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I.
Über den Volkscharakter im bairischen Hochland.

 

Der Bauer unserer baierischen Berge ist eine so typische und populäre Gestalt, daß man wohl selbst im fernsten Norden eine ungefähre Vorstellung davon besitzt.

Allein gleichwohl hat es mit dieser Bekanntschaft eine eigene Bewandtnis, bis zu einem gewissen Maße kennt ihn fast jeder, und über dies Maß hinaus fast niemand.

Der Grund hierfür liegt klar am Tage, denn der Bauer will eben nicht gekannt sein. Sowie er sich beobachtet fühlt, zieht er sich scheu zurück; jeder offenen Teilnahme an seinen Kulturzuständen stellt er ein heimliches Mißtrauen entgegen und wenn man ihn vollends für interessant erklärt, dann wird er gar zum vollendeten Grobian. In seinem Fassungsvermögen sind eben die Begriffe »interessant« und »interessiert« noch nicht getrennt, er kann es nicht begreifen, daß man sich mit ihm vertraulich mache, ohne etwas von ihm zu wollen und ihn schließlich zu überlisten.

Freilich ist dies Gefühl entschuldbar, wenn wir von einem Stande sprechen, der jahrhundertelang die Beute der privilegierten Stände war. Jetzt gehören diese Thatsachen, gottlob! der Vergangenheit, aber ihr Eindruck wirkt noch heute im Volke nach und bildet die unsichtbare Scheidewand, die der Bauer trotzig zwischen sein Wesen und alles Fremde stellt. Und so meine ich denn auch, es bleiben noch immer eine Menge seiner charakteristischen Züge übrig, die minder naheliegend oder zugänglich sind als die großen typischen Hauptkonturen, und die doch nicht minderes Interesse in Anspruch nehmen.

Den Schwerpunkt dieser Darstellung aber möchte ich in erster Reihe auf den Charakter legen und nicht bloß darauf, wie uns derselbe heute im alltäglichen Leben entgegentritt, sondern wie er sich historisch und innerlich allmählich gestaltet hat.

Ich möchte Ihnen zeigen, warum sich die eigenartigen Merkmale des oberbaierischen Volkscharakters gerade so entwickelt haben, wie sie gegenwärtig sind; auf welcher kulturgeschichtlichen Basis seine Fehler ruhen, aus welcher Wurzel seine Vorzüge herauswuchsen.

Und so mögen Sie mir denn zuerst einen kurzen Rückblick in vergangene Zeit gestatten, ehe ich zur heutigen, hellen Wirklichkeit gelange.

Bis zum Beginn unseres Jahrhunderts war, wie Sie dies alle wissen, die menschliche Gesellschaft wie der Staat nach ständischen Prinzipien gegliedert, d. h. es gab privilegierte Klassen, die im Besitz aller wirtschaftlichen und politischen Rechte standen, und daneben eine andere Klasse, welche diente, duldete und entbehrte. Das war der letzte Stand, das »arm mühselig Volk der Bauern«, wie man es schon zu den Zeiten Karls V. nannte.

Die ganze kulturgeschichtliche Entwicklung des Mittelalters bis ins neunzehnte Jahrhundert herein folgte diesem ständischen System, sie verteilte ihre Segnungen nicht nach dem Gesichtspunkt des Bedarfs, sondern auch sie privilegierte zwei Stände, die schon in jedem Sinne privilegiert waren; sie förderte den Adel, den Klerus und das Bürgertum der Städte auf Kosten des Bauernstandes. Dieser war für die Kulturgeschichte kein Zweck, sondern nichts als Mittel und Material, durch dessen rücksichtslose Vergeudung den andern um so reichere Lebensfülle erschlossen ward.

Freilich war diese Knebelung des Bauernstandes nicht etwa lokal, sie war ein allgemeines Leid in allen deutschen Landen, es war eben die Anschauung der Zeit. Im bairischen Hochland aber, von dem wir hier erzählen, trat sie nur besonders fühlbar hervor, sie hatte hier besonders befestigte Positionen und deshalb mußte ihr Einfluß auf den Charakter der Bevölkerung um so intensiver sein.

Betrachten wir die äußere Gliederung des schönen Landes, das zwischen Zugspitze und Watzmann liegt, so wie sie noch etwa vor achtzig Jahren war, dann haben wir eine feudale Fortifikationslinie, die kaum stärker gedacht werden kann.

Über die ganze Breite jenes Gebietes hin dehnte sich ein Gürtel der mächtigsten Klöster, die wie Etappen nebeneinander standen. Da war Steingaden, Ettal, Benediktbeuren, dann ging es ostwärts über Tegernsee nach Chiemsee und so weiter. Jedes von diesen Stiften besaß viele Meilen Land mit tausenden von Unterthanen.

Die zweite feste Linie, die das bairische Hochland in feudalem Geist beherrschte, war jene geschlossene Reihe von Ritterburgen und adeligen Schlössern, die sich vom Allgäu bis gegen Salzburg hin erstreckten; die Namen Schwangau, Werdenfels, Hohenburg, Waldeck, Falkenstein, Hohenaschau und Maxelrain sind dafür Zeugen. Und dazu kam als ein dritter Faktor, der die feudalen Interessen vertrat, die Bureaukratie, wenn wir dies moderne Wort für vergangene Verhältnisse gebrauchen dürfen. Die ganze Kette von sog. Pflegämtern, die teils im Namen des Landesherrn oder im Namen der Gutsherrschaft Justiz und Verwaltung übten, war von der Rechtsanschauung getragen, daß der Bauer nur ein Zubehör von Grund und Boden sei, und wenn man von dieser Anschauung ausging, wurde es leicht, ihn zu mißhandeln.

Es kann natürlich nicht meine Absicht sein, Ihnen hier das volle Bild jenes feudalen Regimes zu zeichnen und die Wirksamkeit jener drei gewaltigen Faktoren erschöpfend darzulegen: nur in knappen Zügen will ich einzelnes hervorheben, um Ihnen zu zeigen, wie tief diese Zustände auf den Charakter unseres Gebirgsvolkes wirken mußten.

