in dem Walde,
Die Blumen auf der Halde,
Die blühn im Dunkeln fort.«

Er hatte kaum geendet, da trat, ohne daß eines von beiden es bemerkte, der »forscheste« aller künftigen Studenten in das Zimmer und warf mit einem derben »'n Morgen!« – es war nicht einmal Morgen – seine rote Mütze neben ihnen auf den Tisch.

Im Nu war Kätti aufgesprungen und flog an ihm vorüber.

»Was war denn das für eine schwarze Katze?« rief der Forsche.

»Es ist die Wirtstochter«, erwiderte Wulf nicht ohne sichtbare Verlegenheit.

Der andre klopfte ihm vertraulich auf die Schulter. »Ja so! – Du scheinst mit ihr zu schwärmen, alter Freund!«

»Sie ist ein Kind; sie hatte mir den Tee gebracht.«

Kätti stand noch hinter der offenen Stubentür und machte mit ihren kleinen Händen ein paar Krallen gegen den groben Eindringling, bevor sie ganz verschwand. Mit ihrem Freunde war sie wohl zufrieden. »Wirtstochter!« Nur »die Wirtstochter!« Das Wort war ihr eben recht; auch er hatte nichts verraten wollen.

– – Aber das letzte Semester des Schülerlebens ging zu Ende. Als Wulf Fedders, um von seinem Wirte Abschied zu nehmen, in dessen Wohnzimmer trat, kam ihm dieser mit einer Rolle in der Hand entgegen. »Leben Sie wohl, Herr Fedders«, rief er; »es ist ganz recht, daß Sie dem Nest den Rücken kehren! Sehen Sie da!« Und er entrollte eine wirklich prächtige Tapete. »Zehn Mark Kurant per Stück, ich hab' sie selbst für feste Rechnung; aber glauben Sie, daß diese knickerige Gesellschaft auch nur zu einem Ofenschirm davon gekauft hat? Wenn Sie wieder diese werte Stadt besuchen sollten, nach Hermann Tobias Zippel brauchen Sie nicht mehr zu fragen.«

Kätti wurde vergebens gerufen; erst als das Fortrollen des Wagens durch das Haus dröhnte, schlüpfte sie oben aus einem dunkeln Seitenraume des Bodens.

In der Giebelstube war alles ausgeräumt; nur die Gitarre hing noch an der Wand. »Für Kätti« stand auf dem Zettel, der durch die Saiten geschlungen war. Jetzt wurde leis die Tür geöffnet, und auf den Zehen, als fürchte es auch jetzt noch, überrascht zu werden, schlich das Kind herein. Als sie die Worte auf dem Papierstreifen gelesen hatte, drückte sie ihre Lippen darauf und brach in lautes Schluchzen aus.

 

Zum Amtsbezirke der Stadt gehörig, aber reichlich eine Meile südwärts, lag ein großes Dorf; im Rücken Buchen- und Tannenwälder, vor sich das breite silberne Band eines Flusses, der ein weites Wiesental durchströmte. Auf einem Vorsprunge oberhalb des Wassers stand der Kirchspielskrug mit seinem alten wetterbraunen Strohdache, den seit Menschengedenken stets der Sohn von dem noch immer rüstigen Vater überkommen hatte, Land- und Gastwirtschaft gingen Hand in Hand: die Gäste fanden neben bäuerlicher Behaglichkeit billige Preise, frische Butter zum selbstgebackenen Brote und goldgelben Rahm zum wohlgekochten und geklärten Kaffee.

Unterhalb des Gartens, der sich schräg abfallend bis fast an das Flußufer hinabzog, war das Abnahmehaus, wo noch vor kurzem der Vater des letzten bäuerlichen Wirtes wohnte. Zwar hatte auch er, gleich seinen Vorvätern, den Staven mit allen Gerechtigkeiten seinem Sohne abgetreten; aber an Sonn- und Festtagen, wenn die Gäste zu Wasser und zu Lande aus den benachbarten Städten heranzogen, stieg er in seinem besten Staate nach seiner alten Wirtschaft hinauf, um vorne in der kleinen Gaststube den Ausschank zu verwalten und dabei seine Geschichten von Anno damals an den Mann zu bringen. Und selbst die Stammgäste hörten es gern noch einmal, wie er im Walde drüben den großen Wildeber von seines Vaters gelben Sauen abgejagt oder wie er drunten am Flusse den Ottern aufgelauert hatte, die in mondhellen Nächten an dem Dorf vorbeigeschwommen waren.

