Otto Stoessl
Morgenrot
Otto Stoessl

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Es war Sonntag, und auf dem ebenen, katzenkopfgepflasterten Rechteck herrschte das muntere Gedränge der Kirchenbesucher, Bauern, Amtsleute und Bürger, die sich nach der Predigt hier in Erholung, Geschäften, Unterhandlungen und Gespräch, Männer zu Männern, Frauen zu Frauen sammelten. Der Herr Reinmar eilte, seine Eltern zu suchen, die ihn und den Gast wahrscheinlich im Wirtshause erwarteten. Dieter besichtigte unterdessen das »Stadtla«, denn dieser eine Platz, mit je zwei Gassen an der Breit- und Schmalseite machte den ganzen Markt aus. Es gab da ein paar neumodische, häßliche Steinbaukastenhäuser mit widerwärtigen Zieraten, dazwischen aber zu beiden Seiten eine Reihe guter, ehrwürdiger und zierlich anmutiger, kleiner Gebäude, die dem Ganzen sein eigentümliches Altersgesicht gaben: halb bäuerliche, halb bürgerliche Wesen. Auf einem gemauerten und geweißten Erdgeschoß wuchsen hohe, grau geteerte oder gekalkte, oder roh gelassene, spitzige Holzgiebel, zwei Stockwerke hoch und gut zwei Meter weit über den Unterbau hinaus, so daß Holzsäulen die Enden des Daches stützen mußten und niedrige, schützende Laubengänge bildeten, unter welchen die Läden ihre Habseligkeiten ausbreiten, die Käufer, vor Regen und Wind geborgen, spazierengehen und feilschen konnten, während aus den weißgestrichenen, reinlichen Fenstern die Hausfrauen herausschauten und den ganzen Platz mit ihren Blicken bestrichen. Diese hölzernen Zelte, ähnlich stehengebliebenen Wagenburgen eines nordischen Reisevolkes, mit ihrer heimeligen Wärme und Sicherheit, gemahnten Dietern auf merkwürdige Weisen an den hohen Norden, ohne daß er deutlich wußte, warum er just an Island dachte, denn er kannte dessen Bauformen und Einwohner nicht, aber er stellte sich wohl den Schnee der fernen Insel wie hier auf hölzernen Giebeln lastend und ähnliche Lauben vor, in welchen Männer und Frauen in Renntierpelzen nach dem Gottesdienste Tran, Fische und Bernstein verkauften oder gegen Wolltücher, Zucker und Tee austauschte. Vielleicht war er zu diesem Vergleich gelangt, weil er Island vor kurzem daheim in der ethnographischen Gesellschaft bei der Lektüre der altväterischen Reisebeschreibung eines gelehrten Paters Baumgartner, societatis Jesu, entdeckt hatte, welcher dieses eisstarrende Ländchen besuchte, um die dortigen acht katholischen Seelen zu trösten und zu stärken. Die Ergebnisse seiner Forschungen aber legte der Pater in einem erbaulichen, angenehm langweiligen Buche nieder, welches so recht in der Winterstille zu lesen war, wenn es draußen frostete und drinnen die Aepfel auf dem Ofen bruzzelten und dufteten. Dieter hatte sich namentlich den isländischen Nationalhymnus gemerkt, dessen unverständliche, aber breitrollende Verse er auf der Ziehharmonika vertonte. Wie aus des Freiherrn Münchhausen Posthorn tauten hier im »Stadtla« und zur Sommerszeit diese Bilder und Klänge auf und bestimmten Dieters Meinung über die nordische Heimat seiner Väter. Im übrigen standen in der Mitte des Platzes nebeneinander zwei Sehenswürdigkeiten: ein steinerner Brunnen, von grünlichem Moose überwachsen, mit plätscherndem Wasser, das aus zwei Eisenrohren unablässig in das tiefe Becken rann und eine kleine Bronzestatue des Kaisers Josef auf einem Rokokopostament. Von ihr wußte Dieter gleich: »das ist der Kaiser Josef aus Blansko, Katalog Nummer 284 a, feinere Ausführung«. Damit hatte es folgende Bewandtnis. Die Blanskoer Eisengießerei und Metallindustrie betrieb einen schwungvollen Handel mit verarbeitetem Kupfermaterial, welches sie in patriotische Figuren umgoß, die rings im Lande zu künstlerischem Heiligenkult auf das Zureden von Reisenden, Festrednern, nach politischen Feiertagen, begeisterten Versammlungsresolutionen und dergleichen Antrieben mehr, in dankenswertem Eifer verbreitet und aufgestellt wurden, wodurch sowohl das Bronze-Geschäft, als die Bürgertugenden Förderung fanden. Als der sogenannte Liberalismus in Oesterreich und mit ihm die Aktien aller neuen Industrieunternehmungen, der Wahlherrlichkeiten und des politischen Handelsgeschäftes von 1848 bis in die Neunzigerjahre florierten, galt der sogenannte Volkskaiser als der Schutzheilige der aufsteigenden Klassen, welcher höchsteigenhändig weiland den Pflug über einen Acker geführt, die Toleranz verkündigt, die Befreiung der Bauern und Seelen gewünscht, die Pfaffen ihres Uebermuts verwiesen hatte. Ob dies alles wirklich so einfach und klar verlaufen war, ob die Taten nicht vielmehr wieder aus guten Vorsätzen in schlimmes Gelingen, als in den bösen Sand aller vaterländischen Aktionen zurückrannen, kam hier nicht in Frage. Sicher ist nur, daß man diese Sagenfigur in den Mittelpunkt des politischen Schönredens und Armfuchtelns, preisender Begeisterung und hochtrabender volkstümlicher Floskeln stellte. Namentlich in Böhmen, dem Lande des Pflugs und der beginnenden Industrie brauchte man solche Standbilder als sinnfällige Aufmunterungen und Wahrzeichen. Die geschäftstüchtige Gießerei von Blansko war auf diesem Gebiete leistungsfähig genug, um den größten Bedarf zu decken und stellte das Modell 284 a in feinerer, 284 b in billigerer, aber nicht minder geschmackvoller Ausführung der vaterländischen Begeisterung gegen praktische und kulante Ratenzahlungen für die Hauptplätze aller Städte und Märkte zur Verfügung, welche wahrhaft liberal dachten und mit jubelnder Majorität ein solches Kunstwerk aus dem Gemeindesäckel bestritten. Als mittlerweile die Wahlaktien des Liberalismus allenthalben abgeflaut, auf pari und bald noch tiefer sanken, weil die ärmeren und darum radikaleren Schreier den Kampf der Nationalitäten als dauerhafte politische Erwerbsquelle leidenschaftlicher ausbeuteten und allenthalben mittels einer fleißigen Dränage in den stillsten, trockensten Boden des Tageserwerbs zu leiten verstanden, hatte Blansko mit dem schönen Artikel »Kaiser Josef, lebensgroß in Bronze« sein Schäflein längst im Trockenen, überall prunkten die Standbilder, wo es nur möglich war, und man wandte sich, wie es für einen tüchtigen, umsichtigen Betrieb paßt, anderen Erzeugungen zu. Während also das Werk von Blansko längst mit anderer Kunstware sich befaßte, folgten ihm die übrigen Industrieen auf dieses schwungvolle Gebiet der nationalen Begeisterung, namentlich die Zündholzerzeugung, weil die ärmeren Leute zwar keine Standbilder, sicherlich aber schwedische Zündhölzer in germanischen schwarzrotgoldenen Schachteln bezahlen können. Seither sind nationale Zündhölzer im Schwunge, welche sich an der gehörigen Fläche reiben, aufflammen und rasch, ohne Feuersgefahr auslöschen, wie alle praktische Begeisterung, die zünden soll, ohne zu brennen. Aber der Kaiser Josef aus Blansko vertrug sich hier mit dem schönen alten Brunnen recht wohl.

