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Kapitel I.
Unter den Lindenbäumen


Unter den schattigen Linden der schönen Promenade, die auf der Ostseite der Stadt Karlsruhe sich hinzieht, sah man seit einiger Zeit immer um dieselbe Nachmittagsstunde einen Spaziergänger hin- und hergehen, dem die anderen Lustwandelnden mit Teilnahme nachsahen, wenn sie an ihm vorbeigegangen waren, denn es war rührend anzusehen, mit welcher Sorgfalt die kleine Begleiterin, auf die der große Mann sich stützte, ihm ihre Hilfe bequem zu machen suchte. Der Mann mußte recht krank sein. Er konnte nur sehr langsam gehen; mit der rechten Hand stützte er sich auf einen festen Stab, die Linke hielt er auf die Schulter des Kindes gelegt, was er sichtlich nötig hatte. Von Zeit zu Zeit hob er aber die Hand etwas in die Höhe und fragte in zärtlichem Tone: »Sag, mein Kind, drücke ich auch nicht zu schwer auf dich?« Augenblicklich aber drückte das kleine Mädchen die Hand wieder auf seine Schulter nieder und versicherte: »Nein, nein, gewiß nicht, Papa; stütze dich nur viel fester auf mich, ich merke dich ja gar nicht.«

Waren die beiden eine Zeit lang so hin- und hergegangen, so ließen sie sich auf einer der Bänke nieder, die hie und da unter den Bäumen stehen, und ruhten eine Weile aus.

Der kranke Mann war Major Falk, der erst seit kurzer Zeit in Karlsruhe wohnte. Er hatte vorher in Hamburg gelebt und dort einen sehr stillen Haushalt geführt mit seinem Töchterchen Dora und einer älteren Wirtschafterin, die alles im Hause besorgte. Seine Frau hatte er kurz nach Doras Geburt verloren, so daß das Kind seine Mutter nie gekannt hatte. So hing Dora mit ihrer ganzen Liebe an ihrem guten Vater, und dieser hatte auch sein Kind immer mit solcher Zärtlichkeit behandelt, daß ihm der Mangel einer Mutter kaum recht fühlbar geworden wäre, hätte nicht der Vater vor einem Jahre plötzlich sein Haus verlassen müssen, um in den Krieg gegen Frankreich zu ziehen. Dann war er lange nicht heimgekehrt, und als er endlich wiederkam, war er sehr elend und krank an einer Wunde in der Brust, welche die Ärzte für so gefährlich erklärten, daß eine Heilung kaum möglich sein würde. Major Falk hatte in Hamburg keine näheren Verwandten mehr, weshalb er mit seinem Töchterchen auch so abgeschlossen gelebt hatte. In Karlsruhe hatte er eine ältere Stiefschwester, die war an einen Privatgelehrten verheiratet, den Herrn Titus Ehrenreich. Als Major Falk verstanden hatte, was die Ärzte von seinem Zustande hielten, faßte er den Entschluß, nach Karlsruhe überzusiedeln, um nicht ganz allein dazustehen mit seinem elfjährigen Töchterchen, wenn seine Krankheit ernster werden sollte und er für den weiteren Lebensgang seines Kindes des Rates einer Frau bedürftig sein würde. Bald führte er sein Vorhaben aus, mietete sich mit seinem Töchterchen in der Nähe seiner Schwester ein und genoß nun die warmen Frühlingstage auf seinen regelmäßigen Gängen unter den schattigen Linden, von seinem Töchterchen als Stütze und liebevolle Pflegerin begleitet. Wenn dann die beiden zwischen ihren Gängen, die den Kranken sichtlich sehr ermüdeten, Hand in Hand auf der Bank saßen, da wußte der Vater immer etwas Schönes zu erzählen, und Dora konnte nicht genug zuhören, denn so fesselnd konnte niemand seine Erlebnisse schildern wie er, und auf der ganzen Welt gab es gewiß keinen so lieben und herrlichen Menschen mehr, wie ihr Vater war; davon war Dora ganz fest überzeugt. Am liebsten hörte sie es, wenn der Vater von ihrer Mutter erzählte, die nun schon lange im Himmel war, wie lieblich und fröhlich sie gewesen sei, daß es überall war, als bringe sie den Sonnenschein mit, wohin sie kam, und daß kein Mensch sie sehen konnte, ohne sie lieb zu haben, und auch keiner sie vergessen konnte, der sie je lieb gehabt hatte. Wenn der Vater davon erzählte, dann vergaß er auch oft ganz und gar, wo er war, und daß es immer später wurde, bis die kühle Abendluft ihn auf einmal schauern machte und ihn daran erinnerte, daß es Zeit sei aufzubrechen. Dann gingen die beiden langsam in die Stadt zurück, weit hinein, bis sie in einer schmalen Gasse an einem der hohen Häuser anlangten, wo der Vater gewöhnlich stillestand und zu Dora sagte: »Wir müssen doch noch nach Onkel Titus und Tante Ninette sehen.« Und die Treppe hinaufsteigend, mahnte er meistens: »Nur hübsch leise, Dora; du weißt, Onkel Titus schreibt sehr gelehrte Bücher und darf durch keine ungewohnten Töne gestört werden, und Tante Ninette kann auch kein Geräusch ertragen, sie ist es nicht gewöhnt.« Und Dora stieg ganz geräuschlos auf ihren Zehenspitzen die Stufen hinaus. An der Thür klingelte der Major kaum hörbar. Gewöhnlich machte die Tante Ninette die Thür selbst auf und sagte: »Nur herein, lieber Bruder! Aber recht leise, wenn ich bitten darf. Du weißt, dein Schwager ist sehr in seine Arbeit vertieft.« Und fast unhörbar gingen dann die drei den Korridor entlang und traten ins Wohnzimmer ein. Nebenan war das Arbeitszimmer von Onkel Titus; so mußte man auch hier sich sehr gedämpft unterhalten, was Major Falk viel weniger vergaß, als die Tante Ninette selbst, besonders in den Augenblicken, da ihr der Grund zu einem großen Jammer entgegentrat, und das war nicht selten der Fall.