Was die Klöster betraf, so waren die meisten derselben Benediktiner-Abteien. Es wäre thöricht, die immensen Verdienste, welche sie sich um Landeskultur, um Wissenschaft und Humanität erwarben, zu bestreiten, weil auch dieser Beruf, wie alles in der Welt, sein Ende fand; soviel aber steht unzweifelhaft fest, daß mit dem Beginn der Reformationszeit ein tiefer Umschwung in der Wirksamkeit jener großen Abteien eintrat. Auch sie mobilisierten und wenn sie bisher eine Heimstätte stiller, beschaulicher Forschungen waren, so wurden sie jetzt die großen Arsenale für den erbitterten konfessionellen Kampf. Und dazu gab es allerdings reiche Gelegenheit, denn nur wenige Forscher denken wohl heute daran, mit welcher Energie die Reformation vor Zeiten in unsere stillen Gebirgsthäler eindrang, besonders in der Gegend zwischen Isar und Inn, deren Bevölkerung durch Intelligenz hervorragt. Zu Miesbach, in dem großen Markte, waren im Jahre 1583 nur mehr 30 Zuhörer in der katholischen Predigt, scharenweise verließen die Klosterunterthanen von Weyarn, Dietramszell und Tegernsee die Heimat, und alle erdenklichen Mittel wurden angewandt, um die Verbleibenden zu unterwerfen. So zwang man auf der Paßstraße nach Achenthal jeden Fuhrmann zur Umkehr, der sich nicht als solider Katholik bekannte; den Bewohnern anderer Orte ward jahrelang jegliche Festlichkeit versagt, in Holzkirchen, dem Vorort des bairischen Hochlandes, ward ein Prälatenkonzil gehalten und zuletzt hatten natürlich jene recht, welche die Macht hatten. Mit einem Wort, die Entwickelungsgeschichte der oberbairischen Klöster ist auf den Charakter des oberbairischen Stammes von entscheidendstem Einfluß gewesen, der Hang zu phantastischem Wunderglauben, die gewisse Geheimthuerei, die der dortige Bauer noch heute hat, ward durch geistliche Einwirkung genährt; nicht minder eine gewisse Unselbständigkeit und Passivität, die lieber auf die Hilfe des Herrgotts wartet, statt sich selber zu helfen; denn wer den Charakter der bairischen Bergbewohner auch nur einigermaßen kennt, wird finden, daß alle diese Eigenschaften mit der kühnen, kräftigen Grundlage desselben im vollsten Widerspruche stehen, d. h. daß sie eben nicht in der normalen selbstverständigen Entwicklung seines Charakters lagen, sondern durch äußere Einwirkung in denselben hinein getragen wurden. Und diesen Einfluß übte niemand so sehr als die oberbairischen Klöster. Das ist der eine Faktor. Was die weltlichen Gutsherrn betraf, so sahen diese allerdings weniger auf das Herz, sondern nur auf den Seckel, sie okkupierten den Bauer vor allem von der finanziellen Seite. Aber dieser Druck war in seiner demoralisierenden Wirkung auf den Charakter kaum minder stark. Denn niemand wird das ideale, sittliche Element verkennen, das im Gefühl des freien Besitzes liegt; ihn zu erringen braucht es Fleiß und Thatkraft, ihn zu erhalten fordert nicht nur physische, sondern ebenso oft moralische Kraft, ihn seinen Kindern zu vererben ist Segen und Trost für den Scheidenden. All das fällt weg, wenn der Besitz nicht mehr ist als »Herrengunst«, wie der technische Ausdruck lautet; denn nur die freie Arbeit veredelt. Daß dem Bauer, der so schwer mit dem Fluche der Arbeit beladen war, der ideale Inhalt dieses Begriffs so völlig genommen wurde, indem er als Höriger dem Herren diente, das ist wohl die härteste von all den Ungerechtigkeiten, die die Feudalzeit ihm auferlegte. Und das ist auch von all den Mißverhältnissen, in denen er heranwuchs, dasjenige, was am tiefsten in die Gestaltung seines Charakters einschnitt; es ist die Wunde, deren Narbe er am wenigsten verschmerzt. Denn heute noch denkt der Bauer niedrig über die Arbeit, und während der Bürger mit einem gewissen Stolz auf seine Thätigkeit blickt, sieht der Bauer die Vornehmheit und das Wohlergehen im Nichtsthun. Die pfiffige Hinterlist, die unsere Oberländer bisweilen zeigen, die Habgier, die aus ihrer Unbeholfenheit manchmal hervorlugt, ist die Folge davon, daß sie so übermäßig ausgebeutet wurden und auf geradem Weg so schwer zu ihrem Rechte kamen.

Und nun noch das, was wir die Bureaukratie genannt; die Vielregiererei von Polizei und Verwaltung; sie nahm den letzten Rest von Freiheit, den der Bauer noch besaß, hinweg, indem sie selbst über die Schwelle seines Hauses drang; sie kontrollierte den Küchenzettel und schnitt ihm die Kleider auf den Leib zurecht; auch sie verfolgte das Prinzip, daß man die Leute um so gründlicher bevormunden müsse, je niedriger ihr Stand sei. Wenn Sie die Kleiderordnung betrachten, die Max I. im Jahre 1604 erließ, so ist den Bauern darin nicht nur der Stoff für ihre Gewänder, sondern sogar das Leder, das sie zu ihren Schuhen gebrauchen müssen, vorgeschrieben; wer andere Kleider trägt, dem werden sie konfisziert und der Schneider wird um den Macherlohn oder gar mit »Verlierung seines Handwerks« bestraft. In den Rechtsbüchern und Weistümern, die aus der Gegend von Reichenhall, Chiemsee oder dem Innthal erhalten sind, ist das hochsträfliche Tanzen und Springen, Juchezen und andere Insolentien »bei Vermeidung schwerer, unausbleiblicher Straf« verboten; man dekretierte, wieviel die Mahlzeit bei Familienfestlichkeiten kosten solle, und wieviel ein Unterthan beim Kegelschieben verlieren dürfe. Noch viel härter waren die Bestimmungen über die Verwertung der ländlichen Produkte, kein Malter Korn durfte ohne Genehmigung nach »auswärts« verkauft werden, um, wie es in den Verordnungen heißt, »die Aufschnellerei« der Preise zu verhüten.

Sie sehen, man gebot und verbot, ohne sich um die innern Gründe der Dinge zu kümmern; es war die Blütezeit des beschränkten Unterthanenverstandes und so lag denn die Originalität des Volkes gewissermaßen im ständigen Kampfe gegen die Obrigkeit. Der Inhalt solcher Verordnungen, wie ich sie Ihnen hier mitgeteilt, ward durch ihre Handhabung nicht gemildert, denn die Beamten suchten nicht selten das, was ihnen an Autorität gebrach, durch Brutalität zu ersetzen, wie wir ja noch heute in Baiern vereinzelte Ausläufer dieser Spielart besitzen. In welchem Maße der Bauer solchen Druck empfand, das zeigt am besten der alte Spruch, den uns Schmeller erhalten hat und worin einer, dem man mit dem Teufel droht, erwidert: »Hat der Bauer nit Teufels genug, An Amptleutten und am Pflug?«.