Aber die bäuerliche Besitzer hatten Haus und Garten verkauft und sich weit vom Dorfe auf ihr Land hinausgebaut; und mit ihnen verschwanden neben den alten Geschichten auch die billigen Preise, der goldgelbe Rahm und die frisch gekarnte Butter.

– – Der neue Wirt war Herr Zippel. Es schien unglaublich, was er alles leistete, noch mehr, was er alles leisten wollte. Sein jetzt schon ziemlich angegrautes Haar befand sich stets im Zustande höchster Aufgeregtheit; er wollte zeigen, was aus diesem Erdenfleck zu machen sei, den seine dummen Vorgänger so lange als totes Kapital von Hand zu Hand gegeben hatten; nicht einmal einen Namen hatte sie für ihr »Etablissement« ersinnen können. Es sollte gründlich anders werden.

Und schon war der hinter der Gaststube liegende Tanzsaal durchbrochen worden und daran nach der Flußseite eine große Veranda in den Garten hinausgebaut. Eben wurde von den Zimmerleuten eine schwere Bekrönung darauf befestigt, welche auf blauem Grunde in goldenen Buchstaben eine fußhohe Inschrift in die Welt hinausstrahlte.

Herr Zippel selbst stand betrachtend der Veranda gegenüber neben einem alten Bauer aus der Nachbarschaft. Der Alte rauchte behaglich seine kurze Pfeife; Herr Zippel hatte die vor fünf Minuten angezündete Zigarre schon bis zur Unkenntlichkeit zerbissen, seine Augen leuchteten, seine Finger spielten unruhig in der Luft; als nun aber endlich da droben der letzte Hammerschlag verhallt war, las er halblaut, mit vor Erregung bebender Stimme: »Hermann Tobias Zippels Wald- und Wasserfreude!« Dann nickte er bestätigend mit dem Kopfe, ergriff den Arm seines Nachbarn und zeigte nach dem Fluß hinab, wo an zwei neuen, weiß und grün gestrichenen Booten dieselbe Inschrift auf dem Wasser schaukelte.

»Ja, ja, Nawer«, sagte der Bauer in seinem Platt, »dat kost't wat!« Dann nickte er auch und rauchte ruhig weiter.

Herr Zippel sah ihn fast entsetzt an. »Kost't was, meint Ihr? – Bringt was ein, lieber Freund! Bringt was ein!« Und liebreich, aber mit begeisterter Überlegenheit klopfte er dem Alten auf die Schulter. »Ihr versteht das nicht«, fuhr er fort, da jener statt der Antwort nur ein paarmal hustete; »wird auch kein Mensch von Euch verlangen!«

Damit führte er den ruhig Fortrauchenden durch die offene Veranda in den Tanzsaal und blieb derselben gegenüber vor einem Pianino stehen, dessen Deckel er mit gewandter Hand zurückklappte.

»Hm!« sagte der Alte, nachdem er sich die Sache eine Zeitlang angesehen hatte.

»Nun?« fragte Herr Zippel.

Und endlich kam die ersehnte Gegenfrage, ob denn die Tochter, »dat lütte Deern«, auf diesem Ding da spiele.

Jetzt aber war Herr Zippel in seinem Fahrwasser: das Kind, das Genie, das sie in ihren roten, fünf Zoll langen Schühchen schon gewesen! Sein unerschöpfliches Thema war angebrochen.