Der Juni war nun herangekommen, und schon konnten die Abende draußen unter den Bäumen länger genossen werden; doch mußten die zwei Spaziergänger immer noch etwas früher ihren Rückweg antreten, als beiden lieb war, denn das längere Ausbleiben war ein Grund zum Jammer für die besorgte Tante Ninette. An einem der warmen Sommerabende aber, da der Himmel so golden glänzte gegen Sonnenuntergang und rosenrote, duftige Wölkchen darüber hinzogen, blieb Major Falk länger sitzen als alle Abende vorher und schaute, die Hand seines Kindes in der seinigen haltend, stiller als gewöhnlich den ziehenden Wolken nach und in den goldenen Abendhimmel hinein. Dora schaute lange staunend zu ihrem Vater empor, dann rief sie auf einmal überwältigt von ihrem Eindrucke aus: »O, Papa, wenn du dich doch sehen könntest, du leuchtest ganz golden; so sind gewiß die Engel im Himmel.« Der Vater lächelte: »Bei mir wird's gleich vorbei sein, Kind; aber so leuchtend steht wohl dort hinter den rosigen Wolken deine Mutter und schaut auf uns nieder.« Es war wirklich schon vorbei; der Vater war wieder blaß geworden und leuchtete nicht mehr, und am Himmel fing das Gold auch an zu erlöschen. Nun stand der Vater auf und Dora folgte ihm, ein wenig betrübt, daß der schöne Glanz so bald verblichen war. »Einmal wird er wieder auf uns leuchten, Dora, und noch viel schöner«, tröstete der Vater; »wenn wir wieder alle bei einander sein werden, deine Mutter und du und ich, und dann wird er nicht mehr vergehen.«

Als die beiden die Treppe heraufkamen, um Onkel und Tante noch zu grüßen, stand die letztere schon oben an der offenen Thür und machte sehr unruhige Zeichen des Schreckens und der Aufregung; aber erst als sie die Angekommenen ins Zimmer geführt und ängstiglich die Thür ins Schloß gelegt hatte, gab sie der großen Aufregung Worte.

»Wie kannst du mir solche Angst bereiten, lieber Bruder«, jammerte sie auf; »was mußte ich mir nicht für schreckliche Dinge vorstellen. Was konnte euch doch alles begegnet sein, daß ihr so ungewöhnlich spät heimkommt! Und wie kannst du nur so vergeßlich sein und nicht wissen, daß du nach Sonnenuntergang nicht mehr draußen sein sollst! Gewiß hast du dir eine Erkältung zugezogen. Was wird nun kommen? Es kann ja Schreckliches daraus entstehen!«

»Beruhige dich nur, liebe Ninette«, sagte der Major beschwichtigend, sobald er mit einem Worte einsetzen konnte. »Die Luft ist so mild, so ganz warm, daß sie unmöglich schaden konnte, und der Abend war herrlich, ganz wundervoll. Laß mich die schönen Erdenabende noch anschauen, so lange es mir vergönnt ist; das beschleunigt nicht und hält auch nicht auf, was bald kommen muß.«

Aber diese Worte, so ruhig sie auch gesprochen waren, riefen noch einen ganz anderen Jammer hervor.