An allen vier Ecken des Platzes gab es geräumige Wirtshäuser, die aber ebensowenig von ihren Gästen leben mußten, wie die Bürger des »Stadtla« von ihrem Bürgertum, denn gleich hinter den Gebäuden begannen die Streifen der Felder und Aecker, auf welchen die Einwohner als Bauern arbeiteten. So gingen sie vorn auf dem Platz als Bürger gekleidet und städtisch einher, zogen in ihrer Stube die langen Röcke und die Stiefeletten aus und tauchten hinten hemdärmelig, in Holzschuhen als Bauern wieder auf, um ihrem eigentlichen Geschäft nachzugehen, dem Pflug oder Vieh, Korn oder Kraut. In der einen Seitengasse lag, von einem ummauerten Friedhof umgeben, von hohen Ulmen beschattet, die alte, an der Schmalseite des Platzes die neue Kirche. Die Dörfler beider entgegengesetzten Richtungen marschierten als gesonderte Regimenter des Glaubens in das nähere Gotteshaus, und die zwei Pfarrer hüteten eifersüchtig die zugewiesene Herde, daß kein Schäflein etwa in den fremden Stall irrte. Dann baute noch ein gelber Kasten von Schloß, der einem armen Adelsgeschlecht der Gegend als Erbsitz gehörte, eine Futtermauerecke kühn in den Platz vor, als Zeichen, daß die adelige Herrschaft keinen Stadtplan zu respektieren brauche. So durften die Linden und Fliederbüsche des gräflichen Parks von oben auf den Platz herunterschauen.

Nur zwei Kaufmannsgeschäfte waren auf ihren bürgerlichen Erwerb angewiesen. Jedes saß einer der feindlichen Kirchen nah, um die ein- und ausströmende Bauernkundschaft unmittelbar abzufangen. Bei der neuen Kirche hatte Herr Siegmund Bardascher seinen Laden und profitierte von der moderneren Richtung: billig und schlecht; bei der alten stand ein gelb und weiß geziertes Kaufmannshäuslein mit feingerundetem, ausladendem Giebel, an dessen beiden Seiten Steinvasen aufgestellt waren. Das Ganze lud so recht zum Besuch und Einkauf als bescheiden wohlhabendes Zeichen rechtlich strengen Betriebes: gib Geld, geht's gut. Das Schild lautete: Franz Xaver Mader-Christens Witwe. Diesen feindlichen Kaufleuten, Bardascher hie, Franz Xaver Mader-Christens Witwe da, war nun keine Herde zugewiesen, sondern wohin einer seine Heller tragen mochte, stand frei, deshalb lauerte eine Ladentüre voll Herrlichkeiten auf die ferne gegenüber mit funkelndem Neide, aber beide Geschäfte gediehen unter ihrer strengen Konkurrenz wie die Ringkämpfer, welche eben durch das stets geübte Raufen bei Muskeln und Kraft bleiben. So jammerten beide Ladeninhaber über die schlechten Zeiten, schalten über die Schmutzkonkurrenz und verdankten einander ein hübsches Vermögen und wachsame Gesundheit, die sich nicht auf die faule Haut legen darf.

Damit waren aber schon fast alle sichtbaren Herrlichkeiten erschöpft und Dieter fand sich zufrieden, als der Ernst Reinmar, sein Wagengenosse, der Forsteleve und Gesteinforscher ihm die Eltern aus dem Wirtshause zuführte. Die begrüßten ihn mit biederer Freude, und eine kleine heitere Gesellschaft wanderte nun wiederum eine Allee schlanker Ebereschen entlang, dem nördlichen Oberdorfe zu. Das Haupt der Familie war der sechzigjährige Vater, ein stämmiger, grobknochiger Mann mit langem Silberbart, dem Sonntag zu Ehren städtisch gekleidet, einen steifen, aber breitkrempigen Rundhut auf dem Kopfe. Neben ihm trippelte die etwas jüngere Frau, noch heute schön. mit den blanksten braunen Augen. Da der Vater schwieg, redete sie für zwei im breitesten, jedes Wort dehnenden Dialekt, der fast wie ein behaglicher Gesang von ihren Lippen lief. An Dieters Seite schritt Ladis, der jüngste Sohn, vierzehnjährig wie der Gast, voran der Forsteleve mit seiner Schwester Anna, einem mannbaren hübschen Mädchen, welches wie die Mutter lachte und blickte, aber wie der Vater schwieg. Noch ein Sohn war vorhanden, doch der saß in Amerika drüben, und auf ihn war die Familie nicht sehr gut zu sprechen, weil er eine Mißheirat eingegangen. Nicht daß seine Herzliebste arm war, verargte man ihm, denn große Reichtümer besaß niemand im Ländchen, aber daß sie aus einem übelberufenen Flecken stammte, trug man ihr nach. Es gab nämlich in einer Mulde der weit ausgebuchteten Landschaft ein stilles, in sich geducktes Dorfnest, dessen Insassen als Narren, Schälke und moralische Schwächlinge galten, so daß die übrige Landschaft von ihnen nichts wissen wollte. Waren alle Dörfer sonst freien Sinns und gaben der Kirche nicht mehr, als was sich unbedingt schickte, so legte dieses Nest sich ihr ganz in den Schoß voll Demut und Reue, denn es hatte manche Sünden auf dem Gewissen. Da es so allein gelassen wurde und ohne Umgang blieb, hauste es, namentlich in den Winterzeiten, wo die Leute beim warmen Herd sich aneinanderducken, in einem recht stallartigen Liebeseifer zusammen, und eine Familie setzte in die andere Kinder, so daß man gar nicht mehr wußte, wohin jedes gehörte. Hatte eines die Nase seines Vaters, so blickte es gewiß mit den Augen seines Oheims und hob die Achseln beim Gehen wie der Nachbar und zischte mit der Zunge beim Reden ganz wie ein Müller desselbigen Grundes, und jedes Geschwister glich einem Sprößling aus nachbarlichem Bett, so daß mählich das ganze, sich erneuende stete Hundert des Dorfes nachgerade eine fröhliche, verspielte Sippschaft darstellte, welche das bißchen Geld versoff, vertanzte, beim Kartentrumpfen um den Kopf sausen ließ und dann demütig zueinander ins Bett kroch, um sich im Katzenjammer zu wärmen, Sonntags ehrbar in die Kirche zu gehen und zu allen heiligen Zeiten Buße zu tun. Losgesprochen begann die Igelei von neuem. Darum grüßten alle andern aufrechten Bauern einander: Schön willkommen, oder guten Morgen, guten Mittag und guten Abend, wie es der Stand der Zeit jeweils verlangte, nur diese Nesthocker murmelten fromm: »Gelobt sei Jesus Christus« und gaben, »In Ewigkeit Amen« zurück. Denn sie hatten alle Ursache, des Heilands zu gedenken, der ja leider und insbesondere auch für ihresgleichen gestorben war.

