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Buchschmuck

Achtzehntes Kapitel.

Wochen waren ins Land gegangen, der Sommer stand auf der Höhe. Nur in dem Bureau des »Unermüdlichen« in der Conciergerie schien man den Wechsel der Jahreszeit nicht zu empfinden. Denn wie eine Maschine arbeitete hier Fouquier Tinville unablässig Tag und Nacht. Und Silvain Parmentier war und blieb sein niemals versagender Helfer.

In das Stadthaus drangen laute Klagen, Bittschriften zirkulierten auf den Bänken des Konvents. Sie kamen von den Hausbesitzern der Rue Saint Honoré, denen die Mieter in hellen Scharen davonliefen. Der Anblick der Henkerprozessionen, der Blutgeruch, der vom Revolutionsplatz aufstieg, der den Tuileriengarten und die Champs Elysées verpestete, war in diesen heißen Sommertagen schier unerträglich geworden und der große »Unbestechliche« forderte Blut und immer wieder Blut. Dies schien ihm das einzige Mittel, die Schatten des Vergangenen zu bannen. Über die Schatten des Vergangenen schwanden trotz allen vergossenen Blutes nicht, sie kamen immer wieder aufs neue zum Vorschein. Sie nahmen eine von Tag zu Tag drohendere Gestalt an und es war vorauszusehen, daß sie ihn selbst über kurz oder lang der Vernichtung preisgeben würden.

Endlich gaben der Konvent und die Stadtverwaltung dem Drängen der Anwohner der Rue Saint Honoré nach. Die Maschine verschwand von dem Revolutionsplatz, um draußen im Faubourg Saint Antoine an der Barrière du Tronc ihres grausigen Amtes zu walten.

Und wieder lautete die Weisung des großen »Unbestechlichen«:

»Ihr arbeitet viel zu langsam, Bürger Fouquier Tinville,« und Fouquier Tinville verdoppelte noch einmal seine Riesenkraft. Wie die fertiggestellten Druckbogen des Moniteur verließen jetzt die Anklageschriften, die sich in wenige Stunden automatisch in Bluturteile wandelten, das Bureau der Conciergerie.

»Der Bürgergeschworene Redard ist ohnmächtig geworden, man hat ihn soeben aus dem Gerichtssaal getragen.«

Es war Fouquier Tinville selber, der diese Worte an Silvain Parmentier richtete.

»Es ist ja nicht weiter verwunderlich,« fuhr der öffentliche Ankläger fort. »Der Bürgergeschworene Redard war ein fleißiger Mann, aber das ging auch über seine Kraft. Er hat es sechsunddreißig Stunden hintereinander im Saal ausgehalten und kaum ein Stück Brot zu seiner Erholung verzehrt. Wir müssen solche Leute haben, Bürger Silvain Parmentier, wenn wir auf die vorgeschriebene Anzahl von Todesurteilen pro Tag nach dem Willen des ›Unbestechlichen‹ kommen wollen.«

»Ja, die müssen wir haben, Bürger Fouquier Tinville,« lautete Silvain Parmentiers Antwort und in den Augen des jungen Schwärmers für die große Sache der Freiheit leuchtete es wieder in der Flamme des Fanatismus auf.

»Es wird mir nicht leicht sein, Euch zu entbehren, Bürger Silvain Parmentier!«

Silvain sah erstaunt und erwartungsvoll von dem Aktenbogen auf, mit dessen Ausfüllung er eben beschäftigt war.

Der »Unermüdliche« erklärte weiter:

»Der Schreiber Gossu soll Eure Arbeit übernehmen, Bürger Silvain Parmentier!«

»Und ich, Bürger Fouquier Tinville?«

»Ihr begebt Euch unverzüglich hinauf in den Gerichtssaal und meldet Euch bei dem Vorsitzenden als Ersatzgeschworener für den erkrankten Bürger Redard.«

Silvain Parmentier erblaßte. Fouquier Tinville entging das nicht.

»Was ist Euch, Bürger Silvain Parmentier? Ihr zittert ja,« fragte er rasch.

