Willy Seidel
Der Buschhahn
Willy Seidel

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Totentanz

Als Vorlage für die Schilderung diente mir der folgende mündliche Bericht:

»In Safa-i, Matautu, Gagaemauga, auf Sawaii, einer Dorfschaft, die im Jahre 1895 Hauptstadt von Sawaii wurde, da der Häuptling Suisala von den drei Mächten (Deutschland, England und Amerika) zum Gouverneur ernannt war und dort seinen Wohnsitz hatte, starb dessen Tochter, die Taupou Bimatatetele, »Das Große ABC«. – Sie wurde auf altsamoanische Weise beerdigt.

In Samoa hat die Dorfschaft Fasito-o alte Vorrechte; so erfreut sie sich der Beerdigungsprivilegien bei angesehenen Häuptlingen, deren Frauen und den Dorfjungfrauen.

Nach dem Tode der erwähnten Taupou wurde die Beerdigungsmannschaft benachrichtigt – sie kommen aber auch ungerufen, wenn sie die Nachricht aus anderem Wege rechtzeitig empfangen; – worauf sie von Toapaipai, das jetzt vom Vulkan verschüttet ist, im Aufzuge geschmückt erschienen. – Voran schritt der Manaia von Fasito-o, ein hoher, schlanker, tadellos gebauter junger Mann, total nackt, mit Halsschmuck aus Walroßzähnen (ula lei) und den Körper glänzend mit Kokosöl eingeölt. In der Hand hielt er einen am einen Ende zugespitzten und am anderen Ende halbrund geschärften Hartholzstock (melei), der gewöhnlich zum Entfasern von Kokosnüssen gebraucht wird.

Die Leiche lag in der großen Häuptlingshütte; diese diente vorher der Taupou und ihrer Auluma zur Wohnstätte. (Diese»Unterhaltungsmädchen« sind zur Bedienung der Taupou und der Gäste da; gewöhnlich sind unter ihnen mehrere, die entweder schon einmal mit einem Mann durchgebrannt sind oder bereits verheiratet sind und Kinder haben – solche »Heiraten« werden nicht anerkannt –; die beiden letzteren Kategorien sind in fast allen Fällen für den Beischlaf da und werden ›pate‹ genannt.) – Bei der Taupou waren die engeren Familienmitglieder: Männer, Frauen, Mädchen und Jungen zu ehrlicher Trauer versammelt; gerade wie bei uns zu Hause wurde der Wert der so früh Dahingerafften gepriesen und dem Elternpaar kondoliert. Plötzlich spitzte alles die Ohren. Es ertönte ein dumpfer Gesang von ferne; und wer war es? – Die herannahenden Fasito-o-Leute; sie kamen von Toapaipai, Salago und Saleaula her. Ich wußte nicht, was es bedeuten sollte, daß die Leute sich so bestürzt ansahen. Seltsamerweise leerte sich das Haus mehr und mehr. Lauter und näher kam der eintönige Gesang. Fast alle Leute hatten das Haus verlassen; es blieben tatsächlich nur zwei uralte Weiber zurück, die furchtbar laut jammerten. Die eine fächelte, der Fliegen wegen, die Leiche, die andere räumte im Hause auf und legte Matten und Blumen bei der Entschlafenen zurecht. Währenddessen langte der Zug auf dem Dorfplatz (malae) an; ich erklärte mir jetzt auch, warum die Familienmitglieder bis auf die alten Weiber ausgerückt waren. Scham vor dem Gesang der Totengräber hatte sie fortgetrieben. Das Lied ist kurz und lautet in freier Sinnwiedergabe:

»Schade, schade ist's um den Schoß dieser Häuptlingstochter, der unfruchtbar hier in der Erde verrotten muß, ach, auf ewig uns entzogen!«

