Stendhal
Bekenntnisse eines Ichmenschen
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Tagebuch von 1814 (Grenoble, Paris)

Tagebuch meines traurigen Aufenthalts in Grenoble

Chambéry, 2. März 1814.

Am 26. Dezember 1813, als ich vom Diner bei AnnetteOpernsängerin, Freundin der Angelina Bereyter. Vgl. Seite 485. heimkehrte, erhielt ich einen Brief vom Minister des Innern mit dem Befehl, mit dem Grafen de Saint-Vallier nach Grenoble zu gehen.Zur Organisation der Landesverteidigung im 7. Wehrkreise. Ich war sehr betroffen, daß ich Paris, die komische Oper und Annette verlassen sollte. Dies Gefühl lag im Widerstreit mit der Freudenwallung, die ich stets empfinde, wenn es gilt, eine Reise zu machen und etwas Neues zu sehen. Ich ging zur Gräfin Daru, der ich meine Unzufriedenheit nicht verhehlte; ich war etwas zu vertraulich zu ihr. Um elf Uhr ging ich nochmals zu Herrn de Saint-Vallier, den ich um sieben Uhr nicht angetroffen hatte. Ich hegte das größte Vorurteil gegen diesen liebenswürdigen Mann, den ich noch nie gesehen hatte. Ich bildete mir ein, ein Senator müsse im allgemeinen ein abgelebter alter Trottel wie Graf V... oder ein verrückter Greis wie der Graf X... sein. Der Empfang beim Grafen de Saint-Vallier enttäuschte mich angenehm; er war ein Mann voll Herzensgüte und viel Lebensart. Nach Hause zurückgekehrt, wurde ich gerührt, als ich Annette meine Abreise verkündete. Meine Schwester,Pauline Périer dieser kluge Kopf, machte sich keinen Augenblick Illusionen und beklagte mich aufrichtig; sie erkannte deutlich den großen Mist, in den ich treten würde.Vom 26. bis 31. Dezember ging ich täglich zweimal zum Grafen Saint-Vallier, da ich nicht vor ihm abreisen wollte. Schon begann ich zu hoffen, daß wir gar nicht abreisen würden, als sein Portier mir am 31. Dezember um elf Uhr sagte, er sei am Morgen abgefahren. Ich ging nach Hause, um mich zur Abfahrt zu rüsten, ließ meine Schwester und ihren Gatten holen, und um drei Uhr fuhren wir ab.

Wir übernachteten zweimal und erreichten Lyon nach einundsechzig Reisestunden, eine Stunde nach meinem Senator, und Grenoble am 5. Januar 1814 um drei Uhr morgens bei schönstem Mondschein und mildem Wetter. Unterwegs hatte ich mir alle Verteidigungsmittel überlegt, die sich in Grenoble im Notfalle nach und nach aufbringen lassen.

Wie soll ich, ohne meinen Verdruß und meinen Widerwillen aufs neue zu beschwören, die zweiundfünfzig Tage beschreiben, die ich in diesem Hauptquartier kleinlicher Gesinnung verbracht habe? Mein Verstand sagt mir zwar, daß es in Grenoble nicht kleinlicher und dümmer hergehen kann als in jeder andern Stadt von 22000 Seelen, aber die schlechten Eigenschaften von Menschen, deren Vorleben ich nur zu gut kenne, empfinde ich ungleich mehr.

Bei der Ankunft nahm ich Wohnung bei meinem Bastard.So nannte Beyle seinen Vater. Am 16. Januar, als wir Lyon für erobert hielten, zog ich nach der Präfektur um, um es meinem Senator zu ersparen, daß er durch die Stafetten geweckt wurde. Ich wohnte in einem riesigen, hellen, kalten und feuchten Zimmer und bekam vor Verdruß das Fieber. Der Senator willigte darein, einen seiner VerwandtenMazuyer. (Chuquet 143.) aus Lyon zu sich zu nehmen. Als der junge Mann ankam, zog ich wieder zum Bastard. Um mehr Freiheit zu haben, nahm ich mir nach zwei Tagen ein Zimmer in der Rue Bayard bei einem Herrn L..., einem richtigen Kneipen-Don-Juan, mit dem ich nie geredet habe. In diesem Zimmer hatte ich einige Augenblicke des Alleinseins, die von allen in Grenoble verbrachten die am wenigsten verdrießlichen waren.