Silvain machte den Versuch, auszuweichen.

»Ich weiß es in der Tat nicht, Bürger Fouquier Tinville.« So stammelte er ... »Die Luft hier in dem engen Raum ...«

Silvain erhob sich. Er trat an das mit schweren Eisenstäben vergitterte Fenster, öffnete es und atmete lange und tief.

»Fühlt Ihr Euch wieder wohler, Bürger Silvain Parmentier?« fragte jetzt Fouquier Tinville.

»Jawohl, Bürger!«

»Dann geht unverzüglich in den Gerichtssaal, die Prozesse dulden keinen Verzug, wir kommen heute mit dem vorgeschriebenen Pensum nicht zu Ende.«

Noch einmal zögerte Silvain.

»Habt Ihr mich noch etwas zu fragen, Bürger Silvain Parmentier? Oder nein? Dann schickt mir den Bürger Gossu!«

Endlich kam es zögernd von den Lippen Silvains:

»Verzeiht, Bürger Fouquier Tinville, aber steht nicht heute die Sache Tourlan und Genossen auf der Tagesordnung?«

Der »Unermüdliche« versenkte den Blick in die vor ihm auf dem Tisch liegende Liste, die die Namen der Angeklagten enthielt, deren Akten er heute zur Erledigung dem Revolutionstribunal überwiesen hatte.

»Allerdings, Bürger Silvain Parmentier, die Sache des Girondisten Tourlan und Genossen steht heute zur Verhandlung.«

Es entstand eine Pause.

Prüfend waren die scharfen Augen Fouquier Tinvilles auf das bleiche Gesicht des jungen Bürgers Silvain Parmentier gerichtet.

»Und wer sind die Genossen des Angeklagten Tourlan, Bürger Fouquier Tinville?« fragte da Silvain.

Die Augen des öffentlichen Anklägers glitten wieder über die Liste.

»Der Publizist Auguste Rodeur und die Bürgerin Louise Marteau, Bürger Silvain Parmentier, für den Fall, daß Ihr das wirklich nicht mehr wissen solltet. Der erstere wohnhaft in Versailles, die letztere Auftragerin in dem Café zu den Rutenbündeln in der Rue Saint Honoré.«

»Und könnt Ihr wirklich keinen anderen Ersatzgeschworenen ausfindig machen, Bürger Fouquier Tinville?«

Diese Frage kam in flehendem, angstvollem Ton von den Lippen Silvains.

Wieder richteten sich die Augen des »Unermüdlichen« durchbohrend auf das Gesicht des jungen Bürgers.

»Ich will nicht hoffen, Bürger Silvain Parmentier, daß Ihr Euch dem einen oder andern dieser Angeklagten gegenüber für befangen erklären wollt. Dient Ihr der Sache der einen und unteilbaren Republik oder nicht?«

»Ich diene ihr wie Ihr selbst, Bürger Fouquier Tinville!«

»Nun also ... Die Sache will's!«

Laut mit sich selber sprechend, wiederholte Silvain das furchtbare Wort.

Das Schicksal der einstmals so heiß Geliebten, das Leben der Bürgerin Louise Marteau, die sich ihm hingegeben und auch das letzte Opfer ihrer Frauenehre für ihn in Saint Eustache gebracht hatte, lag nun in seiner Hand! Die Sache wollte es! So hatte der »Unermüdliche«, der in Diensten des großen »Unbestechlichen« stand, soeben zu ihm gesagt. Auf eine Stimme konnte es bei dem Verdikt der Geschworenen ankommen und diese eine Stimme, die über Leben oder Tod der einst so heiß Geliebten entschied, konnte, nein ... er fühlte es in diesem Augenblicke ... würde die seine sein ... Aber die Sache wollte es!

»Nun, Bürger Silvain Parmentier?«

»Ich schicke Euch den Schreiber Gossu. Er soll meine Akten vollenden ... und ich gehe ... Bürger Fouquier Tinville ... denn die Sache will's!«

»Das hätte ich nie anders von Euch erwartet. Bürger Silvain Parmentier,« antwortete der »Unermüdliche« und fuhr gelassen in seiner Blutarbeit fort.

