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Nach den schönen Hügeln

Einige Tage nachher trat Herr Delmy ins Wohnzimmer ein, wo die Frau Amtmann allein bei ihrer Arbeit saß; er hielt einen Brief in der Hand. »Vom Pater Benedetto aus Sorrent«, sagte Herr Delmy, indem er den Brief der Frau Amtmann hinhielt. Es war ein sehr dicker Brief, da konnte viel darin stehen; doch waren auch die Buchstaben so groß und dick, daß ein einziger Satz sich über viele Linien hin verbreitete. Der Brief war italienisch geschrieben; so bat die Frau Amtmann den Herrn Delmy, ihr die Worte ins Deutsche zu übertragen.

Zuerst kam eine große Anerkennung dafür, daß man so weitläufig über das betreffende Kind Bericht erstattet habe, und daß man sich seiner so gut annähme, worüber die Mutter sehr froh und befriedigt sei und auch sähe, daß das Kind viel besser versorgt sei und es in allen Teilen besser habe, als wenn es zu Hause wäre. Das Kind sei auch unzweifelhaft in die besten Hände gefallen, das könne er, Pater Benedetto, schon daraus ersehen, daß der Versorger des Kindes (worunter er den Herrn Delmy verstand) einen so geläufigen italienischen Brief schreibe. Hierauf erfolgte eine Art Lebenslauf der Irene, da der Herr Delmy ihrem Sein und Leben in Sorrent nachgefragt hatte. Irene sei immer ein eigenes Kind gewesen, erzählte der Pater, über das sich die Mutter schon früher bei ihm beklagt habe. Nicht, daß das Kind bösartig oder ungezogen gewesen wäre, im Gegenteil, es wollte nie mit anderen Kindern zu tun haben, weil sie ihm nicht recht waren, nicht manierlich und sauber genug. Die Mutter lebe in sehr beschränkten Umständen; da habe sie denn auch nicht gerade die sauberste Ordnung in ihrem Häuschen und verstehe sich auch nicht so auf ein regelmäßiges Wesen, sondern sie lasse alles so laufen, wie es laufe, und liegen, was liege; und wie es so bei ihr aussähe, das achte sie nicht. Aber das Kind sei nun immer anders gewesen, ihm habe nur gefallen, was schön und gut aussah, und nur mit den Herrenleuten wollte es gern zu tun haben, und es selbst habe auch immer so ausgesehen, als gehöre es nicht da hinein, wo es aufgewachsen war. Vor einiger Zeit sei dann ein fremder Herr gekommen, ein Kranker, der habe eine Wohnung nicht weit vom Häuschen der Frau weg bezogen und sei längere Zeit in Sorrent geblieben. Da habe er denn Irene gesehen und ihr das Amt eines täglichen Begleiters übertragen. Auf allen seinen Gängen habe sie mitgehen und ihm seine kleinen notwendigen Sachen nachtragen müssen. Das sei nun ein sehr vornehmer und ein sehr guter Herr gewesen, und Irene habe ihm sehr angehangen und habe sich so an seine Art und Weise gewöhnt, daß sie nun erst recht nicht mehr zu den eigenen Leuten gehört habe. Sie sei geworden, wie ein Fremdes, das mit nichts mehr zusammenhing, als mit dem fremden Herrn. So sei es denn ganz schlimm gekommen, als der kranke Herr nach Capri fortgereist und dort gestorben sei. Von da an habe die Irene wie ein Fieber in sich gehabt, das sie forttrieb, und die Mutter sei endlich froh gewesen, als ein Verwandter versprochen habe, sie auf seine Geschäftsreise mitzunehmen, da sie ihm dabei von Nutzen sein könnte. Der habe dann die Nachricht gebracht, Irene sei von einer Bekannten von ihm an Kindes Statt angenommen worden, bei der sie es sehr gut haben werde. Die letzte Nachricht sei ihnen nun unerwartet gekommen, und es tue der Mutter wohl leid, daß Irene krank sei; aber sie sei doch froh, daß sie es so gut dabei habe, viel besser, als sie es zu Hause dabei haben könnte. Am Schluß kamen nun noch allerlei Danksagungen von der Mutter und auch dem Pater Benedetto selbst, und die Überzeugung wurde noch ausgesprochen, daß so gute Menschen der Irene, wenn sie dann wieder gesund sein werde und nun doch so weit von der Heimat entfernt sei, gewiß auch weiter beistehen würden.