Man mag nun billig ermessen, welches Entsetzen bei den Reinmars herrschte, als der Aelteste gerade von dort ein Mädchen herausklaubte und durchaus zur Frau verlangte. Da der Vater seine Einwilligung verweigerte, kam es zu einem weiteren ungeheuerlichen Schritt, der Sohn bestand auf der Auszahlung seines Erbteils. Sonst wartete jeder geduldig, bis die Eltern ins Ausgedinge gingen und die Wirtschaft dem Erben überließen. Da er aber mit dem übeln Nest sich eingelassen hatte, kümmerte er sich wenig um den Anstand, sondern verlangte, was das Gesetz ihm sicherte, der alte Reinmar schmiß ihm sein Geld hin und war zufrieden, daß der Sohn ihm aus den Augen ging. Der wirtschaftete dann in Amerika schlecht und recht und da er sich um das bißchen Leben ordentlich herumschlagen mußte, wird sein Weib wohl auch nicht so aus der Art gewesen sein, wie der Hochmut ihrer Schwäher es haben wollte. Jedenfalls gedachte er der Heimat immer und immer und schickte leintuchgroße Zeitungen aus der neuen Welt, ausführliche Briefe mit Ratschlägen und praktischen Winken eines gelernten Yankee, um den Wohlstand seines Ländchens zu heben. Die Journale verwendete man zu andern Dingen, als zum Lesen, die Briefe sammelte man in einem Kasten und beantwortete sie höchst einsilbig. Endlich schickte er einmal seine Frau, welche wahrscheinlich Heimweh für zwei trug, nach Hause zur Ansicht, weil sie sich brav herausgewachsen hatte und ein ansehnliches Weibsbild vorstellte. Aber als sie in den alten Hof kam, behandelte man sie darum nicht besser, sondern streng und kühl wie einen fremden Gast, dem man nur die notwendigen Ehren erweist, welche bitterer schmecken als ein grober Rippenstoß der Verwandtschaft. Darum kehrte sie nach zwei Tagen dem Hofe den Rücken, raffte dabei ihre Röcke nicht ohne eine entschiedene zugehörige Gebärde und Aussprache hoch und ging in ihr angestammtes Nest hinab, wo sie sich kurze Zeit bei der zugehörigen Hundertschaft wärmte, mit Lustbarkeit, Staunen, Schmeichelei und Zärtlichkeit aufgenommen, einen langen Schluck Heimat tat, bis sie davon satt war und wieder nach Amerika zurückfuhr. Seitdem vernahm man nichts Näheres von dort und legte die spärlichen Zeitungen und kargen Briefe stumm zu den übrigen.

Diese Geschichte, die wie manche andere aus dem Ländchen dem Dieter vom Vater berichtet worden war, damit sein Sohn kein unbedachtes Wort bei den Gastgebern loslasse, erwog der Knabe, während er mit dem Altersgenossen munter die Höhe hinanstieg. Der Blick konnte frei ringsum über Nadelwälder streichen, welche von weißen Birken lieblich unterwachsen waren. In sanften Wölbungen wallten Wiesen zu vielgekrümmten Bächen hinab, deren dunkles Wasser gelegentlich stille stand und wie ein schwarzer Diamant leuchtete. Ein scharfer Wind trieb oben die Wolken über den Himmel, schüttelte unten das Laub und sauste um den Kopf.

Da stand der Hof von zwei breitkronigen Linden bewacht auf einem offenen Bühel, weiß, bunt, mit vielem Holz an seinem Bau und auf dem hohen Dache. Nun eilte Ernst, als der Aelteste nach Jahren wieder zurückgekehrte, voran, um den ersten Blick zu haben. Bedächtig kam der Vater nach und schaute sein Eigentum sachlich an. Auf die Wiese vor dem Hause zeigend, rief Ernst: »Da habt ihr ja noch immer den leidigen Felsen mitten drin.«

»Jawohl, den haben wir, wo sollten wir denn hin damit?«

Nun war der Ernst verlegen. Der Stein war ein altes Hindernis für das Gedeihen der Wiese. Er schüttelte den Kopf, endlich sagte er kleinlaut: »Man könnte ihn vielleicht sprengen und zerschlagen.«

Der alte Reinmar lächelte: »Das kannst du ja machen,« und dachte, »dein Schädel ist nicht härter als dieser Stein.«

Eine gemauerte Rampe führte an die Seitenwand des Hauses, an welcher der Eingang für Wagen, Vieh und Menschen war, nämlich ein angebauter breiter Holzflur mit Fenstern, die sogenannte »Naspe«, deren vordere Hälfte ein Vorhaus darstellte und nach hinten durch ein inneres Holztor verschlossen war. Durch dieses gelangte man in den hinteren Teil der »Naspe«, wo der Hausbrunnen geschützt lag und das Stroh und Laub gesammelt wurde. An dieser Hofseite befanden sich die Ställe. Die »Naspe« öffnete sich hier zur Sommerzeit, indem die Bretter von der Steinrampe an diesem hinteren Teil weggenommen wurden. Da konnte man aus den Ställen gleich den wertvollen Mist hinab auf den Düngerhaufen schütten, der unten als schmutziger Schatz sich sammelte.

So teilte die »Naspe« wie der Hof selbst sich in zwei Hälften, eine für das Vieh, die andere für die Menschen.