Noch lange nach diesem Tage konnte sich Silvain Parmentier keine Rechenschaft darüber geben, wie er eigentlich in dieser Stunde zuerst in das Zimmer der Schreiber, in dem er Gossu den Auftrag des »Unermüdlichen« erteilte und dann in den Saal des Revolutionstribunals gelangt war.

Aber er stand in dem Saal. Er meldete sich seiner Pflicht gemäß, denn die Sache wollte es, bei dem Vorsitzenden und nahm inmitten der Geschworenen Platz auf der Bank an der Stelle, von der man den ohnmächtig gewordenen Redard fortgetragen hatte.

Der Saal mit den Rutenbündeln der Republik, die neben den Trikoloren dessen einzigen Wandschmuck bildeten, an dessen Mittelmauer auf einem Sockel die lorbeergeschmückte Statue Marats, des großen Märtyrers für die Sache der Freiheit, stand, führte einen tollen Reigen vor Silvains Blicken auf. Ihn schwindelte. Er fuhr sich mit der Hand an den Kopf, seine Gedanken zu sammeln, sich zu sagen, wo er denn eigentlich war, was er denn hier wollte und was ihm nun zur Pflicht geworden. Und das eine Wort des »Unermüdlichen«: die Sache will's ... fuhr ihm unablässig durch den gequälten Kopf.

Langsam wurde es ruhiger in seinem Inneren. Allmählich war er dazu imstande, Einzelheiten im Saale zu unterscheiden. Er sah den Tisch mit den Richtern, die Bank der Angeklagten, auf der heute 25 Opfer Platz genommen hatten. Er erkannte Auguste Rodeur, er erkannte Louise Marteau. Die Bürgerin schien ihm heute von überirdischer Schönheit. Sie war verklärt, wollte es ihn in dieser Stunde bedünken. Allem Leid und allem Haß dieses Lebens schon entrückt, so sah sie aus. Sie saß Seite an Seite mit dem Dichter und schaute diesen begeistert an, während ihre Blicke weder zum Tische ihrer Richter, noch zu der Bank der Geschworenen hinüberschweiften und ihn selber unter diesen noch nicht entdeckt hatten.

Er sah die Tribüne des Saales, auf der sich heute wie immer die Zuschauer des Blutgerichts drängten, Männer mit den roten Mützen, den Kokarden und den Trikolorenschärpen, und Weiber, die ihren Strickstrumpf mit in den Sitzungssaal gebracht hatten, Megären, die jeden Augenblick bereit waren, den Angeklagten die unflätigsten Schimpfworte in das Gesicht zu schreien, Hyänen des Konvents, die auch heute noch, nachdem es selbst dem Pöbel zu bunt geworden, die Karren der Verdammten mit Triumphgeheul und Freudengeschrei zu begleiten pflegten.

Silvain Parmentier biß die Zähne aufeinander. Die Sache will's, sagte er ein über das andere Mal vor sich hin. Tränen traten in seine Augen, als sein Blick auf das schon verklärte Gesicht der Bürgerin Louise Marteau fiel. Die schenkte ihm keine Beachtung, sie bemerkte ihn nicht unter denen, die dazu berufen waren, über ihr Leben zu entscheiden. Silvain Parmentier krampfte die Hand um die Lehne der Bank, auf der er saß. Da trat Fouquier Tinville selbst in den Saal.

Das Murmeln der auf der Tribüne versammelten Pöbelmenge ließ nach. Der »Unermüdliche« verlas die Anklageschrift.