So können Sie sich leicht erklären, wie destruktiv diese allwissende Vormundschaft im Lauf der Jahrhunderte auf den Volkscharakter wirkte; jedes Kind verlangt ja, daß wir es nach seiner Eigenart erziehen, und ein Volksstamm soll nicht bloß mit bureaukratischem, sondern mit kulturgeschichtlichem Verstande erzogen werden. Der Mangel des letzteren, die prinzipielle Opposition gegen alles, was echt und originell war, mußte ihre Früchte tragen, und ich darf es hier wiederholen, nicht wenige Fehler, die wir jetzt im Charakter des bairischen Bergvolkes wahrnehmen, haben in diesem Regime allein ihre Quelle. Ihm fällt vor allem die Scheu zur Last, die der Bauer noch immer gegen alle öffentlichen Zwecke und Pflichten hat; es wird ihm ja jetzt noch förmlich gruselig, wenn es sich um Geschäfte handelt, bei denen das Gericht oder die Verwaltungsbehörde beteiligt ist. Der geringe Gemeinsinn, der unserm Gebirgsvolke unleugbar zukommt und der gewöhnlich kaum über die Grenzen der engsten Nachbarschaft hinausreicht, hat darin seine Wurzel, daß die Behörden, die eben das Gemeinwesen verkörpern, den Bauer allzeit mehr von ihrer Herrschsucht als ihrem Wohlwollen überzeugt haben. Nur deshalb ist er so schwer zu haben, wo es sich um Leistungen für das Ganze handelt, ja der Begriff des Ganzen ist ihm geradezu verschlossen geblieben.

Ich habe versucht, Ihnen bisher in großen Umrissen ein Bild jener Kulturzustände zu geben, in denen der frühere Bewohner unserer Berge heranwuchs. Der schwerere Teil meiner Aufgabe ist damit erfüllt, ich habe gewissermaßen, wenn ich so sagen darf, die tiefen Schatten untermalt, die unerläßlich waren, für dies Bild unerläßlich, um gegen den Charakter unseres heutigen Bauers gerecht zu sein, und Gerechtigkeit ist schließlich doch die erste Pflicht einer jeden Charakteristik.

Betrachten wir ihn jetzt in der vollen, helleren Wirklichkeit, wie er unter diesen Einflüssen oder besser trotz derselben geworden ist. Man könnte sich da vor allem wundern, daß ihm überhaupt noch heitere und helle Seiten blieben, daß nicht alles Anziehende in seinem Wesen erdrückt worden sei. Bei dem Flachlandbauer von Altbaiern ist dies auch mannigfach der Fall; der Bauer im Hochland aber hatte eine Quelle, die sein Wesen trotz aller Peinigung immer frisch und gesund erhielt, und das war die großartige Natur. Sie war es, die den Charakter unseres Gebirgsvolkes gerettet hat; sie war es, die ihm immer wieder den Gedanken der Freiheit zurückgab, den man ihm mit tausend Händen raubte, sie war sein stiller Bundesgenosse gegen die Übermacht der Herren. Der Fels, über den er hinschritt, ließ etwas von seiner eigenen Unbeugsamkeit zurück, der Bergquell, aus dem er trank, etwas von seiner Frische, die Tanne, unter der er schlief, etwas von ihrem unverwüstlichen Grün. Und so blickte er, wenn er nur durchs Fenster sah, ins Große; seine Arbeit wies ihn von selbst ins Freie; wo er Hand anlegte, war es eine Bethätigung der vollen Kraft und alles rund um ihn war schön. Darin besaß er das stille geheime Gegengewicht für die lauten zerstörenden Einflüsse, die seinen Charakter bedrängten: die Natur war gleichsam die milde Mutter, die das wieder heimlich gut machte, was der Geist der Zeit (der eiserne Vater), an seiner Erziehung sündigte.

Treten wir nun in das Haus des heutigen Bauers ein, etwa in Tegernsee, in Schliers oder in Fischbachau. Es ist Feierabend und der Alte sitzt vor dem mächtigen Tisch und schmaucht das geschnitzte Pfeifchen, während die letzten Lichter durchs niedere Fenster fallen. Draußen im Stalle hört man es noch rumoren, bis die Dirne den Kalben das frischgemähte, duftige Futter gereicht hat.

»Ja, was ist dös, Du kimmst doher?« ruft der Alte erstaunt, wenn ich nun plötzlich durch die Thüre trete – aber er erhebt sich nicht; er streckt mir die derbe Hand entgegen und wartet bis ich vor ihm stehe, um sie zu ergreifen.

In dieser Scene spiegelt sich der ganze Wandel der Zeit. Der Mann ist noch heute Bauer wie es seine Väter hier vor 100 Jahren waren, aber dies Wort ist eben ein anderes geworden; er hat noch heute ein ganz spezifisches, fast exklusives Standesbewußtsein, aber dieser bewußte Gegensatz thut ihm nicht mehr wehe, er scheidet nicht mehr Dienen und Herrschen; das niedrige, das schmerzliche ist ausgetilgt. Nach innen in seinem Haushalt und seinem Wirkungskreise ist der Name »Bauer« geradezu ein Ehrenname, er wird, wenn ich so sagen soll, als Titel gebraucht, ganz ähnlich wie der Gewerbsmann in seinem Hause »Meister« genannt wird. Nie sagt die Frau »mein Mann«, sondern nur »mein Bauer«, wenn sie mit dritten von ihm spricht; und obwohl er selber ebenso Hand anlegt, wie der letzte Knecht, so ist doch ein himmelweiter Unterschied zwischen diesem und jenem. Er selber ist ein kleiner Souverän geworden in seinem Eigentum, der aristokratische Zug, der ursprünglich in seinem Wesen steckt, ist wieder freigegeben, er hat seine Almen in den Bergen, wo er unumschränkt gebietet. Wälder und Felsen sind sein, und wenn es ihm nach Ehren gelüstet, dann stehen ihm auch diese in Fülle bereit. Er kann Bürgermeister, Geschworener und Deputierter werden, ja sogar im Reichstag dem Fürsten Bismarck widersprechen, falls dieser sein Oberbairisch versteht. So findet denn der Bauer jetzt in seinem häuslichen Wirkungskreise eine Befriedigung, ja einen Stolz, der ihm früher fehlen mußte, und nur nach außen tritt noch bisweilen ein Nachklang an seine einstige mißachtete Stellung hervor, in dem Mißtrauen, das er dem Fremden entgegenbringt in dem Verdachte, daß er von diesem verspottet oder mißbraucht wird. Aber die Fremden fassen es eben auch nicht immer richtig an, gewöhnlich entspricht dann ein Übermut dem andern und da der Bauer sich hier auf seinem eigenen Boden fühlt, zieht der Fremde selbstverständlich den kürzeren. Für solche Figuren hat der Bauer das pikierte Wort »die Herrischen«, »die Stadtfrack«, und mit ihnen steht er noch heutzutage auf Kriegsfuß. Dies Selbstgefühl, dies starke Bewußtsein seiner Persönlichkeit, wie's jetzt als ein Charakterzug unseres Gebirgsbauern feststeht, erscheint aber nicht bloß als die Folge seiner befreiten sozialen Stellung, sondern es liegt tiefer, es ruht in der ganzen geistigen und körperlichen Begabung des Stammes.