Der alte Nachbar betrachtete unterdessen eine seitwärts angebrachte Einrichtung; es war eine Estrade mit einem kleinen Sitz und einem beweglichen Notenpult davor, alles hübsch in Holzmanier gestrichen und lackiert. Diese Einrichtung war für ein zweites Genie, das der neue Wirt schon innerhalb der ersten acht Tage hier im Dorfe selbst entdeckt hatte. Es steckte in einem kleinen hinkenden Schneider, welcher die Violine spielte, und von dem einmal ein Musikfreund gesagt hatte, es sei schade, daß er nichts gelernt habe. In der Tat aber hatte er sich zu einer Art natürlicher Fertigkeit hinaufgearbeitet, ja, mitunter brach durch seine ungeschulten Töne etwas, das aus der Tiefe der Menschenbrust zu kommen schien und selbst den kundigen Hörer stutzen machte. Er hieß Peter Jensen; die Bauern aber, vielleicht in unbewußter Anerkennung, nannten ihn »Sträkelstrakel«. – Das dürre Männchen saß jetzt fast alle Feierabend auf dem Bänkchen der Estrade und blickte auf ein dunkelfarbiges Mädchen, das schräg ihm gegenüber am Klavier saß. Und nicht nur Tänze und Liedermelodien, selbst eine Mozartsche Sonate hatte die junge Virtuosin mit ihm einstudiert. Herr Zippel unterstützte das nach Kräften, denn es gehörte mit zu seiner »Wald- und Wasserfreude«; während draußen in der Veranda die Gäste seinen Wein tranken und seine »Soupers« und »Dejeuners« verzehrten, sollte vom Saale aus die Kunst ihre höhere Natur ergötzen.

»Seht Ihr, Nachbar«, schloß er seine beredte Auseinandersetzung; »das ist es, was in der Bauernwirtschaft hier gefehlt hat!«

Der Alte nickte ein paarmal, während er wie prüfend mit seiner rauhen Hand das Notenpult betastete. »Süh, süh!« sagte er endlich, ohne aufzublicken, »ward uns' Sträkelstrakel noch up sin olen Dagen en Staatsmus'kant!«

Aber Herr Zippel wurde von einem Arbeiter in den Garten gerufen, und der Alte wanderte langsam hinterher, um zu sehen, was es denn dorten wieder Neues gäbe.

Statt ihrer traten aus der Tür der Gaststube zwei andre Gestalten in den dämmerigen Raum des Saales. Kätti, sie war die eine, obgleich jetzt volle siebzehn Jahre alt, glich fast noch einem halb erwachsenen Kinde; nur ihre Wangen waren jetzt sanft gerundet, und das bleiche Braun derselben war von einem roten Hauch durchbrochen. Ihr schwarzes Haar aber trug sie noch immer in zwei langen Zöpfen; sie war eigensinnig, sie wollte es nicht anders, und auch die rote Schleife an der linken Seite durfte niemals fehlen.

Mit ihr, Geige und Bogen in der Hand, war der kleine Musikant hereingetreten. Er pflegte sonst nicht so früh am Nachmittage, sondern erst zu dem stets für ihn bereiten Abendbrot sich einzustellen; aber heute galt es, die Mozartsonate zu dem Einweihungsfeste der Veranda einzuüben. Nun hatte er auf den Ruf seiner jungen Meisterin mitten im Tagewerke Nadel und Bügeleisen weggeworfen.

Es war etwas Stilles in der Erscheinung des Mädchens, wie sie jetzt ans Klavier schritt und die Noten auflegte, während der kleine Mann schweigend seinen Platz erkletterte und, den Bogen im Anstrich, erwartend nach ihr hinblickte.

Plötzlich »Allegro, Sträkelstrakel!« rief eine junge Stimme, und dahin brausten die Töne der ungeschulten, aber tapferen Musikanten. Mitunter freilich, wenn es gar zu sorglos überhin ging, gebot dieselbe auch wohl »Halt«, und wieder »Halt«; und der Geigenbogen stockte endlich, nachdem er noch eine Weile feurig in die Figuren der nächsten Takte hinausgeschossen war.

Der kleine Geiger hörte sich nicht gern bei seinem Übernamen nennen; wenn aber bei solcher Gelegenheit Kätti ihren Finger hob und mit einer eigentümlich lieblichen Betonung sagte: »Sträkelstrakel«, dann krümmte er sich vor Wohlbehagen auf seinem lackierten Holzbänkchen, und unermüdlich wurden hierauf die hapernden Takte wiederholt, bis das dunkle Köpfchen nickte und es wiederum mit losen Zügeln weiterging.