An dem vorderen, sauberen und immer geschlossenen Teil dieses Holzflurs fand man in das Haus hinein und wieder in einen Gang. Nach rechts trat man in die Wohnung, nach links in die Ställe.

An der Schmalwand der mächtigen, niedrigen Wohnstube beim Eingang dehnte sich der Ofen, aus blauen Kacheln erbaut, unten mit Hohlräumen, in welchen Holz geschichtet lag, oben mit einer übermannsgroßen Fläche, der sogenannten »Hölle«, die zwischen dem Menschen, der etwa oben lag, und der Decke nur einen halben Meter Luft frei ließ. Im Winter pflegt der Hausälteste, der von Jahren kühl geworden ist und Wärme braucht, den Tag und die Nacht dazu in dieser »Hölle« zu liegen, wie in einer Schwitzkur, um nur bei dringendem Bedürfnis mühsam hinabzuklettern. Wenn einer einmal länger als einen Tag da droben verweilt, ist es ein Zeichen, daß er sein Ausgedinge bald antritt. Hier gehörte aber die Hölle etwa einem armseligen alten Knechtlein oder Häusler, denn der Vater Reinmar dachte noch lange nicht an den Abschied von der Herrschaft. An der Ofenbank, welche unten zu ebener Erde um den Hitzeriesen lief, saßen zwei Gäste und erhoben sich mit freundlichem Gruß, denn sie hatten sich um des Ankömmlings willen eingefunden: seine beiden Vettern: Sephe, den er bei seinem ersten Besuch des Ländchens aus der Tischlerwerkstatt geholt, nun ein unternehmend dreinschauender, schnurrbärtiger Bursch, der sich ganz weltmännisch verbeugte, und daneben sein jüngerer Bruder, den Dieter noch nicht kannte. Der dienerte demütig, bescheiden und fromm freundlich, als das geborene brave Weberknechtlein und hieß »Pieterla«, kleiner Peter, hatte ausgerenkte Beine und einen früh gebrechlichen Körper, war sechzehn Jahre alt, also nicht viel männlicher als Dieter, aber schon so ganz ausgemüht und abgearbeitet, wie ein Alter, denn die zeitige Not nimmt den Armen zwischen Kindheit und Greisentum die schönen Frühlings- und Sommerzeiten des Lebens weg. Dieter schüttelte den Vettern die Hand und freute sich gerade an dem gedrückten Jüngeren. Der alte Reinmar lud alle zu Tische und während Sephe, der erwachsene Vetter ohne weiteres mit leichtem Schritt sich der großen gedeckten Tafel an der Fensterseite näherte, zögerte Pieterla ängstlich und verlegen, seine Mütze in der Hand drehend und mochte sich gar nicht entschließen, der Ehre der Einladung sich zu unterwinden. Denn es besteht eine eigentümlich strenge Sonderung der Angesehenen und der Dürftigen, indem jeder darauf hält, die von der Natur und den Verhältnissen gesetzten Grenzen schicklich zu bewahren und sich ohne äußeres Machtgebot oder Gebärde der Hausherren aus freien Stücken nur dorthin zu stellen, wohin er gehört. So treten die Häusler in die Stube und stehen an der Ofenbank, setzen sich erst auf Geheiß eben dorthin, keiner aber würde es wagen, ohne Aufforderung bis zum Tische vorzutreten und sich gar auf einem Sessel an ihm niederzulassen. Hingegen begibt sich ein Bauer beim andern, ein wohlbestallter Besucher, der keine Umstände zu machen braucht, gleich und mit zwei Schritten geradewegs zum Tische, wohin er als ein Ebenbürtiger gehört. Wer aber zwischen Reich und Arm halbwegs mitten innesteht, pflegt an der Ofenbank den Beginn der Begrüßung und läßt sich ein wenig bitten, bis er sich dem Tische nähert. So hat auch der Bauersmann sein Zeremonial, welches er einhält und alle andern zu wahren zwingt kraft seines eigenen strengen Betragens und gemessenen Sinnes. Und wer tiefer hinab in die Höhlen der Bettler oder zu den Spelunken der Verbrecher findet, der wird auch dort sittliche Vorschriften beachtet sehen, Abgrenzungen von Stand und Würde und Gebahren, die keiner ungestraft verachtet. So ist den Menschen nicht ein Drang nach Aufhebung aller Schranken und Angleichung aller Gewohnheiten von der Natur gegeben, sondern vielmehr das tiefste Bedürfnis nach Unter- und Ueberordnung, nach Erhaltung gewisser Gliederungen, welche die innerste, zügellose, etwa lauernde Tiergewalt bändigen, Leib von Leib abwehren, Seele zu Seele stellen, aber jede vor der Verletzung eben durch eine zarte, unsichtbare Wand behüten sollen, die nicht bloß den Mächtigeren vor dem Ueberfall des Niedrigeren, sondern umgekehrt auch den Aermeren vor dem Zugriff des Uebermütigen bewahrt. Die stete Ungleichheit aller ist das Geheimnis der menschlichen Ordnung, des notwendigen Baues jener natürlichen Gemeinschaft, deren jeder Stein einen andern trägt, wie er selbst von der Masse der übrigen gehalten ist. Keine Säule steht für sich allein, keine Krone schwebt in Lüften, kein Ziegel ist gedrückt ohne gegenzudrücken. Womit aber freilich nicht gesagt sein soll, daß dieser Bau immer und überall besonders zweckmäßig, wohnlich oder schön anmutet. Menschen haben ihn gesetzt, Wetter, Regen, Sonne, Winter und Feuer haben mitgetan, Lücken klaffen allerorten, durch welche das Schicksal fährt, auch die Ordnung hat ihre Not, wie sie selbst nichts anderes ist, als die schwere Not der Zeit.

So war, wie Dieter gleich erkannte, der Sephe ein etwas vordringlicher Hochhinaus, indem er ohne weiteres an den Tisch spazierte, Pieterla aber ein demütiger, bescheidener Nunbinichleideraufderwelt, welchem es schlecht gehen muß, weil er sich demütig macht.

Man brachte Teller, in welchen eine dünne Suppe bis zum Rande schwamm, mit Leberklößen als dunkeln Eilanden drauf. Die Gesellschaft aß, je nach ihrer Art, die Herrenleute mit sicherem Hunger, Sephe mit hastigem, um keinen Löffel zu verlieren, Pieterla ängstlich langsam, ob es auch erlaubt sei, Dieter neugierig, denn die Suppe war nicht sehr stark, aber vom Grunde des Tellers erhob sich mit verheißenden Umrissen eine schwarze Zeichnung, welche er möglichst bald würdigen wollte. Als Belohnung für das Auslöffeln erwies sich endlich ein interessantes Bild mit der Inschrift: »Hradschin zu Prag«, ein altes Königsschloß. Und als Dieter diesen Teller bewunderte, beeilten sich alle übrigen mit ihrem hervorzukommen und jeder überlieferte den seinen zur eingehenden Betrachtung, nachdem er ihn selber genau besichtigt hatte. Da war die »Teinkirche«, »Die Altstadt« und manches andere berühmte Gebäude des goldenen Prag, so daß sich die Suppe schon lohnte.