Ich habe schon vorher hingewiesen, daß der Bauer diesen Zug vor allem der gewaltigen Bergesnatur und seiner Beschäftigung im Freien dankt. Wenn in der Kaiserklause z. B. die Trift beginnt und tausend Klafter vor dem Wöhr des aufgestauten Baches toben, und wenn dann der keckste unter den Holzknechten hinabsteigt, um die Schleußen zu öffnen, daß die Stämme wie rasend herunterjagen, das ist ein Wagestück, vor dem mir graut, so oft ich es auch gesehen. Und doch ist es der tägliche Beruf; das selbstverständliche Handwerk ist es, wenn der Jäger auf dem schmalen Grat über den Abgrund klettert, wenn der Holzknecht zum letzten Streiche die Axt erhebt. Da wird das Gewerk zum Kampfe. Wer jemals einen mächtigen Bergwaldstamm hat fällen sehen, wer es weiß, wie die grüne Fichte sich zornig zurückbeugt, wie ihr goldenes Blut aus klaffender Wunde träufelt, dem wird es zu Mute sein, als ob der angegriffene Baum lebendig würde in seiner letzten Stunde, als ob er sich zur Wehre setzte und fühlte, was ihm begegnet. Seine grünen Arme sind ohnmächtig vor dem bewaffneten Arm des Menschen, stöhnend bricht er nieder, doch seine Kraft giebt er dem zum Erbe, der ihn erschlagen hat. So kommt jener baumstarke Wuchs und jener kühne Sinn in diese Gestalten, die mit offener Brust und schallender Axt durch die Berge gehen. Wäre der Bauer im bairischen Hochland nur auf seine häusliche Arbeit beschränkt, so würde jene Kühnheit gar bald sich abschwächen, besonders seit er auch äußerlich in leidlichem Wohlstande lebt; aber gerade dieser Bestandteil seines Schaffens: die Almen, die Jägerei, die Holzarbeit vermitteln den Zusammenhang der Bewohner mit dem rauhen ursprünglichen Element des Waldes, in ihnen liegt die verjüngende, fast möchte ich sagen, die verwildernde Kraft, die das Volk der Berge zum Bergvolk macht.

Der Bauer nennt das, was wir hier so eingehend auseinandersetzen, mit einem kurzen Wort »die Schneid«. »Schneid haben« ist das erste und letzte Erfordernis, wenn man im Hochgebirge etwas gelten will, »wenn d' kein Schneid nit hast, na bist nit g'schatzt«, kann man dort auf allen Wegen hören. Sie wird höher als Geld und Gut geachtet, wie dies aus manchen Volksliedern durchklingt.

Und's Dirndl hat g'sagt:
Was bist für einer,
Balst kei schneidiger bist
Is mir lieber keiner.

Der kecke Bursch aber erwidert:

Und der Teufel hat Hörndl
Und i hab' mei Deandl
Und dös Deandl mag mi'
Weil i a Hauptspitzbua bi'.

Der ganze jubilierende Sangeston, der durch dies Volksleben hinzieht, wird von diesem Frohgefühl der Kraft und der Kühnheit getragen. Aus ihm quellen jene Jodler, die durch den einsamen Wald schallen, und die übermütigen Trutzgesänge beim Gelag.

Dieser Zug des Mutes ist aber nicht nur den Männern eigen, sondern auch den Kindern und den Alten, ja selbst den Weibern, denn andernfalls stünde es schlimm um die Sennerinnen auf mancher einsamen Alm.

Da ging aus der Valepp einmal der Forstgehilfe, der besonders scharf nach den Wilddieben sah, für einige Tage in die Stadt und sagte scherzend zu dem kleinen siebenjährigen Försterssohn: »Jetzt mußt halt Du außigehen, Seppei, auf die Wildschützen, bis ich wieder heimkomm.« Schon am Abend fehlte der kleine Bursch und nur mit höchster Mühe fand man ihn nach 24 Stunden hoch in den Bergen auf einer Stelle, die als Fährte der Wilddiebe allgemein bekannt war. Die kleine Flinte lag neben ihm, er selber war vor Hunger und Müdigkeit eingeschlafen, aber als man ihn mit Vorwürfen weckte, erwiderte er trotzig: »Is ja der G'hilf nit da, wer sollt' dann die Wilddieb die Lumpen derschießen, wenn i nit außigeh?«

Daß bei dieser Kühnheit auch Exzesse sehr nahe liegen, ist wohl begreiflich. Wir alle haben ja die Fehler unserer Tugenden und der Naturmensch, der »Ungebildete«, muß sie in doppeltem Maße haben, weil es ja erst die Aufgabe der Bildung ist, diese rauhe Kehrseite von uns abzulösen, ohne daß uns die andere Seite, die Tugend, darüber verloren geht.

So finden wir, daß diese Kühnheit nicht selten in helle Rauflust auflodert; das Sprichwort aus Bairisch-Zell klingt schlimm genug »Heut is lustig, heut muß noch einer hin werden«. Ebenso erwächst daraus ein gewisser Hang zur Widersetzlichkeit, den die Behörden oft mehr steigern als mildern, und eine Rachsucht, die sich mit und ohne Waffen Luft macht. Denn ein Mensch, der soviel Kraft und Mut besitzt, verzeiht eben schwerer, als jener, dem beides fehlt.

Eine der fürchterlichsten Raufereien, die ich jemals angesehen, führte ein 86jähriger Mann in Egern gegen seine 83jährige Ehehälfte, weil er meinte, daß diese den 79jährigen Knecht lieber habe als ihn.

Ebenso scheint es begreiflich, daß bei solchen Anlagen der Bauer im bairischen Gebirge eigentlich mehr zu freiem Schweifen, als zu häuslichem Schaffen geartet sei, und dennoch hängt er an seinem Hause mit einer Pietät, die etwas Rührendes an sich hat. Er nennt es seine »Heimat«, das einzelne Gehöfte, nicht die Gegend wird so genannt, und »seine Heimat verkaufen« galt, bis in die allerletzte Zeit, für wenig ehrenvoll.