Als sie mit der Sonate fertig waren, hob Kätti sich auf den Fußspitzen und langte über dem Klaviere ihre Gitarre von der Wand. »Nun zur Belohnung!« sagte sie, lächelnd auf ihren Spielgenossen blickend, und dieser, als ob er nun das Höchste leisten müsse, drehte emsig an den Stimmwirbeln, klimperte und strich und drückte fast das Ohr an seine Geige.

»Sträkelstrakel!« rief wiederum die junge Stimme; da kletterte er eilig von seinem Thron herab, und bald wanderten die beiden nebeneinander im Saale auf und ab; sie leicht dahinschreitend und mit ihrer lichten Sopranstimme singend, daß es von den leeren Wänden schallte; er mit seinem lahmen Fuße stets nach einer Seite wippend und zu ihrer Gitarre begeistert seine Geige streichend. Was hatten sie nicht alles schon gesungen, den »Jäger aus Kurpfalz« nicht weniger als »So viel Stern' am Himmel stehen«. Plötzlich mitten in einem Schelmenliedchen brach sie ab; »Sträkelstrakel!« rief sie, indem sie stehenblieb.

Er war in seinem Perpendikelgange schon um ein paar Schritte weiter; als er Posto gefaßt hatte, wandte er sich um, und das schlichte staubfarbene Haar von seiner mageren Nase streichend, erwartete er ehrerbietig das Orakel aus ihrem jungen Munde.

»Peter Jensen!« sagte Kätti feierlich und nannte ihn bei seinem vollen Taufnamen; »was kann Er geigen!«

»Oh, aber Mamsellchen!«

»Und ist Er auch noch niemals draußen in der Welt gewesen?«

»Draußen in der Welt? – Was soll ich da, Mamsell?«

»Ja«, sagte sie träumerisch und heftete die Augen auf das arme Körperchen des Musikanten, als wolle sie selbst das Wunder nun vollbringen; »wenn Er doch jung und hübsch wäre, Sträkelstrakel!«

Er nickte nachdenklich, als ob ihm das schon wohl gefallen mochte. »Was dann, Mamsellchen?« frug er schüchtern.

»Dann – aber das versteht Er nicht, dann wollten wir beide miteinander in die Welt hinaus!«

Er sagte nichts; er kniff die dünnen Lippen zusammen und sah sie halb anbetend und halb traurig an.

»Nun?« fragt sie endlich.

Der arme kleine Musikant hatte sie wirklich nicht verstanden, er fand es hier im Dorfe jetzt so schön wie niemals noch zuvor bei seinen jetzt bald vierzig Jahren. »Warum denn in die weite Welt, Mamsellchen?«

»Warum?« – Aber sie blieb selbst die Antwort schuldig; der Anfang eines Liedes tauchte plötzlich in ihr auf, dessen Worte sie kaum jemals recht gefaßt hatte. Wie tastend griff sie einen Akkord und hob mit halber Stimme an:

»Ein Vöglein singt so süße
Vor mir von Ort zu Ort!
Oh, meine müden Füße!
Das Vöglein sing so süße;
Ich wandre immerfort.«

Sträkelstrakel hatte sich selig lauschend gegen die Wand gelehnt, Geige und Bogen müßig in der herabhängenden Hand. »Geht es nicht weiter?« frug er leise, als Kätti nach dieser ersten Strophe schwieg.

»O doch! Aber ich weiß nur noch das Ende!« Dann griff sie wieder in die Saiten und sang aufs neue:

»Wo ist nun hin das Singen?
Schon sank das Abendrot –
Die Nacht hat es verstecket,
Hat alles zugedecket;
Wem klag ich meine Not?

Kein Sternlein blinkt im Walde,
Weiß weder Weg noch Ort;
Die Blumen an der Halde,
Die Blumen in dem Walde,
Die blühn im Dunkeln fort.«

Von der offenen Veranda her erscholl ein lautes Händeklatschen: »Bravo, bravissimo!« –Herr Zippel war während der letzten Strophe ein ungesehener Zuhörer gewesen und jetzt im besten Ansatz, seiner Begeisterung Luft zu machen. Aber Kätti hatte wohl diesmal keine Neigung gehabt, den Reden ihres Vaters standzuhalten; als er in den Saal trat, fand er nur noch den kleinen Musikanten, der sich mit seinem blau karierten Taschentuch die Augen wischte.

 


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