Nach Tische wurde Dieter auf dem Anwesen umhergeführt, dessen Gebiet eine ganze Höhe, Aecker, Felder, Wiesen, einen jungen Nadelwald und sogar ein schwarzes Moor umfaßte, über welchem Irrlichter bei Nacht flackerten. An der Grenze wuchsen Kirschbäume, deren Früchte erst im August reiften, aber, fast pflaumengroß, von wässeriger Süßigkeit troffen.

Ladis machte den freundlichen Wirt, Dieter genoß die Sehenswürdigkeiten und nahm sich vor, im Moor zu baden, was der Gesundheit sehr förderlich sein sollte. Er schlief oben auf der Bühne und brachte zwei Wochen am Hofe ruhig zu, bis er alles, was die Wirtschaft bot, erkannt hatte; den Ernst Reinmar umging er behutsam, weil er sich vor der Gesteinsammlung scheute, er ließ sich von ihm nur einmal die Wartburg beschreiben. Aber dann gelüstete es ihn bald, sich auf eigene Faust im Lande umherzutreiben, und es als freier Wandersmann rings zu durchforschen. So nahm er von den Reinmars Urlaub; da allesamt auf dem Hof mit Sommerarbeit genugsam zu tun hatten und auch sonst keine ängstlichen und vorwitzigen Knabenhüter waren, ließen sie ihn freundlich seiner Wege ziehen, er mochte wiederkommen wann er wollte, oder auch nicht. So gefiel es ihm wohl und er machte sich davon.

Zuerst suchte er das Heimat- und Stammhaus der Dieter auf, wo nur Sephe und Pieterla als Erben hausten, da der »hochachtungsvolle Freund und Bruder Leopold« heuer im Winter den guten stillen Tod gestorben war, der seiner Familie und den meisten alten Leuten in diesem gesunden Lande gegönnt blieb, sie wurden, wenn sie in die hohen Jahre kamen, müde, schliefen immer länger, wach schwatzten sie leise lächelnd vor sich hin, wie aus dem Traum und schließlich starben sie im Schlummer.

Nun hätte Dieter von Rechts wegen seinen Vettern das Beileid ausdrücken müssen, aber um das kleine Haus blühte das Bauerngärtlein innerhalb des niedrigen Lattenzaunes so lustig, rauschte davor der unsterbliche Bach so lebendig dahin, stand Sephe, die Wollmütze unternehmend schief auf dem Kopfe, so fröhlich an der Schwelle und warf zur Begrüßung des vornehmen Besuches seine rechte Holzpantine geschickt in die Luft, um sie danach mit dem nackten Fuße wieder aufzufangen, daß Dieter kein trauriges Wort über die Lippen brachte. Drin in der Stube saß Pieterla, der bescheidene über dem Webstuhl, wie Vater, Großvater und alle aus einer, wer weiß wie tief in die Vorzeit führenden Reihe gesessen waren und ließ die Lade gehen und stand auf und verbeugte sich vor seinem Gaste und zeigte sein frommes Gesicht beseligt, als sei ihm die Sonne erschienen. Nun konnte Dieter auch hier kein Beileid sagen, denn er nahm wahr, wie der Tod kein strenger Feind, sondern ein gewohnter Gast, in diesen Hütten einkehre. Wenn einer vom Webstuhle aufsteht, ist immer schon ein Sohn bereit, sich darauf niederzulassen, tritt einer von der Türe fort, so kommt der nächste und setzt die Mütze schief auf den Kopf, die Blumen blühen, einerlei, welche Hand sie pflegt, der Bach rauscht vorüber und fragt nicht, an wessen Haus. Den Söhnen wird's wie den Vätern ergehen, andere werden in alle ihre Spuren kommen und die Zeit webt aus den gleichen Menschen ein gleiches stetes Gewebe, wo kein Faden fehl und keiner vom andern sonderlich verschieden ist. Da gilt der Einzelne nicht als Einziger, vielmehr der Stamm als langsam weiter wachsendes unsterbliches Wesen, das immer neue Ringe ansetzt und oben jährlich neu laubendes Grün. Seien die Lebenden drum fröhlich in ihrem guten Rechte.

