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Dreiunddreißigstes Kapitel.
Die Römische Straße

Der Frühling war in diesem Jahr zeitig eingekehrt. Die Schwalben müssen das geahnt haben, denn sie waren einige Tage vor ihrer Zeit wiedergekommen, und das Schweigen der Römischen Straße wurde heute, am sechzehnten April, durch ihr Zwitschern unterbrochen und von ihren Flugschatten durchkreuzt; die Bäume in den Gehölzen waren neu ergrünt, der kleine Fluß schäumte übermütig unter der Brücke und aus den Tiefen des Waldes klang der weiche süße Ruf des Kuckucks.

Miß Grimshaw hatte sich von Effie freigemacht und war zur Brücke hinuntergewandert; dort stand sie jetzt, beobachtete das schimmernde Wasser und braune Gras und lauschte dem Kuckuck und dem Zwitschern der Vögel in den Zweigen.

Ein Telegramm hatte ihr gestern die große Siegesnachricht mitgeteilt und die heutige Frühpost brachte ihr zwei Briefe – einen von Mr. French und einen von Mr. Dashwood.

Wie sie nach sorgfältigem Lesen aus den Schreiben entnahm, waren beide Männer in sie verliebt und jeder legte es ihr dennoch nahe, den andern nicht abzuweisen.

Heute abend würden sie kommen. Sie mußte sich entscheiden und war augenscheinlich hierhergegangen, um die Frage zu erwägen.

Nun die Sache ihr deutlich vor Augen stand, wirkte die Ritterlichkeit, die beide Männer einander erwiesen hatten, geradezu verwirrend. Violet war hergekommen, um die Angelegenheit gründlich zu überlegen, aber in Wirklichkeit hatte ihr Herz sich ihr unbewußt schon entschieden, welchen der beiden Männer sie zum Lebensgefährten erwählen wollte.

Sie hatte niemand, den sie zu Rate ziehen, niemand, dem sie ihre Wahl anvertrauen konnte; auf dem schmalen Vorsprung der Brüstung sitzend und dem reizenden Impulse folgend, der ein Mädchen treibt, ihren Namen verbunden mit dem Namen des Mannes, den sie liebt, aufs Papier zu setzen, schrieb sie mit der Spitze ihres Sonnenschirms träumerisch gleich einem Medium, dem ein Geist diktiert, in den Staub der Straße:

Violet

Dann schickte sie sich halb errötend an, den verhängnisvollen zweiten Namen hinzuzufügen, und die Vögel über ihr in den Zweigen reckten sich den Hals aus, um zuzuschauen – da ertönte plötzlich jenseits der Anhöhe das Geräusch eines rasch sich nähernden Automobils und der Zauber war gebrochen.

Als es vorüberfuhr, stand sie am Brückengeländer und blickte auf den Fluß hinunter. Kein Name war auf der staubigen Straße zu lesen und nichts gemahnte an Liebe, außer der anmutigen Gestalt des Mädchens und der Schönheit des Morgens.

Ende

*

 


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