Meine arme Schwester, ungleich weniger empfindlich als ich und mit einem sehr kalten Verstande begabt, hat sich über den Bastard ein endgültiges, jeder Illusion bares Urteil gebildet; sie kam vor Langeweile um. Wir luden Frau D[erville]Ihren Namen hat er in »Rot und Schwarz« (in der Gestalt von Frau von Rênals Freundin) verewigt. aus Vizille ein, die ich noch nie gesehen hatte. Sie kam und ich fuhr mit den Damen nach Vizille und Claix. Ich hatte das Vergnügen, diesen hellen Köpfen einige Wahrheiten über die Kunst und die Menschennatur beizubringen. Der Bastard merkte, daß er überflüssig war und daß diese Unterhaltung anständiger Menschen über sein Begriffsvermögen ging, und zog sich um zehn Uhr zurück. Wir plauderten bis ein Uhr morgens. Am 22. Februar traf ein der Kommission zugeteilter Kollege ein, ein junger Auditor im Staatsrat, der Sohn eines durch sein Vermögen einflußreichen Mannes.Lamarre. (Chuquet 143.) Am selben Tage machte der treffliche Herr de Saint-Vallier eine Eingabe, daß ich nach Paris zurückkehren dürfte.Abgedruckt bei Chuquet 511 f. Beyles Gesuch ist beigefügt. Vierzehn Tage vorher hatte er das blaue Kreuz (den Reunionsorden) für mich beantragt und den Antrag kurz darauf wiederholt.Der Antrag vom 27. Januar 1814 ebd. Übrigens hatte Beyle schon am 27. Dezember beim Minister des Innern selbst eine Auszeichnung beantragt. Vgl. Chuquet 495 ff., wo auch die von »de Beyle« gegengezeichnete Proklamation Saint-Valliers und der dienstliche Schriftwechsel mit dem Herzog von Feltre abgedruckt ist, den Saint-Vallier unterzeichnet hat, der aber von Beyles Hand stammt. Am 18. März wurde Beyle durch den Auditor Sirot ersetzt. Vgl. Chuquet 138 ff. Seit ich ihn das Schreiben betreffs meiner Rückberufung unterzeichnen ließ, sprach er nicht mehr davon. Das war ganz natürlich, und ich nahm es ihm gar nicht übel.

Paris, 7. April 1814.Nach dem Sturze Napoleons wurde der Staatsrat aufgelöst und Beyle verlor Stellung und Einkommen. Ihm blieb nur seine Pension als Adjunkt beim Kriegskommissariat, die er aber erst nach jahrelangen Eingaben vom Oktober 1819 ab erhielt. Sein Briefwechsel mit dem Kriegsministerium bei Chuquet, 513ff.

Herr Henri de Beyle, Auditor und Adjunkt beim Kriegskommissariat, tritt bereitwilligst den seit dem 1. April 1814 erlassenen Verordnungen des Senats bei.

Rue Neuve du Luxembourg 3.

de Beyle.

Paris, 30. Juni 1814.

Da ich sehe, daß ich das Konsulat in Neapel nicht erhalte, das die hübsche Frau D. für ihren Gatten erlangt hat, hatte ich eine Unterredung mit Herrn G. über Rom. Er sagte mir, oder vielmehr ich erriet aus seinem Geschwätz, daß ich mich mit 6000 Franken dort gutstehen würde.

Seit dem 10. Mai arbeite ich an Metastasio und Mozart.Beyles Erstlingswerk »Briefe aus Wien über Haydn, Mozart und Metastasio und den gegenwärtigen Zustand der Musik in Italien«, von Alexander Ludwig Caesar Bombet. Das Buch war teilweise Plagiat, teilweise Überarbeitung einer Anekdotensammlung über Mozart und nur im letzten Drittel eigene Arbeit. Vgl. S. 398, Anmerk. 3. Diese Arbeit macht mir viel Spaß und setzt mich völlig darüber hinweg, daß Frau D[aru] mich nicht zum Gesandtschaftssekretär in Florenz gemacht hat.

1. Juli

Sobald ich mein Gedächtnis irgendwie anzustrengen suche, läßt mein Talent nach, und zwar in dem Maße, wie ich mich zu erinnern suche. Etwas Gutes kann ich nur leisten, wenn ich es überhaupt vermag, wenn ich alles aus meinem Herzen nehme. Deshalb ist die Rolle des Mocenigo für mich vielleicht dahin.

4. Juli.

Ich habe Paris satt, aber ohne Groll. (Ich sage das für den Beyle von 1820.) Das Handwerk des Auditors und die unverschämte Dummheit der Machthaber stößt mich ab. Rom, Rom ist meine Heimat. Ich brenne darauf, abzureisen.

Seit acht Tagen schlafe ich bei meiner alten Liebe. Da sie der Natur näher steht, sagt sie mir mehr zu als alles, was ich hier verlasse.Am 29. Juli kam Beyle in Grenoble an, das er kurz darauf wieder verließ. Am 14. August war er in Mailand, wo er mit kurzen Unterbrechungen bis 1821 blieb


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