Als Herr Delmy zu Ende gelesen hatte, sagte die Frau Amtmann in sehr betrübtem Ton: »Das arme Kind! Es hat ja gar keine Heimat mehr; denn da, wo es hingehört, würde es sich gewiß nun noch viel mehr fremd fühlen als vorher schon, und mir scheint auch, seine Leute daheim haben dasselbe Gefühl und nehmen an, es sei gut so, daß es gleich fortbleibe. Aber wo soll denn das arme Kind hin? Es ist ja noch viel zu jung, um für seinen Unterhalt zu arbeiten, und in der Welt herumziehen soll es doch auch nicht länger, das können wir nicht zulassen; was soll nur aus ihm werden?«

»Das weiß der liebe Gott am besten«, sagte Herr Delmy ruhig, »und wenn die rechte Zeit da ist, werden wir sehen, daß er eine Heimat für das Kind hat. Vorläufig bleibt es bei uns, wer weiß, wie lange noch; das Fieber zehrt so an ihm, daß es jeden Tag ein wenig schmäler wird.«

»Man muß ihm wieder Kraftsuppe kochen«, sagte die Frau Amtmann und ging gleich, die Sache auszuführen und nach Irene zu sehen; denn auch die Frau Amtmann machte ihre Besuche im Krankenhaus; aber sie hatte ihre eigenen Stunden dazu.

Etwas später ging auch Herr Delmy dem Krankenhaus zu. Er brachte Irene die Nachrichten und Grüße von ihrer Mutter und dem Pater Benedetto. Irene nahm ganz gelassen alles auf. Eine kleine Weile beobachtete Herr Delmy schweigend das Kind, dann sagte er: »Irene, hast du kein Verlangen, wieder nach Hause zu kommen?«

Irene schüttelte den Kopf und sagte leise, aber bestimmt: »Nein!«

Wieder eine Weile lang schwieg Herr Delmy, dann fuhr er fort: »Daß dir dein Verlangen, nach Schlesien zu kommen, nicht erfüllt worden ist, darf dir nicht leid tun, Irene. Sieh, solche Menschen, wie du sie dort zu finden glaubtest, gibt es nur im Himmel. Dort sind sie alle so gut und vollkommen, wie du sie in Schlesien wähnst, und dort sind sie auch alle für immer froh und gesund. Da stirbt niemand mehr und keiner hat irgendein Leid zu tragen. Wolltest du nicht noch viel lieber in den Himmel gehen als nach Schlesien?«

Irene dachte ein wenig nach, dann fragte sie: »Kommen Sie dann auch?«

»Alle, die wir hier zusammen sind, kommen, will's Gott, nach einer Zeit droben im Himmel wieder zusammen, und dann gehen wir nie mehr auseinander«, war Herrn Delmys Antwort.

Irenes Augen leuchteten. »Oh, dann ist's schön droben«, sagte sie, »dann wollte ich wohl gern hinkommen.« –

Für die Kinder hatte das Krankenhaus täglich mehr Anziehungskraft und überwog nun alle anderen Interessen. Sogar die Postfahrten hatten ganz aufgehört, die sonst in dieser Jahreszeit die Hauptunterhaltung bildeten, und die Kinder stimmten alle darin überein, ein so netter Sommer sei noch gar nicht dagewesen. Jedes von ihnen hatte auch seine eigenen Ansichten und seinen besonderen Zweck bei seinen Besuchen im Krankenhaus. Max hatte gleich bei seinem ersten Erscheinen die Entdeckung gemacht, daß Irene so ganz andere Bewegungen und eine so andere Art zu sprechen hatte, als alle Kinder in ganz Waldhausen, und auch, daß ihr Gesicht so fein geschnitten sei und überhaupt ihr ganzer Anblick etwas so Vornehmes habe, daß es klar am Tage liege, sie sei so eines von den gestohlenen Kindern aus einem Fürstenhaus, wie das oft vorkomme, besonders in Italien; da könne man die merkwürdigsten Geschichten darüber lesen.

Diese Ansicht machte nun in seinen Augen die Irene sehr anziehend, und da sie daneben mit ihrem Wesen voller Anmut und Lieblichkeit auf ihn wie auf jedermann eine große Anziehung ausübte, so verwandte Max soviel Zeit als möglich dazu, mit Irene ihre Erinnerung an Sorrent zu besprechen, um den Faden zu entdecken, an dem er ihre Herkunft herauswickeln könnte.

Elsa konnte gar nicht genug bekommen, die Irene erzählen zu hören; denn zu Elsa sprach diese am meisten und erzählte ihr von ihrem guten Herrn alles, was sie mit ihm erlebt hatte. Sie wurde nicht müde zu schildern, wie er so ganz anders und soviel herrlicher gewesen sei, als alle Menschen in Sorrent, und wie sie auch fast nicht mehr habe leben können, als er gestorben war; denn viele, viele Monate lang sei sie immerfort auf allen seinen Gängen bei ihm gewesen.