Zu Dieters Ehren breitete Pieterla oben auf der Bühne ein sauberes Leintuch auf die Bettstatt und Dieter schlief einen gerechten Schlaf. Am Morgen, es war der dritte Sonntag, den er im Lande verbrachte, sperrten sie wegen des Feiertages und Besuches das Haus zu, ließen den Webstuhl mit seinem begonnenen Stück Oxford stehen und machten sich davon. Die beiden Vettern wollten in die Kirche und auf dem Wege eine kleine Hütte aufsuchen, in welcher seit einem Jahre der Feder Raimund saß, ein gar liebenswerter Altgesell, welchen Dieter von Wien her kannte und daheim mit Schmerz vermißt hatte. Dieser Jugendfreund seines Vaters war in einer großstädtischen Privatirrenanstalt als Wärter bedienstet gewesen, stand sich bei gutem Gehalt, der für die schlimme Arbeit reichlich gezahlt werden muß und bei noch besseren Trinkgeldern sehr nobel, trug die buntesten Westen, von deren linker zur rechten Tasche eine fingerdicke Goldkette mit den merkwürdigsten Berlocken baumelte, rauchte kein übleres Kraut als die duftendsten Havanna-Importen, ließ Dietern zuweilen märchenhafte ägyptische Zigaretten zukommen und brachte in die bescheidene Wohnung den Lärm und die Vornehmheit der großen Welt. Dies alles aber ohne Prahlerei, mit der selbstverständlichen Lebensart eines wohlhabenden Mannes, er war ein eifriger Theaterbesucher und saß, obgleich ein ungebildeter Mann, doch an freien Abenden aufmerksam und stattlich in den vordersten Parkettreihen der »Burg«, oder wo es etwas interessantes zu sehen gab, kannte alle Schauspielergrößen beim Namen und wußte immer neues von ihnen zu erzählen. Und wie es allen Landleuten ergeht, wenn sie draußen in der Fremde sich lange genug umhertreiben gelassen, eines Tages hatte er die ganze Geschichte satt, er besaß ein hübsches Vermögen, von welchem er ein sehr langes Leben noch hier in der Heimat recht behaglich leben konnte. Darum packte er seine Siebensachen, kündigte seinen Dienst, nahm von der »Burg«, von seinen Irren, von dem Doktor, von Dieter und seinem Buben gerührten Abschied, ließ sich Grüße an das Ländchen auftragen und kehrte der Stadt seinen breiten Rücken. Nun hauste er hier in einer kleinen Hütte, die seiner Schwester gehörte und die als recht arme Weberin mit ihrem Manne diesen anspruchsvollen Gast bekam. Ihn mußte Dieter natürlich wiedersehen. Damit er den fleißigen Wirtshausgeher nicht verfehle, sollten die Vettern seinen Besuch anmelden. Derweile wanderte Dieter von der Höhe wieder in einen schattigen Grund zu jener Hammermühle, wo sich vor Jahren die Geschichte mit dem Fingerschlosser zugetragen hatte. Als er dort zu kurzem Besuche eintrat, war alles in die Kirche ausgeflogen, nur hoch aus der Bühne hörte er ein wunderschönes Flötenspiel dringen in langsamen, wie bunte Seifenblasen schwebenden Tönen. Er lugte von unten, wo die Mehlsäcke kauerten und das Wasser an den stillgestellten Rädern sacht vorbeirauschte, die Treppe hinauf und sah den Hammermüller, einen nun schon ergrauten Mann, der sonst mehr pfiffig als romantisch dreinschaute, auf dem offenen Fenster sitzen, die Beine im Freien schlenkernd, wie er ganz verloren eine Melodie nach der andern blies. Kaum war ein Volkslied ausgeklungen, so kam ihm eine kunstvoll verschnörkelte und eng geführte Meistermusik nach, gar ein Kanon gelang nicht ohne einige seufzende Schwierigkeiten und über der bald heiteren, bald traurigen Weise lag jener zarte Schleier von Schwermut und einsamem Ungenügen, welcher der Stimme dieses Instruments eignet. Mit einer solchen Flöte mag ein mutterseelenalleiniger Mensch an einem Sonntag, wenn die Leute zur Kirche fortziehen und niemand auf der Mühle zu tun hat, gar wohl die innersten Regungen des unbelauschten Gemütes in sachte Töne ausatmen, gleichviel, welcher fremde Sinn ihre Folgen vorgeschrieben und erdacht. Mit den gespitzten Lippen, den tastenden Fingern, dem aus der Tiefe geschöpften Atem bläst er den fremden Noten die eigene fremde und vertraute Seele ein und läßt sie über das alte Tal hinschweben zu Baum und Bach und Wiese, wie blauer Rauch aus dem eigenen Schornstein in den Lüften plötzlich als ein vornehmer Schleier dem Himmel sich zukräuselt und wehmütig zitternd im helleren Tage zergeht.

Dieter schlich auf den Zehenspitzen davon, um den Blasenden nicht zu stören, ging noch viele hundert Schritte in der entgegengesetzten Richtung sehr behutsam und lachte im Herzen: »Jetzt hab' ich einen anderen Hammermüller besucht, nicht den, der zwei Säcke voll Mehl für drei Säcke Korn gibt.« Derselbe Talgrund führte aus einer plötzlichen Enge mehr als drei Stunden weit in eine zweite offene Bachgegend, wo wiederum eine Mühle, die sogenannte »Grimmühle« stand.

Dieter gewahrte vor ihr einen ungeheuren, umgestürzten Eichbaum, dessen zersplittertes Geäst wie die ausgereckten Glieder eines Leichnams sich unordentlich in den Boden verkrampfte, durch den Stamm ging ein vom Blitz gerissener Spalt von oben bis unten und hatte das Mark entblößt, welches wie eine einzige klaffende Wunde bleich und leblos erschien. Als der Bursch davorstand und den vielleicht mehrhundertjährigen Baum betrachtete, den die Laune einer einzigen Gewitternacht hingestreckt hatte, kam ein Bauer daher, grüßte freundlich, pflanzte sich neben Dieter auf und begann gleich zutraulich, wie es die Art war, zu erzählen. Das sei wohl ein merkwürdiges Ding, die tote Eiche und ein merkwürdiges Zusammensterben, denn drin in der Mühle liege ein toter Mann, der Grimmüller sei vorgestern in derselben Nacht wie seine Eiche gestorben und warte jetzt bloß, bis der Sarg aus ihrem Holz gezimmert sei, damit er mit den Füßen voran aus seinem Hause gehen könne. Der Grimmüller sei nämlich von je mit diesem Baum eins gewesen und habe bestimmt, wenn er stürbe, solle man die Eiche fällen und ihm aus dem Stamm seinen Sarg schneiden. Aber er dachte noch lange nicht ans Fortgehen. Da kam in der ehegestrigen Nacht das Gewitter, so gewaltig, wie seit Menschengedenken keines gestrichen – über Dieters in einem anderen Tal fernabliegendes Vaterhaus war nur ein mäßiger Regenguß eilig vorbeigesaust – hier blies der Sturm die Bäume wie Stengel um und im Walde könne man auf Schritt und Tritt die geknickten Tannen, übereinander gefallen und ineinander gefilzt sehen. Der Grimmüller ging ans Fenster, um nachzuschauen, was denn los sei, da gewahrte er gerade den Blitz, der in seine Eiche schnitt, daß sie langsam, aber von der Wurzel aus, mit dem Donner schon umsank. Und obgleich ihn kein leiblicher Schlag getroffen, war ihm der selbige Blitz bis ins Herz gefahren, er schleppte sich ins Bett zurück und wartete die lange Nacht sein eigenes Sterben ab, als mit dem Morgen das Gewitter endete, atmete auch er aus. Er fehlte seinen Leuten in der Frühe, sie fanden ihn tot im Bette und morgen wird der Sarg fertig, heut gibt's keine Arbeit daran, als an einem Sonntag, drum muß er noch warten.