Schon der Bau des Hauses, die schmucken Altanen, die Blumen vor dem Fenster verraten, daß es dem Besitzer lieb ist, und wenn ich Zeit hätte, Sie nun in den einzelnen Gelassen herumzuführen, so könnten wir aus Stil und Einrichtung so manchen charakteristischen Zug gewinnen. Die meisten Häuser im bairischen Gebirg sind Einödhöfe, es entspricht das dem stark individuellen Geiste der Bewohner, während sie z. B. in Franken, wo der Korporationsgeist die Oberhand hat, zu Gassen gereiht aneinander stehn. »Vor an Einöd' soll man den Hut abthun,« lautet ein uraltes Sprichwort, das gewissermaßen den geweihten Frieden dieser einsamen Stätte ausdrückt. Der Hausname geht auch auf den Bewohner über und wenn Sie sich z. B. nach dem Eigentümer des Westerhofs erkundigen, so werden Sie hören: »Hansei« heißt er, »Widmann« schreibt er sich und der »Westerhofer« ist er. – In der Skala dieser Begriffe können Sie die Bedeutung des bäuerlichen Hauses am besten herausfühlen; der Besitzer identifiziert sich geradezu mit demselben. Nach seinem Hause wird er bei Freund und Feind genannt, der Schreibname hat wenig Belang, da der Bauer sich eben sehr selten »schreibt«, er ist nur die offizielle Marke, womit der Alte im Steuerbuch und der Junge in den Kompagnielisten steht. Wie hoch das Haus gehalten wird, ist ferner daraus erkennbar, daß es für unschicklich gilt, einen Fremden vor demselben zu empfangen; »gehts eini, gehts eini« ist das erste Wort, das der Bauer spricht, wenn wir ihn unter der Thüre begrüßt haben, und wir Luftschnapper sind oft in Verzweiflung, daß man uns an den schönsten Nachmittagen so etwas zumutet. Auch er selber bringt den Sonntag in der Stube zu, sofern er daheim ist. Obwohl das Haus nur an den ältesten Sohn kommt, um die Zersplitterung des Besitzes zu vermeiden, so betrachten es doch auch die übrigen Geschwister, die sich in der Nachbarschaft ansiedeln oder verdingen, noch immer als ihren Mittelpunkt und behalten dort zeitlebens ein Unterstandsrecht, das bei jeder Gutsübergabe ausdrücklich verbrieft wird.

Das Familienleben und die Arbeit des Bauern, auf die wir hier von selber kommen, weil sie gewissermaßen die Seele und den lebendigen Inhalt des Hauses bildet, das sind wohl jene zwei Gebiete, auf denen der Druck der feudalen Vergangenheit noch am meisten fühlbar wird, allein trotz aller Mißstände, die wir hier nicht leugnen wollen, ist doch das Familienleben im bairischen Hochlande immer noch viel glücklicher und humaner als wir Städter es in der Regel glauben, es regiert doch vielmehr die Güte als die Strenge und ebenso müssen wir bedenken, wenn uns einzelne Maßregeln herzlos oder kaltsinnig erscheinen, daß der Naturmensch eben die Dinge doch weit mehr aus dem natürlichen Gesichtspunkt, als mit jener sensitiven Pietät betrachtet, die wir erst unserer Erziehung verdanken.

Der Bauer ist sich dessen selbst bewußt, es sagte mir ein alter Mann in Tegernsee nach dem Tode meines Vaters die schönen und merkwürdigen Worte: »O mein Gott, thuts unser einem so weh, wie muß man erst bei euch ein solches Unglück spüren, wo die Leut' so viel ein feiners Gemüt haben. Ein Bauer hat ja überall nur den halben Schmerz.«

Das heißt, er hat mehr Stoicismus, mehr Resignation als wir; er steht mit seiner Lebensweise dem natürlichen Werden und Vergehen so unmittelbar gegenüber, daß ihm die Grausamkeit, die darin liegt, minder hart und die Notwendigkeit weit versöhnlicher erscheint. Ihm sterben die Eltern oder alte Freunde weg, wie er alljährlich die welken Blätter im Herbste fallen sieht, er empört sich nicht gegen das Verhängnis; denn er ist aufgewachsen im Bannkreis dieser Gesetze. Und trotz alledem tritt dennoch bei unseren Oberländern das Empfindungsleben in seltener Weise hervor, freilich nicht für jeden und vor jedermann, aber doch für den, der es zu finden weiß. Ich will Sie nur an die wunderschöne Zeile im Volkslied erinnern, die da lautet:

Und wenn ich amal stirb,
Brauch i Weihbrunn kein(en),
Denn mein Grab dös wird naß
Von mein' Dirndl sein Wein(en).

Wo eine stille Menschenthräne soviel gilt, daß sie höher steht als aller feierliche Segen, da muß doch das Herz eines tiefen und schönen Empfindens fähig sein und diese Fähigkeit habe ich immer für einen der besten Züge im Charakter unseres bairischen Hochlands gehalten.

Sie ist verstümmelt worden durch unbarmherzige Zeiten, sie verbirgt sich scheu vor fremden Blicken, aber sie ist da, das kann ich Ihnen verbürgen. In hundert kleinen Zügen des alltäglichen Lebens giebt sich diese Gemütskraft, wie ich es nennen möchte, kund, in der leidenschaftlichen Liebe zur Heimat, in der innigen, fast märchenhaften Beziehung der Bergbewohner zur Tierwelt, in Brauch und Sitte, in Wort und Lied. Wie geschäftig spricht so eine Sennerin mit ihren Kalben, wie ist sie bekümmert, wenn ihnen ein Leid widerfährt, wie genau kennt der Hirt jedes Stück seiner Herde; nicht bloß dem Äußern nach, sondern in seinem Charakter, in seinen Vorzügen und Fehlern. Jener urtiefe deutsche Zug, der die Tierseele gleichsam persönlich faßt und seine menschlichen Eigenschaften auf dieselbe überträgt, ist vielleicht nirgends so sehr ausgebildet, wie beim oberbairischen Bauer.

Ich erinnere mich wohl, wie ich einmal vor einem Pfluge stehen blieb und wie der Bauer, der hinter demselben herging, ganz untröstlich war, weil er versicherte: »Dös Roß hat halt koa G'müt. Es hat koan Verdruß, wenn i ihm mit der Goasel kimm, und koa Freud, wenn's in der Fruah sein Habern sieht, es thut sei Sach schön staad dahin, aber 's hat halt koa G'müt.«

Ich mache dies Beispiel ausdrücklich namhaft, weil man gerade aus dem Vermissen einer Eigenschaft am sichersten auf ihr gewöhnliches Vorhandensein, auf das Bedürfnis nach derselben schließen kann.