Rings im Halbkreis standen die Fasito-o-Leute; der Manaia, ganz nackt, erklomm den am dichtesten beim Hause stehenden Kokosbaum und warf die grünen Nüsse herunter. Wieder unten angelangt, stieß er den Hartholzstock in die Erde und begann die Nüsse zu schälen. Die grünen Teile der Faserhüllen warf er auf den Leichnam unter Scheltworten, daß sie, die Taupou, so früh von ihnen geschieden sei. Er fing an, die Nüsse zu trinken; und als er nicht mehr konnte, bespritzte er den Körper mit Saft, kaute nach Belieben von den weichen Kernen und beschimpfte und bespuckte den Leichnam. Hierauf näherten sich Leute der Familie, die in der Zwischenzeit die größten Schweine, die fettesten Hühner und sonstige samoanischen Delikatessen zubereitet hatten und kündigten das Mahl an. Der Fasito-o-Manaia band sich ein Lendentuch um und ging mit den Beerdigern ins Haus. Es erfolgte die übliche Dank- und Begrüßungsrede mit Antwort und Kawa. Das nächste war ein opulentes Essen, wobei die Tugenden der verstorbenen Jungfrau gepriesen wurden. Die alten Weiber und Mädchen reinigten den Körper, salbten ihn mit Öl, zogen ihm das feinste Kleid an und versetzten ihn in völligen Brautschmuck mit Kopfaufsatz und allem, was dazugehört. Nach dem Gelage wurde der Leichnam aufgefordert, der Gesellschaft einen Tanz zu geben, da sie doch so schön tanzen könne. Da eine Antwort der Toten ausblieb, so wurde sie von zwei jungen Leuten unter der Behauptung, sie sei ja gar nicht tot; sie schlafe nur, auf den freien Dorfplatz gebracht. Bei den üblichen Liedern entwickelte sich, unter der Leitung des Manaia, der Tanz. Die Tanzbewegungen der Taupou wurden durch die den Leichnam tragenden beiden jungen Männer erzeugt. Es sah scheußlich heidnisch und barbarisch aus, als der Körper mit hin- und herschlenkernden Armen und Beinen diese tollen Bewegungen vollführte. – Darauf folgte eine längere Pause, während der Leichnam entkleidet ward und seine gewöhnliche reinliche Kleidung wieder erhielt.

Später erschien ein Faifeau, ein samoanischer Missionar der londoner Missionsgesellschaft, und machte den Leuten einige leise Vorwürfe über die eben stattgefundenen heidnischen Gebräuche; er wurde stillschweigend angehört. Sicher wurden diese Vorwürfe auch nicht sehr ernst von ihm gemeint, besonders da so leckere Bissen für ihn übrige blieben; diese Faifeaus sind Hypokriten erster Klasse. Auch bin ich überzeugt, daß die Leute seine Mahnungen in diesem Sinn auffaßten. Für sie alle, die Familie, war die ganze Prozedur ja eigentlich nur eine Ehrung der Leiche. Unter einem protestantischen Gebet fand die Grablegung statt. Das Grab war am Grunde wie an den Seiten mit großen flachen Korallenplatten ausgelegt. Der Leichnam wurde hineingebettet und nach abermaligem Gebet und vielem Weinen mit ebensolchen Platten zugedeckt, so daß er in einem geschlossenen Steinsarkophag ruhte. Die Zeremonie war zu Ende. Bevor die Gäste Abschied nahmen, wurden sie noch reichlich mit Speisen und Geschenken bedacht.

Ächzend fuhr Gerhart aus dem unruhigen Schlaf . . . Schwache Schatten, wie winkende Finger, webten vor der einzigen offenen Jalousie in der Hütte. Die Palmschößlinge, die die Pflanzung draußen umrahmten – voll von haarigem Bast, gleich dem Jugendflaum an Tieren – schienen lebendig zu sein. Die Triebkraft der Schäfte spaltete sie mit leisem Knirschen. Zärtlich eingebettete Bündel von künftigen Wedeln träumten von glorreicher Entfaltung in Lichtbädern, die höher waren, als sie ahnten; doch noch fern in mütterlicher Nacht vergraben.

Für einen Augenblick hatte Gerhart das seltsame Gefühl, das plötzlichem Fallen durch den Raum gleicht: nicht zu wissen, wo er war. Dann ward er sich bewußt, daß ein fremdartig trillerndes Geschrei aus der Schwärze hervordrang, untermischt mit taktmäßigem Klappern. Um ihn herum, jenseits des Lichtkreises der Nachtlampe, blähten sich Fliegennetze, von schlaftrunkenen Gliedern bewegt, kam zischelndes Flüstern und eine allgemeine weiche und unvollkommene Bewegung. Grothusen, der zwei Schritte entfernt von ihm lag, sprach vor sich hin in die Dunkelheit: »Nichts von Bedeutung. – Bleiben Sie ruhig liegen! Ein Begräbnis.«

Er sprach wie ein alter Arzt, der eine alltägliche Tatsache von sich gibt, die nichts Erstaunliches an sich hat. Gerhart setzte sich halb auf. Das klang wie elementares Weh, das aus vielen nachtgepreßten Lungen plötzlich einen Ausweg suchte und schnob und schluchzte . . . Es hielt sich auf unverminderter Höhe . . .

