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Sind wir Heuchler?

Und nun gehe ich von allgemeinen Betrachtungen zur diplomatischen Geschichte des gegenwärtigen Falles über, wie ich das muß, um unsere moralische Stellung klar zu machen. Doch zuvor, damit ich, angesichts der auffallenden Unvereinbarkeit zwischen dem wohlbekannten persönlichen Charakter unserer Staatsmänner und den Taten, die sie amtlich verantworten, nicht jedes Vertrauen einbüße, muß ich ein Wort über die besondere Psychologie englischen Staatsmännertums sagen. Nicht nur zum Nutzen meiner englischen Leser (die nicht wissen, daß diese Psychologie eine besondere ist, wie sie nicht wissen, daß Wasser irgendeinen Geschmack hat, da sie es immer im Munde haben), sondern als Fürsprache einer milderen Beurteilung seitens der großen Welt.

Wie ungerecht uns das auch scheinen mag, wir wissen vom Hörensagen, daß im Ausland, sogar da, wo man uns wohlgesinnt ist, die Ansicht vorherrscht, unsere vorzüglichen Eigenschaften würden von einem unverbesserlichen Hang zur Heuchelei verdunkelt. Für Frankreich waren wir von jeher das »perfide Albion«. In Deutschland würde man zurzeit dieses Epitheton als viel zu schmeichelhaft für uns ablehnen. Viktor Hugo erklärte die vergleichsweise Unbeliebtheit von »Measure for Measure« unter Shakespeares Bühnenwerken damit, daß der Charakter des Heuchlers Angelo unsere nationale Eigenart allzu getreu auf die Bühne stellt. Pecksniff wird in Amerika nicht als ein solcher Ausnahmeengländer angesehen wie in England selbst.

Dieser unser Ruf ist nicht ganz unbegründet. Die Welt hat kein größeres Interesse daran, gerade England mit diesem besonderen Laster der Heuchelei zu brandmarken und nicht Frankreich. Und doch zitiert man nicht Tartuffe als typischen Franzosen, wie man Angelo und Pecksniff als typische Engländer zitiert. Wir mögen uns ebenso entrüstet dagegen verwahren, wie die preußischen Soldaten gegen ihren ebenso allgemeinen Ruf für Wildheit in Plünderung, Beutezug und Raub; etwas ist doch daran. Beurteilt man einen englischen Staatsmann nach seinem Tun, bewußter Absicht, Äußerung und persönlichem Eindruck, so wird man meist einen liebenswürdigen, geraden, humanen, strengen, wahrheitsgetreuen Mann finden. Schätzt man ihn aber, wie der Ausländer nicht anders kann, nach seiner amtlichen Handlungsweise ein, für die er verantwortlich ist und die er im Interesse seiner Partei im Parlament zu vertreten hat, so wird man oft zur Schlußfolgerung kommen, daß dieser ehrenwerte Gentleman ein gewissenloser Hochstapler und Narr und schlimmer ist als Cesare Borgia und General von Bernhardi in einer Person und in der auswärtigen Politik ein ganzer Bismarck, bis auf dessen Fähigkeit des Kommandos, seinen derben gesunden Menschenverstand und seine Freiheit von Selbsttäuschung mit Bezug auf Art und Ziel eigener Diplomatie. Und die ständigen Beamten, denen unsere Staatsmänner ausgeliefert sind, werden diese und noch ganz andere Benennungen verdienen. So kommen wir zum erschreckenden Gegensatz, der uns jetzt entgegentritt. Dem Machiavelli Sir Edward Grey in der Berliner Presse und dem liebenswürdigen, beliebten Sir Edward Grey, wie wir in England ihn kennen. Wir sind in England alle bereit, vor irgendeinem Weltkongreß Rede zu stehn und zu sagen: »Wir wissen, daß Sir Edward Grey ein ehrlicher englischer Gentleman ist, der als wahrer Patriot und Friedensfreund es gut gemeint hat. Wir sind dessen ganz gewiß, daß, was er tat, anständig und richtig war; wir wollen keinen Unsinn über das Gegenteil hören.« Der Kongreß würde antworten: »Wir wissen von Sir Edward Grey nur das, was er getan hat, und da darüber kein Geheimnis und keine Frage besteht, weil die ganze Geschichte von ihm selbst berichtet wurde, müssen wir England für sein Verhalten verantwortlich machen, indem wir euer Wort dafür nehmen, daß, was für uns ohne Belang ist, sein Verhalten mit seinem Charakter nichts zu tun hat.


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