»Wie kannst du nur so sprechen! Wie kannst du mir solche Angst bereiten! Wie kannst du nur so schreckliche Worte sagen!« rief die erregte Tante ein Mal ums andere aus. »Das kann ja nicht geschehen, das wird nicht geschehen. Wie müßte nur alles werden – wie müßte es kommen – du weißt mit wem ich meine –.« Hier that die Tante einen bedeutsamen Blick auf Dora hin. – »Nein Karl, was zu viel ist, kann nicht über uns hereinbrechen; ich wüßte keinen Ausweg, ich wüßte mir nicht zu helfen, es wäre nicht durchzukommen.«

»Aber, liebe Ninette«, wandte hier der Bruder ein, »vergiß doch nur das eine nicht:

›Bist du doch nicht Regente,
Der alles führen soll;
Gott sitzt im Regimente
Und führet alles wohl.‹«

»Ach ja, das weiß ich ja schon, das ist ja wohl wahr«, bestätigte die Schwester; »aber wo kein Ausweg abzusehen ist und keine Hilfe, da muß man ja vor Angst umkommen, und du sprichst so von den schrecklichsten Dingen, als verstände es sich von selbst, daß sie kommen müssen.«

»Wir wollen uns nun gute Nacht sagen und nicht mehr jammern, meine liebe Ninette«, sagte der Major, seine Hand ausstreckend; »wir wollen beide daran denken:

›Gott sitzt im Regimente
Und führet alles wohl.‹«

»Ach ja, es ist ja schon wahr, es ist ja schon wahr«, bestätigte nochmals die Tante. »Aber nun erkälte dich nicht über die Straße und geht auch leise die Treppe hinunter und – hörst du, Dora? schließ auch recht leise die Thür unten zu, und Karl, nimm dich in acht vor dem Zug über die Straße!« Während dieser Ermahnungen war der Vater mit Dora die Treppe hinabgestiegen und die letztere schloß nun nach Vorschrift die Hausthür. Sie hatten nur über die schmale Gasse zu gehen, um in die eigene Wohnung einzutreten.

Als am folgenden Abend Dora wieder neben ihrem Vater aus der Bank unter den Bäumen saß, fragte sie: »Papa, hat denn Tante Ninette vorher das nicht gewußt:

›Bist du doch nicht Regente,
Der alles führen soll;
Gott sitzt im Regimente
Und führet alles wohl‹?«

»Doch, doch, Dora, das hat sie immer gewußt«, antwortete der Vater. »Siehst du, das ist nur so in den Augenblicken, da bei der guten Tante die großen Ängsten das Übergewicht bekommen, daß sie ein wenig vergißt, wer alles regiert; aber sie findet sich dann schon wieder zurecht.«

Dora dachte eine Weile nach, dann fragte sie wieder: »Aber, Papa, wie kann man machen, daß die Ängsten nicht das Übergewicht bekommen und man vor Angst umkommen muß, wie Tante Ninette sagte?«

»Mein liebes Kind«, entgegnete der Vater, »wir müssen es so machen: Bei allem, das uns begegnet, müssen wir gleich denken: das kommt mir vom lieben Gott. Ist es eine Freude, so haben wir gleich den Dank dafür im Herzen; ist es ein Leid, so kann es uns nicht so sehr erschrecken und ängstigen; denn wir wissen ja gleich, daß der liebe Gott uns nur schickt, was immer zuletzt sich für uns als etwas Gutes erweist. So können wir nie umkommen vor Angst; denn wenn uns auch ein Unglück so schwer trifft, daß wir keine Hilfe und keinen Ausweg mehr absehen, so weiß doch der liebe Gott einen und kann auf einmal etwas Gutes aus einer Sache machen, die uns ganz unheilvoll und niederdrückend erschien. Verstehst du das, Dora, und willst du auch daran denken, wenn du solches erleben wirst? Denn jeder hat schwere Tage zu erfahren; dir werden sie auch kommen, liebes Kind.«

»Ja, ja, jetzt versteh' ich's schon; ich will auch gewiß daran denken, Papa«, versicherte Dora; »ich will auch viel lieber sicher sein, als so große Angst haben.«

»Wir müssen aber noch etwas nicht vergessen«, fuhr nach einer Weile der Vater wieder fort, »daß wir auch an den lieben Gott denken, nicht nur, wenn uns etwas Besonderes begegnet, sondern auch bei allem, was wir thun und Ihn dabei fragen: ›Ist dir's so recht?‹ So kommen wir dann zu der rechten Sicherheit und sind gleich beim lieben Gott, wenn ein Unheil kommt und wir Ihn so nötig haben. Wenn wir aber sonst nie an Ihn denken, und das Unglück naht, dann finden wir fast den Weg nicht mehr zu Ihm, da wird die Angst in uns am allergrößten.«

»O, ich will gewiß nicht den Weg verlieren«, sagte Dora eifrig, »ich will gewiß den lieben Gott alle Tage fragen: ›Ist dir's so recht?‹«

Der Vater streichelte zärtlich die Hand des Kindes, die in der seinigen lag. Er sprach nicht mehr, aber in seinen Blicken lag eine so große Liebe und Fürsorge für sein Kind, daß es sich wie von einer sicheren Macht umgeben fühlen mußte.

Golden sank die Sonne hinter die grünen Bäume hinab und Vater und Kind wanderten dem hohen Hause in der schmalen Gasse zu.



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