Sie gipfelte in den an die Geschworenen gerichteten Schuldfragen:

»Ist der Bürger Marie Josephe Théophile Tourlan schuldig, mit den Feinden der einen und unteilbaren Republik gemeinsame Sache gemacht, insonderheit mit ihnen in verbotener Unterhandlung gestanden zu haben? Ist er verdächtig, darauf bedacht gewesen zu sein, die Herrschaft der Tyrannen wieder einzuführen? ... Ist der Bürger Auguste Rodeur schuldig, dem Bürger Marie Josephe Théophile Tourlan in seinen Bestrebungen Vorschub geleistet, insonderheit ihn in Schutz genommen und gewarnt zu haben? ... Ist die Bürgerin Louise Marteau schuldig, den Bürger Auguste Rodeur in ihrem Zimmer in der Rue Saint Honoré versteckt zu haben, um ihn der Verhaftung durch die Beamten des Überwachungskomitees zu entziehen?«

Bis hierhin folgte Silvain Parmentier den Worten des Bürgers Fouquier Tinville. Alles weitere hörte er nicht. Was ging ihn das Los der andern 22 Angeklagten, die gleich diesen ihres Todesurteils harrten, auch weiter an?

»Ist die Bürgerin Louise Marteau schuldig?« ... Nur diese eine Frage brannte während der ganzen Verhandlung in seinem armen Gehirn. Nur diese eine Frage und die furchtbare Tatsache, daß er diese Frage mit einem »Ja« oder »Nein« zu beantworten hatte.

Wie immer in diesen Tagen, nahm die Verhandlung einen summarischen Verlauf, Fouquier Tinville hatte keine Zeit. Auf alle Fragen des Vorsitzenden hüllte sich Tourlan in eisiges Schweigen und auch Auguste Rodeur schien es mit seiner Würde unvereinbar zu halten, auf die Anschuldigungen, die man hier gegen ihn erhob, auch nur ein Wort zu erwidern.

Dann kam die Bürgerin Louise Marteau an die Reihe.

»Bekennen Sie sich schuldig, Bürgerin Louise Marteau, den Bürger Auguste Rodeur in Ihrer Kammer in der Rue Saint Honoré Unterschlupf gewährt zu haben, um ihn der Verhaftung durch die Beamten des Überwachungskomitees zu entziehen?« ... So fragte der Vorsitzende.

Und: »Ich bekenne mich dessen schuldig ...« erwiderte die Bürgerin Louise Marteau und ein Lächeln des Glückes überstrahlte bei diesem Bekenntnis, das ihr Ende auf dem Blutgerüst besiegelte, ihr Gesicht. Ihre schönen Augen hingen voll Stolz und Liebe an denen des neben ihr auf der Anklagebank sitzenden Dichters. Aber noch einmal öffnete sie die Lippen:

»Ich habe den Bürger Auguste Rodeur damals noch nicht gekannt. Ich wußte nicht, um welchen Vergehens willen man ihn verfolgte. Ich wußte nicht einmal, daß er verfolgt wurde. Aber ich habe ihn in meiner Kammer versteckt aus Mitleid, weil er jung und unglücklich war.«

Hohngelächter wurde auf der Tribüne laut.

Der Vorsitzende, der einen Moment den Anschein erweckte, als ob er das junge und schöne Mädchen retten wollte, fragte noch einmal:

»Ihr wußtet also nicht, Bürgerin Louise Marteau, daß der Bürger Auguste Rodeur unter dem Gesetz gegen die Verdächtigen stand, da ihr ihm Schutz in Eurer Kammer in der Rue Saint Honoré gewährtet?«

»Nein, das wußte ich nicht.«

Das Gelächter auf der Tribüne wurde lauter, es mischte sich mit dem Murren des Unwillens.

»Wir fordern ihren Kopf, Bürger Fouquier Tinville,« tönte es da aus den Reihen der Weiber, die man in cynischem Scherz die Strickerinnen Robespierres genannt hat.

Jetzt kam der Rest der Angeklagten an die Reihe.

Trotz der Eile Fouquier Tinvilles zog sich die Handlung Stunden und Stunden hin. Es waren noch 22 und die wollten alle gefragt sein und sollten alle ihre Antwort erteilen.

Silvain Parmentier sah und hörte nichts mehr. Wenn man ihn später gefragt hätte, was die Anklage den übrigen 22 zum Vorwurf machte, er hätte keine Rechenschaft darüber geben können. Er starrte auf die Bank der Angeklagten ... und das Bild der Bürgerin Louise Marteau wandelte sich vor seinen Augen in eine Erscheinung.