Unruhe ergriff ihn. Wie fremdartig waren die Palmwedel, die da draußen nickten und winkten! – Jedes Ding, ja selbst die Erde, atmete anders, so als ob mit jenem sinnlosen Geplärr das letzte Band zur Heimat zerreiße; als ob alles jener leichten Verzerrung verfalle, die plötzlich einsam 147 macht wie die Gegenwart dunkler Gefahr, deren Wesen man nicht erkennt.

Der Lärm stockte jäh. Nur das Gebell der aufgeschreckten Hunde blieb zurück, ein Kläffen, das nach beiden Seiten des Strandes verebbte. Ein zwitschernder Tumult rollte unfern vorbei: die Fliegenden Hunde, aufgestört, taumelten erregt in dunklen Gruppen durch die Pflanzung. Eine seltsame Innigkeit des Gehörs befähigte Gerhart, kleinsten Lauten zu folgen, wie sie in die Schwärze entschlüpften.

 

Grothusen machte eine hastige Bewegung. Irgend etwas schien ihn zu verblüffen, und sein roter Kopf, witternd bewegt wie der eines Fuchses, schimmerte kupfern, sooft das Licht auf ihn fiel – das winzige Glühwurmlicht, das die Geister scheuen.

Dieser Mann da – dachte Gerhart – ist erstaunlich. Er liest im Buche der Nacht; er versteht jedes Wort, jede Silbe dieses barbarischen Aufstöhnens, dieses erbarmungslosen Bestattungs-Zeremoniells. Geheime Wissenschaft ward ihm zuteil . . . Ob er auch die Sprache der Vögel kennt? – Den schallenden Zank der Hautgeflügelten? – Das rhythmische Sieden der Zikaden? – Oder gar den seltsamen Zischlaut der großen Meerschildkröte, wenn sie unter den Mangroven stecken bleibt, wenn sie sieht, daß die Welt sinkt, daß es Ebbe wird, daß ihre königlichen Paddelruder nur Schlamm aufwerfen statt grünen Gischtes, der ihre Seele war –? Und er gedachte, er wußte nicht wie, jenes Schildkröten-Schicksals . . .

Hinter dem Tivoli-Hotel in Apia hatte sie auf dem kurzen Gras gelegen, wie gekreuzigt in ihrer mächtigen Plattheit: ein Opfer für die Schlachtbank. Die Sonne wütete auf ihren feuchten Fibern; sie litt alle Urschmerzen der Kreatur. Senkrecht gestellte Augenlider, wie bläuliche Schiebetürchen, trennten und vereinten sich zu krampfhaftem Zwinkern. Ihr horniger Papageienkiefer hackte Mulden in den dürren Sand. Blutige Bläschen zerplatzten auf 148 ihren Naslöchern. Ihr Wesen, aus grünem Gischt, aus klarem Silber, dampfte auf, wand sich in Qual und Feuer. Sie war unvergeßlich . . .

Es gibt so vielerlei Sprachen – dachte Gerhart. – Wenn Grothusen den Sinn der Vokale erhaschte, der Silbenketten, die ihm aus der Nacht zugeschleudert wurden, dann verstand er auch die Sprache der Tiere bis hinunter zu jenen stummsten Äußerungen, die aus der Pflanze treten. Nur das Herz versteht solche Sprachen . . . Er kennt jenes ewig Unverstandene und ewig Neue in östlichen Dingen; er ist unter diesem Volk in seinem Element! – Er durchschaut diese einfachen Seelen; weiß Bescheid um ihre Stärken und Schwächen . . . Was für eine beneidenswert-allumfassende, ja geradezu gigantische Leutseligkeit gehört dazu!