Ebenso bedeutend aber als die Kraft des Gemütes ist bei unserem oberländischen Volke der scharfe Verstand entwickelt. Wer hier genauer betrachtet, wird eine doppelte Richtung in seiner Denkart wahrnehmen, zwei Züge, die sich scheinbar widersprechen und die doch dadurch allein schon, daß sie in ein und demselben Stamme vereinigt sind, den geistigen Reichtum desselben darthun. Denn unbestreitbar hat der Bauer in unseren bairischen Bergen zunächst eine tief beschauliche Natur, er liebt es, die Gedanken, die ihn beschäftigen, nachdenklich auszuspinnen; man könnte sagen zu philosophieren. Aber so sehr ihn sein Hang zu dieser Art von Betrachtung führt, wo er sich gehen lassen kann, ebenso epigrammatisch spitz, so schlagfertig rasch ist sein Gedanke, sobald ihm ein anderer Gedanke gegenübertritt, sobald seine Rede zur Gegenrede wird.

Jetzt ham s' ja g'sagt, daß d'heiratst, Hansei, (ruft einer dem andern zu) was is denn für eine, is die große von Schliers, oder die kleine von Tegernsee? O Jesses na, a ganz a kloane is, (erwiderte der andere) weißt von zwei Übel –

»No,« sag i, »Sepp, jetzt heiratst ja,
Was nimmst denn na für oane?
Du, da wirst schaugn, Saperadi –
A große oder a kloane?«

»›A kloane,‹« sagt er, hat er g'sagt,
»›Von Schliers is s' umikemma,
Denn von zwoa Übel muaß ma' do'
Allweil dös – kloaner' nehma.‹«

In Schliersee sollte ich auch einmal einem Mädchen raten, um das ein reicher Bauer geworben hatte, »a recht a warmer,« wie der Volksausdruck lautet. Haus und Hof war glänzend bestellt, aber der Mann selber war alt und unbeliebt, und bedenklich schüttelte das schöne Lisei den Kopf. »Ja,« sprach sie nach langem Bedenken, »ja, die Kapellen wär scho recht, aber der Heilige taugt mir nit.« Und richtig, noch am selben Tag erhielt der »Heilige« einen Korb.

Ein anderer bat um einen Kuß und als das Mädchen Einwände erhob, erwiderte er lachend: »Sei nur staad, ich mach schon die Augen zu, damit's niemand sieht.«

Nach alledem läßt sich denn wohl behaupten, daß von den vielen ungerechten Vorwürfen, die man dem Bauer macht, keiner wertloser ist, als wenn man etwa in unserem bairischen Hochland vom »dummen Bauer« sprechen wollte. Im Gegenteil, er ist hervorragend geistig begabt, und nicht sein Verstand, sondern nur das Gebiet, in welchem derselbe thätig wird, ist beschränkt; dieselbe Abgeschlossenheit, die seinem Denken die originelle Frische gegeben hat, gab ihm naturnotwendig auch eine stoffliche Enge. Andere Grenzen seines Verstandes aber liegen dann im Charakter, in dem Eigensinn, von dem seine zähe trotzige Natur nicht freizusprechen ist; denn oft genug handelt es sich im Leben ja überhaupt nicht darum, ob man etwas begreifen kann, sondern ob man es begreifen will. So äußerte sich auf dem Bahnhofe in Holzkirchen ein Bauer, der den Zug versäumt hatte, sehr ergrimmt über das Institut der Eisenbahnen und sprach etwa folgendermaßen:

»›Oho, pressiert's heunt gar a so,
Ist heunt dös Fahr'n so raar?
Heunt treibt s' bald, die Eisenbahn,
Als ob s' an Eilwag'n waar.‹«

So geben Sie mir wohl ohne Zweifel recht, wenn ich den Intellekt unserer oberbairischen Bauern auf eine hohe Stufe stelle, aber freilich, nicht jeder versteht diesen Verstand, denn glauben Sie mir, auch er ist individuell und der Scharfsinn, der zwischen felsigem Gestein emporwächst, ist etwas Grundverschiedenes von jenem Verstande, der sich zwischen den steinernen Mauern großer Städte entwickelt. Aber gerade dieser Gegensatz bildet ja den Reiz. Das aber, was den eigentlichen Vorzug und die kulturgeschichtliche Überlegenheit, wenn ich es so nennen darf, unseres oberbairischen Volksstammes ausmacht, das ist nicht das eine und das andere allein, sondern es ist das beneidenswerte Gleichgewicht, in dem seine inneren Kräfte stehen, – seine geistige Begabung und sein Gemüt. Dies giebt seinem Wesen jene geschlossene Einheit und Sicherheit und seinem kulturgeschichtlichen Typus jenes Ebenmaß, das vielleicht der innerste und unbewußte Grund für die Popularität ist, die er gefunden.

Und so steht denn dies Volk der Berge vor uns und vor der neuen Zeit mit ihrer großartigen Gestaltung, die von allen Seiten auf dasselbe eindringt. Wie wandelt sich nun dies Bild! Denn wenn bis ins vorige Jahrhundert alles Streben darauf gerichtet schien, den Bauer aus dem Bereiche der Kultur hinauszudrängen, zu erdrücken, so fühlen wir jetzt überall das Streben ihn empor zu bringen, ihn hereinzuziehen in den Kreis der heutigen Entwicklung.

Damals war sein Leben ein Kampf gegen den negativen Geist der Zeit, die ihm alles nahm und alles versagte und gegen den er seine Eigenart (wenn auch nur mit passivem Widerstand) verteidigte, jetzt ist es ein Kampf mit der Fülle positiver Errungenschaften, womit die Gegenwart ihn überschüttet und denen er geteilten Herzens gegenüber steht, halb wieder seine Eigenart verteidigend gegen das Neue, halb dennoch mit dem Drange erfüllt nachzukommen und sich der Gegenwart zu assimilieren.

Und das ist schwer, wenn jemand plötzlich Rechte üben soll, der beinahe rechtlos heranwuchs, wenn jemand Pflichten erfüllen soll, der nie zu freiem Pflichtgefühl, sondern nur zum Ertragen des Zwanges erzogen ward. Das ist der einfache und natürliche Grund, warum es keinem anderen Stande so schwer wird, sich in den Geist der neuen Zeit hineinzufinden, als eben dem Bauer; er ist nicht mehr die alte in sich geschlossene Gestalt, sondern wie sein äußeres Dasein, so ist sein inneres Wesen in der Entwicklung, in einem tiefen Umschwung begriffen.