Von ihrem verlorenen Herrn ging sie dann immer auf Herrn Delmy über; denn das war der einzige Mensch, der ihrem Herrn ähnlich war, wie Irene Elsa gegenüber wiederholt versicherte.

Lex kam noch immer regelmäßig mit dem Atlas unter dem Arm im Krankenhaus an; denn es war ihm eine ernste Angelegenheit, Irene einige Klarheit über die geographischen Verhältnisse beizubringen. Er fand aber so wenig Gelegenheit, sein Vorhaben auszuführen. Immer wieder kamen die anderen Geschwister mit ihren Ansichten dazwischen, und Irene hatte noch so wenig von seinen Erklärungen aufgenommen!

Tilli und Gatti erschienen immer zusammen und waren überzeugt, daß Irene ihrer Unterhaltung vor allem bedürftig sei.

So gingen die Tage dahin.

Jeden Abend wurden in Irenes Zimmer ein paar Lieder gesungen; immer brachte Herr Delmy wieder neue hinzu. Diese wurden dann zu den alten eingeübt, und so hatte die Gesellschaft eine ganze Reihe schöner Lieder durchzusingen. Wenn man aber Irene fragte, was sie noch gerne hören wollte, dann sagte sie jedesmal: »Jetzt noch von den schönen Hügeln.« Herr Delmy stimmte dann an, und alle die frischen Stimmen fielen ein und sangen:

Ȇber ein kleines, da brechen die Fesseln und Riegel,
schwingt der gefangene Fremdling die siegenden Flügel,
zieht aus dem Haus
trauriger Knechtschaft hinaus,
heim auf die rosigen Hügel.«

So hatten die Kinder eben wieder auf Irenes Wunsch zum Schluß des Abends gesungen und gingen nun eins nach dem anderen der Tür zu. Als Elsa beim Bett der alten Feldmauserin vorbeiging, winkte ihr diese heimlich, daß sie zu ihr herantrete; aber erst als alle anderen, auch Herr Delmy, aus dem Zimmer fort waren, sagte die Frau: »Elsa, du bist ein gutes Kind, und ich möchte dir so gern etwas sagen; aber gelt, du bist bös mit mir?«

»Nein, gewiß nicht«, sagte Elsa ganz erfreut, daß die Frau einen so veränderten Ton in ihrer Stimme hatte.

»Ja, du hättest doch alle Ursache«, fuhr die Alte fort, »ich war ja grob und bös mit dir; aber siehst du, wenn es einem so schlecht geht, und man denkt, die anderen haben es gut, dann kommt's einem so, daß man von allem nichts mehr wissen will. Aber ich habe gesehen, wie gut ihr mit dem verlaufenen Kind seid; und siehst du, ich bin auch so wie festgenagelt, wie hinter den Riegeln, so wie ihr singt, und ich möchte auch so gern auf und davon und auf die schönen Hügel, wo es einem einmal wohl werden könnte. Ach, wenn ich nur wüßte, wie ich auch dahin käme! Elsa, was meinst du, daß ich tun könnte? Ach, du weißt nicht, wie das ist, so manche Stunde der Nacht so dazuliegen in den Schmerzen, und ach, so fest gebunden, ja, ja, so mit Fesseln und Riegeln, wie ihr's singt.«

Elsa schaute mit großem Mitleid auf die arme Frau, die jetzt ein paar Tränen mit der mageren, zitternden Hand wegwischte.

»Ihr müßt nur recht zum lieben Gott beten, dann hilft er Euch gewiß«, sagte jetzt Elsa.

»Meinst du? Ja, ja, ich glaube auch, daß du recht hast; aber siehst du« – hier zog die Alte Elsa näher zu sich heran und hielt sie fest, so als suche sie einen Halt an ihr –, »siehst du, es ist schon so lange, seit ich das so recht tun konnte; kannst du mir nicht etwas vorbeten?«

Elsa faltete ihre Hände und sagte der Frau ihr Gebetlein vor, das sie selbst jeden Abend betete:

»Müde bin ich, geh zur Ruh,
schließe beide Augen zu.
Vater, laß das Auge dein
über meinem Bette sein!

Hab ich unrecht heut getan,
sieh es, lieber Gott, nicht an.
Deine Gnad und Jesu Blut
macht ja allen Schaden gut.«

»Ja, ja, das ist ein Gebetlein für mich! Ich bin auch so müde und will gern zur Ruhe gehen. ›Macht ja allen Schaden gut!‹ Sag es doch noch einmal«, bat die Alte.

Elsa sagte es gleich noch einmal.