 

Doch jetzt geschah etwas dort draußen. Das auf- und abschwellende Murmeln, das rinnende Versgespräch wurde zu gedämpftem Zanken. Plötzlich drang eine einzelne wütende Stimme aus dem Schoß der Nacht. Sie sprach mit monotonem und rapidem Tonfall. Grothusen setzte sich ganz auf und rief leise: »Milikini!« Die Dunkelheit gebar einen lautlosen nackten Jüngling, dessen Augen glitzerten. Grothusen hatte ein scharfes, hastig flüsterndes Gespräch mit ihm, worauf der Jüngling wieder zurücktauchte. Grothusen dachte nach und lauschte noch eine Weile, dann schlug er mit leisem Meckern, in dem noch halbe Ungläubigkeit nachbebte, auf seinen Schenkel. Seine Stimme war weich, o so voll von Verständnis und Schelmerei; dabei voll Vergnügen am Aktuellen, am Seltenen.

»Milikini sagt's und schwört's, und nach dem, was ich da höre, hat es seine Richtigkeit –«, sprach er leise und schob sich hockend in die Nähe Gerharts. – »Sie schlagen den Pfaffen von der London Mission ein Schnippchen – oder auch den katholischen Maristen von Safotulafai . . . Sie 149 begraben den alten Suisala fa‘asamoa! – Das Echte . . .« fügte er bei, mit langgezogenem Kennerlächeln.

 

»Das Echte . . .« tönt es nach. Dies eine Wort gibt dem Raum ein anderes Gepräge. Das Echte prangt in nächster Nähe, und doch darf man nicht daran rühren. Selbst die Bewegungen Milikinis . . . zucken sie nicht mimosenhaft in das Dunkel zurück? – Ringsum atmet das Echte. Und dieser Mann scheint befreundet mit dem Mystischen; er spielt damit und gruppiert es wie ein Adept in zaubrischer Höhle.

Und diese Echtheit der einfachsten Dinge raubt ihnen zugleich ihre Faßbarkeit. Alles wird nackt und fremd; ohne einen Schimmer, ohne die entlegenste Spur von Heimatlichem und nach fremden Gesetzen gebildet. Ein Bann fällt hernieder; gewohnte Augenmaße verzerren sich launenhaft . . .

Wie ist das? – – Geht es ihm, Gerhart, wieder so, daß er Wirkliches mit Unwirklichem vermischt? – Daß der farbige Schatten der Dinge, den sein Hirn bewahrt und vertieft, ihm wichtiger, ja wertvoller dünkt als die Dinge selbst? – Und doch – was gibt es Besseres, als Visionen reifen zu lassen zum Gedächtnis leiblicher Erlebnisse? – Und ist der kurze Schreck vor dem Abgrund nicht einschneidender und sinnlicher als das körperliche Erlebnis des schnellen Sturzes?

 

Gerhart ermannte sich. Er hörte, daß Grothusen weiterredete; trocken und sachlich.

»Suisala,« sagte er, »um den ist's schade. – Sie konnten ihm kein Chinin verschaffen; und nun ist er am Wechselfieber gestorben. Lieber Freund, sehr gefällig; hat mir früher hier sehr geholfen, als ich den Laden in Samalae‘ulu aufmachte. Er war an die Fünfzig und noch stark; sie hätten ihn leicht durchgebracht . . . Aber Apotheken sind unerschwinglich . . .« Sarkastisch: »Weg damit aus dem Budget! – Die Kolonie erhält sich selbst . . . Und Mr. Harrigan ist immer noch naiv und macht Eingaben . . . Was jetzt gerade 150 vor sich geht, fragen Sie? – Ist Ihnen hier in Fagamalu nichts aufgefallen, bevor ich kam?«

Gerhart nickte; er entsann sich: da war ein Sandweg, der sich in ferne Baumgruppen schlängelte: schimmernd und leer in einem schnell sich vertiefenden Zwielicht. Wo die Hütten von Satoalepai begannen, traten Eingeborene in seinen Weg; pflanzten sich schweigsam in seine Bahn. Sie lächelten; doch hatte ihr Lächeln etwas Maskenhaftes. Hinter ihnen sah er ein Haus mit einem enormen kreisrunden Dach, das einzeln stand. Das Haus sog das Zwielicht schneller ein als die anderen; es schien ein Hort von Dunkelheit. Hinter den wenigen Jalousien, die noch offen standen, bewegte sich ein stummer Kreis kalkbeschmierter Köpfe. Nach einer Weile, als es schon ganz finster war, erhoben sich Rufe, quollen ihm nach – als richte man kreischende Fragen in ein Loch, aus dem keine Antwort kam.