So etwas ähnliches wie das, was der Maler Aristide Poignard beim Anblick dieses Mädchens im Gefängnis von Saint Lazare empfunden, da sie ihm die Idee für sein Gemälde plötzlich eingegeben, vollzog sich jetzt auch im Inneren des Bürgers Silvain Parmentier. Louise wuchs in seinen Augen ins Ungemessene. Sie wurde in seiner Fantasie die Verkörperung der Freiheit selber, die als letztes Opfer auf dem Altar der Republik verbluten mußte. Er war, wie er das einst Chaumette zugeschworen hatte, zu dem letzten und höchsten Opfer bereit ... denn die Sache wollte es so!«

Der Greffier sammelte die Stimmen der Geschworenen in der Urne.

Das Verdikt fiel einstimmig wie immer in diesen Tagen. Es war ein »Schuldig« für sämtliche 25 Angeklagte.

Als der Vorsitzende dieses Urteil verkündete, brach der Beifall der Hyänen des Konvents wie ein tosender Sturm auf der Tribüne und dennoch wie auf Bestellung los.

Und noch einmal hörte Silvain Parmentier seinen Namen aus dem Munde Fouquier Tinvilles.

Es dauerte lange, bis er endlich begriffen hatte, um was es sich handelte.

Der »Unermüdliche« hatte ihn dazu bestimmt. als Zeuge des Gerichtshofs morgen der Exekution der soeben verurteilten 25 Opfer draußen an der Barrière du Tronc beizuwohnen.

Jetzt zitterte er, er, dessen Hand vorhin noch nicht gezittert hatte, da sie das Verdikt, das auf »Schuldig« lautete, in die Urne des sammelnden Greffiers gesenkt.

Der mit den Rutenbündeln der Republik und mit dem Standbild Marats, des Märtyrers, geschmückte Saal leerte sich. Man brachte die Verurteilten in einer von Nationalgardisten eskortierten Kolonne in ihre Kerker zurück.

Der »Rollende Sarg« nahm Auguste Rodeur und die Bürgerin Louise Marteau für die letzte Nacht ihres Lebens zusammen mit Tourlan und den übrigen 22 Verurteilten auf.

Und hier harrte Aristide Poignard, der Gefangenenaufseher in Saint Lazare, des Freundes. Hier und in keinem andern Raum, weil das Urteil des Revolutionstribunals in diesen Tagen nun einmal kein anderes sein konnte.

Schweigend und keine Träne in den Augen, schüttelten sich der Dichter und der Maler die Hand.

Tourlan sprach kein Wort. Es hatte den Anschein, als sei er bereits völlig dieser Erde entrückt, nicht einmal ein Auftrag an Poignard, von dem er doch wußte, daß er mit Rodeur befreundet war und von diesem nach Louveciennes gesandt würde, kam von seinen Lippen.

Die Bürgerin Louise Marteau schmiegte sich an Auguste Rodeur. Das Bild, das Aristide Poignard in Saint Lazare begonnen und an dem er in all' den schönen und furchtbaren Wochen des gemeinsamen Hoffens und Harrens und der schrecklichen Ungewißheit gemalt hatte, war noch nicht ganz vollendet. Aber es war beinahe fertig. Es galt nur noch ein paar Lichter aufzusetzen und zu diesem Zwecke hatte der Maler es heute mit in den »Rollenden Sarg« gebracht. Während ein Teil der Verurteilten betete und schluchzte, während Priester, die gleich den verdammten in Saint Lazare ihres Urteils harrten, die Beichte abnahmen und die Absolution erteilten, machte sich Aristide Poignard noch einmal fieberhaft ans Werk. Im Schein einer der trüben Laternen, die an der Wand des »Rollenden Sarges« brannten, führte er den Pinsel und die feierliche Erhabenheit dieser Todes- und Abschiedsstunde gaben seiner Hand noch nie gekannte Festigkeit und unerhörten Schwung. Er malte und malte. Auguste Rodeur und die Bürgerin Louise Marteau folgten voll Bewunderung seiner Arbeit und vergaßen fast die für immer dahinrollenden Stunden, die doch die letzten ihres jungen Lebens waren. Nur einmal sagte Louise:

»Die Prophezeiung deines Liedes, Bürger Auguste Rodeur, das, was du von der »jungen Gefangenen« sagtest, ist nun doch nicht in Erfüllung gegangen. Der Vogel, der des Finklers Garn entronnen, wird sich nun doch nicht befreit zum Licht der Sonne schwingen können.«

»Befreit doch, Bürgerin Louise Marteau, und zu einem höheren Lichte, als zu dem der Sonne,« sagte Auguste Rodeur in feierlichem Ernst.

Dann hauchte er einen Kuß auf die Stirn des Mädchens und nahm den feinen Haarpinsel aus der Hand Poignards.

»Darf ich mit Eurem Pinsel ein paar Verse an den Rand Eures Bildes schreiben, Poignard?« fragte er.

»Aber gern, Rodeur!«

»Sie fielen mir grade ein.«

Während sich nun Auguste Rodeur daran machte, seine Gedanken mit Hilfe der Tusche auf den weißen Rand der Leinwand niederzuschreiben, wandte Poignard an die Bürgerin Louise Marteau.

»Hat er das Heft bei sich, in das er seine letzten Gedichte geschrieben hat, in dem das Lied von ›Jungen Gefangenen‹ steht?«

»Er trägt es immer auf seiner Brust, Bürger Poignard,« lautete Louises Antwort.

Als Auguste Rodeur mit Schreiben zu Ende war, sagte Poignard einfach: »Gib mir das Heft mit deinen Liedern, Rodeur!«

»Noch nicht, Poignard, morgen in der Frühe, wenn mein Haar unter der Schere des Henkerknechtes fällt, dann ist es Zeit. Ich habe in dieser Nacht noch einiges in dieses Heft zu schreiben. Aber dann sollst du es haben, dann sollst du es aufbewahren und sollst es meinem Volke übermitteln, wenn für Frankreich, für deine und für meine Kunst die Tage der Auferstehung gekommen sind.«

»Das will ich, Rodeur!«

In einer Ecke des »Rollenden Sarges« unter der an der Wand brennenden Laterne ließ sich Auguste Rodeur nieder. Er schrieb und schrieb, Raum und Zeit schienen von ihm überwunden. Sein Genius trug ihn auf unzerbrechlichen Fittichen über die Qual der dem Tode vorangehenden Stunden dahin. Mit der Rechten schrieb er, seine Linke ruhte zwischen den zarten Fingern der Bürgerin Louise Marteau, die ihm von Zeit zu Zeit in sanftem Streicheln über das Haar fuhr. Und Poignard malte und malte an seinem Bilde, das der dem Tode verfallene Freund soeben mit Versen der Liebe gezeichnet hatte.

»Es ist, als dränge sich das ganze Leben in Minuten zusammen, Poignard,« sagte Auguste Rodeur. »Es ist, als flösse eine Kraft, die ich niemals kannte, aus dem Schauer dieser letzten Stunden, die Quellen öffnen sich in der Tiefe meines Inneren, von deren Vorhandensein ich in den Tagen der Freiheit und des Glückes nichts geahnt. Wie finde ich den Reim ... Er stützte den Kopf in die Hand und überlegte.

Wie finde ich ihn?

»Willst du lesen, Rodeur, vielleicht kann ich ...«

»Warte, warte ... so ... doch nein ... vielleicht wenn ich es lese ...«

Voll Begeisterung waren die Augen Louise Marteaus auf Auguste Rodeur gerichtet.

»So lies doch, lies,« bat Poignard.

Und von den Lippen des Dichters ging es wie der Seufzer des ersterbenden Herbstwindes durch den düsteren Raum des »Rollenden Sarges« von Saint Lazare und traf das Ohr seiner Mitverdammten.