Still wandelte Dieter weiter, wiederum bergauf, wo die Hütte des Feder Raimund lag, er hatte an einem Tage das sanfte Flötenspiel und das wilde Gewitterkrachen dieses kleinen ländlichen Lebens wahrgenommen. Weit ist die Welt im engsten Tal und unendlich die Kette aller Dinge im stillsten Bezirke, der bewohnt wird! Als er sich den Berg hinaufgearbeitet hatte und nun wieder des freien Blickes über die sacht ineinanderlaufenden Graskuppen genoß, welche die tiefen Einschnitte und mannigfachen Flußläufe mit allen den Schluchten, Gründen und Mulden gar nicht im mindesten verrieten, sondern das unschuldigste Gesicht einer sanft wallenden Hochebene zeigten, hob sich am Rande des lichten Horizonts die Riesenfigur des Feder Raimund ab, gefolgt von den beiden kleingewachsenen Vettern Sephe und Pieterla, wie von Erdenwürmern, die hinter dem Rübezahl kriechen. Beim Näherkommen sah Dieter das wohlbekannte, aber in der Freiheit allerdings etwas verwilderte Gesicht. Das fuchsrote Haar stand dicht vom Haupt ab, wehte im Wind wie eine aufrechte Flamme und ein ebensolcher Bart loderte auf die Brust hinab und wurde wieder bis zur Schulter getrieben. In der Nähe zeigte sich der Ungefüge recht halbschlächtig in Art und Ansehen. Die Schäfte seiner kurzen Hosen staken in schweren Stiefeln, welche er benötigte, um seine Last aufrecht über den weichen Boden der Aecker vorwärts zu bewegen, aber sei es zu Ehren des Sonntags, oder seines Besuchers hatte er ein blühweißes, sorgfältig gestärktes Hemd mit hohem Vatermörder und schwarzer Atlasbinde angelegt, darüber eine tief ausgeschnittene Weste und einen modischen, fein geschnittenen, allerdings ein bißchen in die Breite gedehnten Salonrock. Die glänzende Hemdbrust war mit kostbaren Goldknöpfen verschlossen und in den braunen, seit seinem Hiersein rauh und runzelig gewordenen Händen trug er sowohl einen Knotenstock, als ein Paar taubengrauer Glaceehandschuhe, wie man sie im Salon oder Theater überzieht. Er begrüßte Dietern mit allem Riesenanstand, so höfisch ihm nur die Verbeugung gelingen mochte, schüttelte ihm die Hand, daß dem Jungen alle Knochen krachten und vollführte ein zugleich edelmännisches und urweltliches Halloh von Rede und Gegenrede, indem er jede seiner Fragen selbst mehrfach beantwortete, den Inhalt des Gespräches alle Finger lang wechselte, auf den merkwürdigsten Umwegen wieder nach einem fallen gelassenen dünnsten Faden griff, um ihn weiterzudrehen und an ihn plötzlich ein derbes Seil zu binden. So schwankte er von einer vornehmen städtischen Sitte, deren er sich erinnerte, zur angeborenen und neu angeeigneten Bauernart recht als ein verwirrter Mensch, der noch nicht weiß, wo er eigentlich zu Hause ist. Er erzählte den Inhalt von zehn Theaterstücken, aber dabei machte er ihn lächerlich, denn alle diese zart ausgesonnenen Menschenkonstruktionen und Wortklaubereien verwehen, wenn auch nur ein leiser Wind aus dem freien Feld durch sie bläst. Schon indem er solches besprach, zerstörte er es, als ein Riese, der Kinderspielzeug anfaßt und es dabei liebevoll zerquetscht. Er erkundigte sich nach dem Herrn von Sonnental und ob er noch immer so nobel, die Rührung im Halse, wie einen Knödel stecken habe und nach Girardi, dessen beste Couplets er vor sich hinsang. Dazwischen erzählte er von seinen hiesigen Unannehmlichkeiten, man verstünde ihn nicht und würfe ihm überall Prügel zwischen die Beine. So kamen sie in seine Hütte. Er lugte zuerst vorsichtig und mit einer ängstlichen Miene, die ihn vollends komisch erscheinen ließ, ins Fenster und flüsterte: »ich will nur sehen, ob der Drache daheim ist.« Damit meinte er seine Schwester. Sie war aber zum Glück unterwegs. So führte er seine Gäste in die Stube, wo er nur gebückt sich bewegen konnte. Da sah es recht unordentlich aus, seine Kleider lagen in einem Haufen vor einem Kasten, der wieder mit reiner und schmutziger Wäsche durcheinander gefüllt war, auf dem Tisch stand eine Flasche Rosoglio, nun fehlte aber ein Glas, die Gäste zu bewirten. Auf den Zehenspitzen schlich er in die Küche und brachte zwei tönerne Näpfe, worein man sonst nur Milch tut und einen gewesenen grünen Glasrömer herbei. Wehmütig versuchte er diesen vor Dieter hinzustellen, denn das weiland edle Geschirr hatte keinen Fuß, der war ihm abgebrochen, so daß es auf einem Stumpf lehnen mußte als ein Invalide. Darein schenkte er von dem Rosoglio und klagte, zwölf solche grüne Römer habe er hierher mitgebracht, abgesehen von eigenen Likörgläschen, überhaupt schönes Tafelgeschirr und Besteck aller Art, Tischzeug und Gerät, wie es sich gehört, aber seine Schwester, die Hex, habe alles mit Fleiß zerbrochen und vertan und sein ganzes Gut drunter und drüber gebracht, daß es hoffnungslos verdorben und ineinandergewachsen sei, wie ein Weichselzopf. Als er herkam und zu ihr zog, da war sie voll Schmeichelei und Glück und eitel Seligkeit über den reichen Bruder, nichts lieberes konnte ihr geschehen, sie hätschelte ihn und troff von Komplimenten. Und er, Feder Raimund, habe sich das Fell ganz gern krauen lassen, mit dem Kochen begann die Not, denn nun wollten sie und ihr Mann wie die Fürsten leben, der Webstuhl stand still, sie vertat die Gulden an dem Herde, daß sie wie Butter in den Pfannen zerflossen und dabei war's ein Futter für die Säue, lachte er aus feuchten, gutmütigen Augen. So ging er ins Wirtshaus, um menschenwürdiges Essen zu bekommen, die Schwester aber und ihr Gemahl sollten nach ihrem gewohnten Brauch werken und essen. Das gefiel ihnen aber gar nicht, da fing sie an, seine Habe zu verwüsten. Er mochte ihr lang freundlich zureden und bitten, er sei doch ein lediger Mensch und hätte keinen andern Erben, sie würden einmal alles kriegen, was er besitze und so weiter. Die Schwester konnte und wollte aber nicht auf das »einmal« warten. Er verstand darunter, so in etwa dreißig Jahren, sie mochte aber durchaus, es solle morgen, übermorgen, oder spätestens in vierzehn Tagen geschehen. Da gab's also Verdruß, Zank und ein Sichindieseelehineinspucken allstund, wie weiland in der Irrenanstalt unter den verlorenen Menschen. »Aber sie hat die Rechnung ohne den Wirt gemacht,« lachte er vergnügt vor sich hin, »nächtens zieh ich aus, ich hab' mir einen Hof gekauft, bald kann ich übersiedeln, die Hex ahnt noch gar nichts. Auf ihr Gesicht bin ich neugierig. Warum soll ich am Ende nicht auch noch Kinder machen und Erben.« Es sei nämlich hohe Zeit, beichtete er freimütig, daß er wieder ein geregeltes Leben führe, denn auch draußen in den Wirtshäusern habe es allerhand Mißhelligkeiten abgesetzt. Als Pfleger armer Kindischer und launenhafter Gesellen und auch als Mann von Welt verstand er sich auf Taschenspielerkunststücke zur Unterhaltung, deren manche er Dieter noch in Wien mit Vergnügen vorgezeigt. Hierher gekommen, tat er in den Wirtshäusern allenthalben, schon um den schlechten Wein und das schale Bier zu würzen, seine gesellschaftlichen Fertigkeiten aufs freigebigste kund. Er spielte Karten und verlor aus Courtoisie sein Geld, die Sakerloter sackten ihn weidlich aus, dafür nahm er dann etwa eine Zehnguldennote mit nichtssagender Verachtung aus der Tasche, faltete sie kunstgerecht, zog sie endlich auseinander, und siehe, es war ein Hunderter geworden, da schauten sie denn verdutzt genug. Aber wie das Gesindel solche Stücke merkte, und daß es gegen ihn nicht aufkam, steckte ein guter Freund – von diesen Wirtshausbekanntschaften konnte man sich solcher Gemeinheit wohl versehen – die Sache der Polizei, der Feder Raimund sei ein Hochstapler und Falschmünzer, der einen Vorrat unechter Banknoten mitgebracht habe und nun hier damit umfechte und so weiter. »Eines Tages sitz' ich ganz gemütlich bei einem Judendartel unten im Adler,« fuhr er fort, »und mache gerade einen Stich, kommt der Gendarmeriewachtmeister gestiefelt und gespornt herein, grüßt anständig von weitem, ich danke, wie es sich gehört und spiele weiter. Er setzt sich an einen Ecktisch und beobachtet mich. Ich haue meinen Trumpf auf, wie ich's gewohnt bin und verliere mein Geld an das Pack, wie immer. Endlich will ich mich empfehlen und heimgehen, um meinen Drachen nicht zu reizen, steht er auf, tritt mir höflichst in den Weg und stellt mich. »Herr Raimund Feder,« sagte er, »wir kennen Ihren werten Namen, Stand und so weiter sehr gut, haben das beste Renommee aus Wien mitgebracht.« »Herr, was schiert Sie mein Renommee,« frag' ich in aller Höflichkeit. »Je nun«, antwortet er, »man munkelt aber hier allerhand Despektierliches über Sie.« »Was munkelt man,« schrie ich, er wispert, ich solle nur ruhig sein, um nicht unnützes Aufsehen zu machen, ich verrichte nämlich so gewisse Kunststücke mit Banknoten, indem ich aus einem Zehner einen bisher noch nicht dagewesenen Hunderter ziehe und dergleichen. Ob ich ihm mit gutem Gewissen versichern könne, daß das mit rechten Dingen zugehe und ehrliches Geld sei. »Herr Wachtmeister,« antwort' ich, »hat irgendwer hier von mir einen falschen Gulden, Zehner oder Hunderter bekommen oder genommen, oder war nicht alles mein armes, rechtes, wahrhaftiges Vermögen, das ich in die Luft schlagen kann, wie es mir beliebt, wenn ich schon so dumm bin? Aber ich weiß wohl, was Sie meinen, Herr Wachtmeister,« und mit diesen Worten begann er an seinem Tische Dieter, Sephe und Pieterla das gleiche vorzumachen. »Sehen Sie mein bester Herr Wachtmeister, würden Sie es für möglich halten, daß ich Ihnen aus dem werten Nasloch einen Gulden ziehe, hier ist er,« dabei zog er dem Dieter einen aus der Nase, »oder daß Sie im Aermel einen Fünfer finden, wie einen Floh, er beißt nicht.« Nun kam Pieterla an die Reihe; »kratzen Sie sich im Bart, Sie haben eine Krone drin, oder sitzen Sie, mit allem Respekt, nicht etwa auf einem Vierkreuzerstück? Wenn Sie lange brüten, legt es Sechserln.« Sephe stand auf und fand richtig ein Vierkreuzerstück auf seinem Stuhl, welches er einsteckte, wozu der Feder Raimund eine lächelnde Miene zog. »Wenn das alles falsches Geld wäre,« triumphierte er, »hätt' ich viel zu münzen.« Da lachte der Wachtmeister, erkannte den Mann von Welt, verbeugte sich vor dem Tausendsassa und verwies den Lumpen ihr Gerede, welche noch nie einen lebendigen Hunderter gesehen hatten, und darum den ersten besten für falsch halten, als leidige, abgegriffene, schmutzige Batzen, die sie selber waren.