Unter den großen Faktoren, die in dieser Richtung zur Geltung kommen, im Dienste der neuen Zeit, steht die Schule obenan und vielleicht mit keiner von den vielen Neuerungen sind die Leute selber so sehr einverstanden. Sie kennen das Schlagwort nicht, aber sie haben ein unbewußtes Gefühl dafür, daß Bildung Macht ist, daß hier die schlimmste Kluft liegt, die sie von den übrigen Lebensständen trennt. Gestatten Sie mir, daß ich auch hier Ihnen ein weniges von meinen eigenen Erlebnissen erzähle.

Ich kenne eine alte Bauersfrau, von der ich viel gelernt habe, ohne daß sie es weiß, und mit der ich oft genug vom Lernen sprach. Sie ist nahe an den Siebzigen, aber noch heute ist sie untröstlich, daß sie dazumal nur das Lesen und nicht auch Schreiben lernen durfte, weil das zu teuer war. »Zwoa Kreuzer hätt's im Monat mehra kost« – sprach sie mit treuherziger Miene – »aber mei Vada hat allwei g'sagt, woar schon schad um dös Heidengeld wegen der bissel Schreiberei! D'heili Schrift kann's lesen und zum Schreiben kimmt bei so an jungen Diendl so nix für.« »Ja, mein Gott« – fügte die Alte seufzend bei – »wenn ma sei Lebtag lang bloß a jungs Dirndl bleibet.« An einem Sonntagmorgen (im vorigen Herbste) ging ich den Söllbach entlang und immer tiefer kam ich ins kühle Dickicht, in die lautlose Einsamkeit des Waldes. Da that sich eine Lichtung auf. Unter Tannenzweigen versteckt, aus rohem Gebälk gezimmert, lag eine Hütte dort, wie sie die Holzknechte wohl die Woche über bewohnen, aber heute war ja Sonntag, man sah keine Spur eines menschlichen Wesens. Da hörte ich mit einemmale eine mächtige Stimme rufen: »Post Kaltenberg«, »Herrgott, jetzt hab i's K vergessen« und eine andere Stimme rief: »So, na' geht's guat, denn i woaß auch nimmer wie ma's macht.« Verdutzt sah ich um mich und sah nun auf der anderen Seite der Hütte zwei Holzknechte sitzen, die sich mühten, gemeinsam einen Brief zuwege zu bringen. Er sollte in die Heimat des einen gehen, nach Post Kaltenberg, Tirol. Es war ein unendlich ergötzliches Bild; auf der roh gezimmerten Bank stand die Ruine eines zerbrochenen Maßkruges als Tintenfaß, an einem brennenden Holzscheit mit einem Groschenstück hatten sie den Brief gesiegelt, seit 8 Uhr morgens dauerte bereits die Arbeit.

Aber nun kam erst noch das schlimmste, nun kam die Adresse und das fatale K des Dorfes Kaltenberg.

Ich war natürlich der Retter in der Not und als ich das gefürchtete Hindernis so mühelos nahm, da waren die beiden ganz verblüfft, »was man nit all's lernen kann.«

Dieser vielsagende Spruch ward nun das Thema unserer weiteren Unterhaltung, an die ich mit Vergnügen denke; der eine der beiden Gelehrten stammte aus Bairisch-Zell, der andere, wie sich erraten läßt, aus Kaltenberg in Tirol. »Ha, gel dös sehest mir auch nit an,« sprach derselbe lachend, »daß i amal auf und auf der erst g'wen bin in meiner Schul, aber mein Gott, was is dös für a Schulzeit g'wen! In der Fruh is der Pfarrer komma und in Nachmittag is er komma, wir hab'n ihn all recht gern g'habt, aber schaugts, vom Katakismus allein kann ma heut zu Tag nit leben.«

Offenbar ist die Wißbegier, der Trieb zu lernen, oder wie man es nun nennen mag, auch in den untersten Schichten des oberbairischen Volkes stark gewachsen, seit die Zeit einen rascheren Pulsschlag gewann, seit unsere Geschichte so thatenreich und die Reibung der Gegensätze so brennend ward. Die Fühlung mit diesen ist überhaupt unendlich lebhafter als man sich in der Regel denkt; wer möchte es glauben, daß in Tegernsee ein Eingeborner sich damit beschäftigt hat, Liebigs Porträt in Holz zu schnitzeln, daß ein Bauer von Gmund, der als Zitherspieler bekannt ist, einen von ihm erdachten Marsch nach Versailles an Moltke schickt, daß der Bürgermeister von Wiessee eine Stunde lang hinter dem Kirschbaum steht, um auf Döllinger zu warten, der aus dem Nachbarhause hervorkommen muß. Auch das sind Zeichen der Zeit, die deutlicher sprechen, als lange Sätze.

Ein zweites Moment, das auf die Umgestaltung der Verhältnisse im bairischen Hochlande tiefen Einfluß übt, wenn auch oft in recht zweischneidigem Sinne, ist der wachsende Handel und Verkehr. Die Energie, womit sich dieser verbreitet, ist kaum zu beschreiben; wenn früher der Bauer zu Markte zog und seine Erzeugnisse feil hielt, so kommen jetzt die Händler zu ihm ins Haus und kaufen auf Stunden weit alle Vorräte auf. Das wäre ja an sich nicht so schlimm, aber schlimmer ist es, daß die Tendenz immer sichtbarer wird, auch den ganzen Grundbesitz in den Bereich der Spekulation hineinzuziehen und zu mobilisieren. Leider kommt dieser Rührigkeit der Gutszertrümmerer auch ein gewisser geschäftiger Sinn des Bauers entgegen; er, der Jahrhunderte lang von allen übrigen Ständen ausgebeutet und übervorteilt ward, hat nun seine doppelte Freude daran, wenn er mitunter hoch im Preise steht, daß nun auch an ihn die Reihe kommt, gelegentlich Gewinn zu machen. Wär' der Gewinn nur nicht so häufig Schein!

Die dritte große Macht der Zeit, die ähnlich wie das Lernen und das Gewinnen in die ruhige Stabilität des bäuerlichen Lebens eingreift und umgestaltend auf dasselbe wirkt, ist die politische Bewegung unserer Tage. Welche Fülle von Ideen, von Rechten und Pflichten drängt sich da in den stillen Gang ländlicher Arbeit ein, mit denen der Bauer sich nun auf einmal abfinden soll; hier wird es ihm offenbar am schwersten, sich in die Neuzeit einzuleben.