Wie der letzte Strahl und der letzte Hauch
Am scheidenden Frühlingstag,
So sei auf dem Blutgerüste auch
Meiner Leier scheidender Schlag.
Vielleicht, eh' die Stunde den Lauf noch vollbracht
Auf dem glänzenden Zifferblatt,
Noch eh' sie die sechzig Schritte gemacht
Und ihr Ende geschlagen hat.
Senkt sich ewiger Schlaf auf mein Augenlid,
Noch eh' ich gefunden den Reim,
Den mein Geist schon am Schlusse der Strophe sieht,
Für den ich legte den Keim ...

Auguste Rodeur schwieg.

In dem »Rollenden Sarg« herrschte Grabesstille, denn alle drängten um den Dichter und lauschten den ewigen Versen, die ihm der Genius am Rande des schon geöffneten Grabes eingab.

Jetzt fuhr Auguste Rodeur fort und die um ihn Stehenden ergriff es mit eisigem Schauer:

Schon tritt in des grausigen Kerkers Nacht
Der Bote der rohen Gewalt,
von den Soldaten des Todes bewacht ...
hört Ihr es? ... Mein Name erschallt!« ...

* * *

Die schwere, mit Eisen beschlagene Tür des »Rollenden Sarges« tat sich auf.

Fackeln in den Händen, erschienen die Knechte des Henkers mit ihren Scheren, geleitet von zwei Nationalgardisten und dem Greffier des Revolutionstribunals.

Der verlas die Liste.

Auguste Rodeur ... fiel es in schweren und harten Silben von den Lippen des Gerichtsschreibers.

Marie Josèphe Théophile Tourlan. Louise Marteau ...

Da reichte Auguste Rodeur dem Freund das Heft mit dem unvollendeten Gedichte.

»Bringe es zusammen mit deinem Bilde nach Louveciennes, Freund, und vergiß nicht, was ich dir gesagt habe ... Hörst du ... zu Jacqueline nach Louveciennes!«

Bei diesen Worten trat auch Tourlan an den Maler heran.

»Auch von mir,« schluchzte er unter Tränen, »auch von mir, Bürger, noch einen Gruß in Louveciennes!«

Die Hände eines der Henkersknechte ergriffen in diesem Augenblick den Arm des alten Mannes. Sie zerrten den Hinkenden auf den in der Ecke des »Rollenden Sarges« stehenden Frisierstuhl ... und seine weißen Locken fielen ...

Dann fiel das dunkelbraune Haar Auguste Rodeurs ... und dann das herrliche der Bürgerin Louise Marteau ... und langsam das der 22 andern.

Schon war es Tag, als die Gehilfen des Scharfrichters die Toilette beendet hatten und die Karren in den Hof von Saint Lazare rollten. Aristide Poignard schloß Augusts Rodeur nach einmal in seine Arme. Die Bürgerin Louise Marteau an der Hand bestieg der Dichter das schmutzige Gefährt, vor das man einen lahmen Maulesel gespannt hatte. Das Tier kam kaum vorwärts, denn der Dichter und das Mädchen teilten diese letzte Karosse noch mit vier weiteren Verurteilten.

»Hott ... hott ... hott ...« schrie der Bürger in der blauen Bluse, die Peitsche in der Hand, und trieb so den ausgehungerten und matten Maulesel an.

Unwillig setzte der sich endlich in Bewegung.

Hand in Hand saßen Auguste Rodeur und die von ihm in unsterblichen Versen besungene Bürgerin Louise Marteau auf diesem Karren.

Und wie Auguste Rodeur so auf dem Henkerskarren durch den Schmutz von Paris fuhr, hinaus in den Faubourg Saint Antoine, um an der Barrière du Tronc für der Freiheit große Sache zu verbluten, traten die Verse eines größeren auf seine Lippen.

Er, der Dichter des »Hermes«, den er nicht vollendet hatte und den er niemals vollenden sollte, war nicht mehr hier in Paris. Er befand sich nicht mehr auf dem Karren des Henkers in diesen Tagen des Schreckens. Er stand im Geist auf den Zinnen Trojas. Er war Hektor und das Weib an seiner Seite hieß Andromache. Die Verse aus Racines Meisterwerk verklärten seine Todesstunde und er hatte die Verse der großen Tragödie im Geist noch nicht zu Ende gesprochen, als der Karren an den Stufen des Blutgerüstes hielt.

