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Das deklamatorische Theater

Es gibt naturgemäß einen zweifachen Theaterstil, je nachdem die eine oder die andere Seite der Schauspielkunst, die Sprache oder die Mimik, den Hauptton erhält. Beide gleichmäßig zu betonen, ist ein Traum; soll die Mimik zur vollen Entfaltung gedeihen, so wird sie den deklamatorischen Teil in den Schatten rücken, ja, falls sie nicht durch eine gesunde Ästhetik und das Ansehen einer übermächtigen und mutig auftretenden Poesie gezügelt wird, die Deklamation durch Verstümmelung und andere Operationen mißhandeln, eine Tatsache, zu welcher wir gegenwärtig in Deutschland die Illustration besitzen. Umgekehrt sind ästhetische Gründe vorhanden, weshalb die vollkommene Entwicklung der Deklamation, wie wir sie in der antiken und im minderen Grade in der französischen Tragödie treffen, die Mimik auf konventionelle symbolische Andeutungen beschränkt. Der Gegensatz der theatralischen Ausdrucksmittel verbindet sich dauernd mit der Verschiedenheit des Kunstwillens, so daß die Mimik, weil sie die größtmögliche Realisierung und Illusion anstrebt, den realistischen Stil des Dramas begünstigt, während die Deklamation, welche die Phantasie aus einer gegebenen szenischen Situation in die Allgemeinheit der Ideen hinüberführt, dem idealen Drama ruft. Nun sind hier, wie überall in der Kunst, die verschiedenen Stile, wofern sie nur wahrhaftig eine besondere Schönheit bezwecken, von Kunst wegen gleichen Ranges, nicht aber vom Standpunkt der Kultur und der Poesie im höheren Sinn des Wortes. Indem nämlich die Deklamation die geistigere Seite der Schauspielkunst darstellt, indem sie ferner den Gedankengehalt und vor allem die lyrischen Elemente des Dramas bevorzugt, gegen welche die Mimik sich so feindlich zeigt, muß das deklamatorische Theater das höhere genannt werden. Nun kommt es freilich weniger auf die Stellung einer Kunstgattung in der geistigen Hierarchie an als auf die Betätigung derselben durch herrliche Beispiele, und darum möchte ich weder die griechisch-französische Tragödie über die germanische setzen noch überhaupt wünschen, daß das germanische Drama seinen heimatlichen Boden verließe, um einem fremdartigen Ideal nachzujagen; ich bitte also in dieser Beziehung, meine Bemerkungen nicht falsch auszulegen. Alle Völker können nicht alles, und die Beschränkung des Willens ist eine Tugend.

Jederzeit ein verhängnisvoller Fehler ist dagegen die Beschränkung der Einsicht; und vor diesem Fehler haben wir uns, wie mir scheint, nicht zu bewahren gewußt. Hätten wir nie das Dasein und die Daseinsberechtigung eines Schauspiels mit deklamatorischem Hauptton aus den Gedanken verloren, wir würden nicht in jenen literaturfeindlichen Fanatismus gegen Dialog und Monolog verfallen sein und unsere Auffassung des Dramatischen und Theatralischen würde nicht jenen einseitigen, puritanisch-methodistischen Sektengeist bekunden. Wir würden auch begreifen, warum die Franzosen sich trotz hundertjährigen Bußpredigten nicht zu unserm Standpunkt bekehren wollen, und wir würden endlich aufhören, die Entwicklung Schillers nach der deklamatorischen Seite hin als einen Rückschritt aufzufassen und zu beklagen. Wie gesagt, es fällt mir nicht ein, irgend jemand irgend etwas zu verleiden. Wenn ich aber sämtliche Parteien der deutschen dramaturgischen Kritik, wie feindlich sie auch sonst gegeneinander seien   und sie sind wahrlich feindlich gegeneinander  , in dem Punkt übereinstimmen sehe, das Drama über einen einzigen Leisten schlagen zu wollen, so halte ich es für notwendig, daran zu erinnern, daß es von Natur und Vernunft wegen zwei verschiedene Hauptstile der theatralischen Literatur gibt und ewig geben wird.


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