Ja, für den Feder Raimund war es hohe Zeit, wieder in eine anständige Ordnung zu kommen, sein Leben juckte ihn, wie tausend Läuse im Pelz, seine Kraft sott ihm in allen Poren und loderte in tausend Possen aus jedem Haar von Haupt und Bart hinaus. Sein Vermögen war dabei beträchtlich zusammengeschmolzen. Er legte es in einem Hofe an, den Salonrock sperrte er bald in den Kasten, das gestickte Hemd zerfiel, die Goldknöpfe verlegte er, um sie nicht zu sehen, trug Bauerngeschirr statt der Römer zusammen, machte sich aufs Feld, um zu ackern, zu pflügen und zu mähen, stand früh auf, wie ein Taglöhner, ging spät zu Bett, wie ein Herr, arbeitete wie ein Knecht, nahm eine Wirtschafterin, die ihm anständig kochen mußte, denn an die Bauernkost mochte er sich doch nicht mehr gewöhnen, heiratete sie schließlich in Gottes Namen und verlor die Wirtshäuser aus dem Gedächtnis, die Taschenspielerstücke aus den Fingern, die zu hart und grob wurden für solche Finessen.

Dieter hatte ihn gerade an der Schicksalswende getroffen, wo ein braver Kerl in neuen, groben, unbeschaffenen Verhältnissen sich verirrt und ins Taumeln gerät. Aber als starker Mann zog er sich aus dem Sumpf selber heraus und konnte nun mit fünfzig Jahren ein neues Leben von Grund aus beginnen, als sei er niemals in einer Stadt, im Theater, bei nobeln Passionen gewesen, sondern allezeit ein Bauer, wie seine Leute.

Vielleicht hatte gerade Dieters Besuch dies Schicksal entschieden, indem der große Mensch vor dem kleinen sich schämte, da er ihm diese Narrenspossen als alter Kerl vormachte. Denn wenn die Wage haarscharf eingestellt, zwischen Gut und Schlimm schwebt, biegt die kleinste Tara sie vollends auf diese oder jene Seite.


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