Den Kopf tief gebeugt, stieren Auges auf den mit Blut besudelten Boden der Barrière du Tronc niederblickend, stand hier ein Mann und wagte sich nicht zu rühren. Er hatte dicht vor den Stufen, die zu der Maschine hinauf führten, Posto gefaßt. So hatte es Fouquier Tinville gewollt.

Es war der Bürger Silvain Parmentier, der große Kämpfer für die Freiheit, der der Sache der Republik auch das letzte Opfer gebracht hatte.

Plötzlich fuhr er zusammen.

Eine leise Stimme traf sein Ohr.

»Ich verzeihe dir, Bürger Silvain Parmentier, ich verzeihe dir, denn ich liebe dich noch,« sprach diese Stimme.

Silvain blickte auf.

Sein Auge versenkte sich einen Moment in das Auge der Bürgerin Louise Marteau, die eben Hand in Hand mit dem Dichter Auguste Rodeur die Stufen des Blutgerüstes hinanstieg.

Die leuchtende Sonne des Thermidor lag über dem furchtbaren Bild. Ihr Glanz, der sich wie die Aureole der Freiheit um das Haupt des Dichters und um den seines Haarschmucks beraubten Kopf des Mädchens legte, blendete ihn. Er schloß die Augen in diesem Glanze, der der Freiheit letzte Opfer umflutete. Er konnte, er wollte nichts mehr sehen.

Auguste Rodeur und Louise Marteau hatten jetzt die Höhe des Blutgerüstes erreicht.

Einen Augenblick blieb der Dichter stehen, ihn schauderte, er wich einen Schritt zurück. Er stieß seinen Kopf wider einen Balken des Gerüstes. In wilder Verzweiflung kam es aus seinem Munde:

»Und doch, ich hatte was in meinem Kopf!«

Da packten ihn auch schon die eisernen und nackten Arme der Gehilfen und schnallten ihn auf das Brett.

Das Beil fiel.

In einem purpurroten Strahle verspritzte das Blut des Opfers, das das Gehirn eines Genies genährt hatte, des Opfers, das ein Unsterblicher Frankreichs und der Welt geworden wäre, wenn das Schicksal sein Leben nicht zufällig in die Tage des Schreckens gestellt hätte. Und in einem roten Rinnsal ergoß sich das Blut des Dichters über die Stufen des Schafotts und vermischte sich mit dem Blute der Narren und der Lumpe, die gestern an der gleichen Stelle für der Freiheit große Sache gefallen waren. Ein paar Tropfen dieses Blutes rannen über das wachsbleiche Gesicht der Bürgerin Louise Marteau.

Man ließ ihr nicht die Zeit, diese Tropfen abzutrocknen.

Ein gellender Schrei tönte über den Platz vor der Barrière du Tronc. Er kam aus dem Mund des Bürgers Silvain Parmentier in dem Augenblick, da das Haupt der Bürgerin Louise Marteau fiel.

Doch man achtete seiner nicht.

Noch 23 Opfer harrten der Vollstreckung ihres Urteils und für einen, der solches nicht mitanzusehen vermochte, hatte man einfach keine Zeit.

Silvain Parmentier wankte. Wie ein Betrunkener tappte er sich über den Platz vor der Barrière du Tronc durch die Gassen des Faubourg Saint Antoine. Er sah und hörte nichts mehr. Blutrot war es vor seinen Augen, rot der Himmel und rot die Gassen, alles untergetaucht in eine purpurene Wolke aus Nebel und Blut ...

Sie stand über Paris: Das Blutgericht des Thermidor!

Der Bürger Silvain Parmentier irrte zurück nach der Conciergerie in das Bureau des »Unermüdlichen«.

Und noch einmal knirschte er zwischen den Zähnen:

»Die Sache will's!«


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