Es ist dies auch ganz natürlich, denn in keiner andern Beziehung war die Entwicklung der Zeit so rasch, kein anderes Gebiet steht begrifflich so hoch wie dieses, wo es sich nur um große gemeinsame Fragen, statt um individuelle Bedürfnisse handelt, in keinem andern fehlt es dem Volke so sehr an richtiger Belehrung. Wie es hier mit der Klarheit und dem Verständnis beschaffen ist, das zeigt sich an hundert Vorkommnissen, die wir während der bairischen Wahltage erleben. Vielleicht mag Ihnen auch hier das eine oder andere Beispiel aus dem täglichen Leben gefallen, gestatten Sie mir, daß ich es in den mildernden Humor der Reime kleide.

Bei uns da wählen s' auf der Post,
Wie's gar Zu Ende. war hamma 's Bier verkost,
Denn dort is guat, koa so a G'schmier,
Da hab'n s' a Tegernseer Bier.
No ja, und wie's beim Bier halt geht,
Jetzt wird halt von der Wahlsach g'redt.

Mei Nachbar schaugt ganz damisch drein:
»Oho!« sag' i, – »schlaf nur nit ein,
Sonst geh' i glei und hol Dei Geld,
Jetzt sag's, was hast na für oan g'wählt?«
»›Ja was für oan, dös woaß i net,
Den sell'n Denselben, denjenigen. halt, der am Zettel steht.‹«

»Du Lapp, dös hab'n mir Wir. aa scho' than,
Nur eh ma 'n hergiebt, schaugt ma 'n an.«
»›Na,‹« sagt er, »›ang'schaugt hab i 'n net.
Mir hab'n sie's ganz g'nau g'sagt, wie's geht.

Zu mir is der Herr Pfarrer kemma
Und sagt, i soll den Zettel nehma
Und sagt zu mir (und dem daneben):
Ist un–er–öffnet ab–zu–geben!
Denn so steht's drin im G'setz amal
Und drum ist dös a g'heime Wahl.

I hätt' scho' so gern einig'schaugt,
Aber jetzt hab' i mi' nit traut,
Wer drob'n steht – i woaß 's nit. No mein,
I denk' es wird scho' oaner sein.‹«

Allein, soviel auch dem Bauer noch fehlt zum Verständnis innerer Fragen, so verworren sonst seine politischen Begriffe sind, in einem Punkte ist doch schon heute ein unermeßlicher Umschwung zur That geworden. Und das ist das nationale Bewußtsein. Hier handelt es sich eben nicht um Begriffe, sondern um ein Gefühl, und dieses Gefühl sagt ihm mit instinktiver Entschiedenheit, was die Einheit eines Volkes wert sei.

Wer auch nur eines jener Kriegerfeste sah, wie sie alljährlich im bairischen Gebirge gehalten werden, wer es sieht, wie stolz am Sonntag auf der grauen Joppe das Denkzeichen prangt, wer die Soldaten hat reden hören, die nun in ihren häuslichen Kreis zurückgekehrt sind, der ist in dieser Beziehung aller Sorge ledig.

Eine der schönsten Scenen, die ich vielleicht je im bairischen Hochland erlebt, war von diesem Geiste getragen. Es war im Jahre 1873 am sogenannten »Dintzeltag« bei einem Feste, das die Holzknechte alljährlich im Dorfe Kreuth meist in der Winterzeit begehen. Da erhob sich plötzlich, nachdem man dem Forstpersonal die offiziellen Ehren erwiesen hatte, ein Bauer aus ihrer Mitte und erklärte mit lauter, fast erregter Stimme, daß er noch etwas auf dem Herzen habe, und begann zu sprechen von dem großen geeinigten Vaterland, dessen man auch im letzten Winkel der Berge gedenken, dem auch der letzte Mann dahier mit vollem Herzen gehören solle. Und dann erhob er den schweren steinernen Krug und brachte ein Hoch aus auf das deutsche Vaterland! Mitten in dieser Wildnis, in diesem meilenweiten Grab von Schnee, unter diesen rauhen riesigen Gestalten taucht so derselbe eine große Gedanke empor, der aus den Wogen der Nordsee rauscht, in dem sich einstmals in der Stunde der Gefahr die vierzig Millionen zusammenfanden.

Die Musik begann zu spielen; aber kein Jodler war es diesmal, es war »die Wacht am Rhein«, und die wilden Burschen von Kreuth im grünen Hut und in den groben Nagelschuhen, die damals über den Rhein gezogen, sangen mit, daß die Fenster bebten. Draußen über dem Schnee glitzern die Sterne, silbern glimmt der Mond über den Bergen; »Hoch, hoch! und wieder hoch!« klang es hinaus in die Winternacht.

Und nun noch ein anderes Bild, das mehr den heiteren Zug an sich trägt. Es war in der schwarzen Tenne, wo ich vor acht Jahren einen alten Köhler traf, tief in den Siebzigen stehend und herkulisch gebaut, wie eine knorrige Tanne. Der sprach, indes er seinen Meiler schürte: »Herrgott, dös is halt doch a Freud, daß jetzt dös Deutschland auch zu Baiern g'hört,« und als ich ihn lachend berichtigte, daß es wohl umgekehrt richtiger sei, da fuhr er mir ungeduldig dazwischen: »Ach mei', dös bleibt sich allweil gleich und dös verschlagt net viel, d'Hauptsach is doch, daß wir beieinander sind.«

Ja in der That, es ist ein hohes Gefühl für alle, die der Seele des Volkes nachgehen, zu wissen, daß hinter jeder originellen Einzelheit, die wir betrachten, der große, mächtige Hintergrund eines einigen Volkes steht. Kein anderes Reich der Welt ist ja so mannigfaltig an kulturgeschichtlichen Gegensätzen, kein anderes bedarf es so sehr, daß die einzelnen Stämme sich nahe kommen und kennen lernen, dann werden die Gegensätze ihre fesselnde, nicht ihre trennende Kraft erweisen.

Wir Baiern aber, glaub' ich, dürfen mit Stolz darauf blicken, welch' gesundes Element, welche Fülle originaler Kraft wir dem geeinigten, dem deutschen Vaterlande zur Mitgift brachten in dem Kern-Volk unserer Berge. – Die Schatten, die ja nirgends fehlen, wo die Sonne scheint, habe ich Ihnen nicht verschwiegen; noch mancher Irrtum hält sich hartnäckig fest, noch manche schöne Kraft versagt dem Wohl des Ganzen ihren Dienst; aber diesmal will ich gern dem Köhlerglauben folgen: »Mei', dös verschlagt net viel, d'Hauptsach is doch, daß ma beinander san.«


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