»Macht ja allen Schaden gut«, wiederholte die Alte noch einmal. »Ach, sieh, Elsa, da drinnen ist so mancher Schaden« – die Alte zeigte auf ihr Herz dabei –, »das kommt mir dann alles so in den Sinn in den langen Nächten und macht mir angst. Glaubst du auch sicher, daß aller Schaden wieder gutgemacht werden kann, er mag sein, wie er will?«

»Das weiß ich nicht so recht; aber ich will den Herrn Delmy fragen«, sagte Elsa.

»Nein, nein!« rief die Frau erschrocken aus. »Zu dem mußt du nichts sagen, der würde mir nur noch mehr angst machen, das weiß ich schon. Und jetzt ist er auch bös mit mir; denn er hat ein paarmal mit mir reden wollen; aber ich habe ihm nie Antwort gegeben und habe mich immer umgekehrt oder getan als hörte ich ihn nicht.«

»Oh, Herr Delmy ist nie böse, nie, und ich weiß schon, daß er Euch nicht angst macht«, versicherte Elsa. Dann gab sie der Frau die Hand; denn es war schon fast dunkel geworden, sie mußte nun nach Hause gehen. Die Alte drückte Elsa vielmal die Hand und bat sie, daß sie doch morgen wieder zu ihr komme, und Elsa versprach es auch mit frohem Herzen; die alte Frau war ja so anders als vorher, und Elsa hatte solches Mitleid mit ihr und hätte gleich gern alles mögliche Gute für sie getan. Sie lief auch, was sie konnte, nach Hause und suchte den Herrn Delmy auf, um ihm alles zu erzählen.

Am anderen Tage saß Herr Delmy lange Zeit am Bette der alten Frau; er mußte wohl tröstliche Worte für sie gefunden haben; denn als er ihr Bett verließ, sah sie aus, als sei ihr eine große Freude widerfahren, und von dem Tage an konnte sie es fast nicht erwarten, daß Herr Delmy wieder ins Zimmer trat. Wollte er dann nach langer Zeit, die er immer an ihrem Bette zubrachte, wieder fort, so hielt sie immer seine Hand noch eine ganze Weile fest, als wäre diese ein Anker, an den sich anzuklammern ihr eine große Beruhigung gewährte.

Irene wurde täglich ein wenig schmaler und ein wenig kraftloser, aber immer war sie in ihrer stillen Weise froh und voller Dank für alle Freundlichkeit, die ihr dargebracht wurde. Standen am Abend die Amtmannskinder und Herr Delmy noch um ihr Bett herum, dann funkelten ihre Augen in Liebe und Freude, und ihre Blicke gingen von einem zum anderen, als wollte sie jedem noch besonders Dank sagen.

Als nach einem solchen Abend die Pflegerin früh am Morgen an Irenes Bett trat, lag das Kind ganz still, den Kopf auf den Arm gelegt, so wie zu einem guten Schlaf gebettet, auf seinem Kissen. Es sah schneeweiß aus, und ein friedliches Lächeln lag auf seinem stillen Gesichtchen.

Die Pflegerin lief schnell nach dem Amtshaus hinauf.

Bald hernach kam Herr Delmy mit den Kindern; sie standen alle um Irenes Bett herum und schauten auf das friedliche Gesichtchen.

»Irene ist heimgegangen auf die rosigen Hügel«, sagte Herr Delmy, »da ist ihr wohl für immer.«

Die Kinder weinten leise. Nun sollten sie nie mehr sehen, wie die freundlichen Augen von Irene in Freude aufleuchteten und ihr ganzes ausdrucksvolles Gesichtchen ihnen Dank und Willkommen entgegenlächelte, wenn sie bei ihr eintraten. Noch einmal kamen sie, eins nach dem anderen, zu Irene heran, erfaßten ihre schmale Hand und sagten ihr leise Lebewohl; dann folgten sie Herrn Delmy und verließen das Haus.

Die alte Feldmausers-Frau hatte sich jetzt mit Mühe ein wenig aufgerichtet, um zu Irene hinüberzuschauen. »Ach, ach«, jammerte die Alte, »hätte das Kind nur noch ein wenig auf mich gewartet, ich wäre so gern mit ihm gegangen; wenn ich ihm doch noch nachkäme!«

Und die alte Frau sollte dem Kinde noch nachkommen. Schon am nächsten Tage schloß auch sie ihre müden Augen, und beide wurden miteinander hinausgetragen auf den sonnigen Kirchhof und miteinander in die Erde gelegt.

Dann kamen die Amtmannskinder und brachten soviele schöne Blumen auf den Grabhügel, daß er aussah wie der lieblichste Garten, und so blieb es, denn er wurde nicht vergessen; immer kamen wieder frische Blumen darauf aus des Amtmanns Garten.

Das Tilli aber hatte seinen Plan aufgegeben, ein wenig in der Welt herumzuziehen; denn daheimzubleiben kam ihm doch sicherer vor, als so weit wegzukommen wie Irene.


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