»Sehen Sie, das ist's!« rief Grothusen. »Man setzt ihn, schon am frühen Morgen, an den Mittelpfosten und redet mit ihm; rechtet mit ihm; man zählt ihm seine sämtlichen Sünden auf, das ist leicht; jetzt findet man den Mut dazu! Zu seinen Lebzeiten wagte man's nicht. Man erhitzt sich förmlich: Hören Sie nur! Das ist jemand, den er besonders kräftig übers Ohr gehauen hat! Temperament, was?!« Grothusens Augen glitzerten. Er sprach mit scheuem Humor; sein ganzes Benehmen ging auf den Zehenspitzen.

O, der Druck der Stimme da draußen, deren Tonwellen unablässig gegen das weiße Herz stürmen! – O der Wut des kindlichen Dämons, der keinen Einlaß findet; dessen täppische Hautflügel fruchtlos flatternd verbluten! . . .

Weiß Gott – denkt Gerhart – wo habe ich das selbst gesehen; selbst erlebt? . . . Von allen Formen des Todes war dies die farbigste! – – – Saß ich im Dachgestühl einer Samoahütte oder wohnte ich im Baum? – Es ist Äonen her . . . Hießest du nicht Fama‘ile, von Lotofaga, und liegst auf Manono begraben? – Doch nein – du 151 warst Bimatatetēle, die Taupou von Safai, und eine Kolik an verdorbenem Büchsenlachs raffte dich hinweg . . . Und ihm war, als lande er mit einem Sprung im Unerforschten. – Wo bin ich? dachte er . . . Bin ich noch hier? – Oder habe ich mich verwandelt . . .?

 

Ich trage krauses Südseehaar, und die Tätowierung brennt frisch an meinen Schenkeln. Sie ist tags zuvor eingeätzt, und ich spüre die Frühlingsfieber der Mannbarkeit.

Du liegst unter einer Tongamatte; dein Haar ballt sich wie ein Kissen unter deinem Kopf. Ich erstaune ob der Masse deines Haares.

Als ich sehen wollte, wie man dich wusch, verjagte man mich; nun bin ich wieder hier, bescheiden, stumm und ein wenig lüstern; einer von vielen, und ich höre zu, wie man über deine Tugenden schwatzt. Ich habe ein scharfes Auge auf die Schweine und Hühner; ich bin immer zugegen, wo es Kettenmahlzeiten gibt, die Tage dauern können.

Vier Großmütter bedienen die Kawabowle; sie schlürfen gurgelnd der Rangfolge nach. Dann beginnen sie zu plärren, monoton, endlos, auf und niederwippend, in der weinerlichen Ekstase ihres blinden Alters . . .

Und jetzt geschieht etwas.

Es ist schwer zu sagen, was es ist; ich höre nicht nur mit meinen eigenen Ohren, sondern mit dem vereinigten Gehör der ganzen Verwandtschaft; so plötzlich streift es mich, wie der hüpfende Vorschatten eines Gewitters.

Der Gesang der vier Großmütter erlischt zu einem dünnen Winseln; ihrer Inbrunst ist das Mark entzogen.

Und jetzt, jetzt entsteht ein dumpfes, taktmäßiges Geräusch. Man redet erregt und stellt die Richtung fest: es kommt von Toapaipai, vom Fuß des Mauga‘afi. Ich starre durch die Hüttenpfosten, die eine Schlucht von Grün umrahmen: Dort taucht ein Mann auf, ein zweiter, ein dritter, bis 152 ein Zug von zwanzig Leuten sich entwickelt hat . . . Sie kommen langsam in Sicht.

Der weiße Sandweg ist von den Schatten der Palmstämme gesprenkelt und gitterartig von Licht durchbrochen. Ein brauner Körper bewegt sich hindurch; zögernd und ruckweise. Ab und zu erblitzen Glanzlichter auf seiner Haut: sie ist geölt. Um seinen Hals starrt ein Kragen aus Haifischzähnen. Die Tätowierung strotzt unter dem Öl in sattem Blau. Er tanzt an der Spitze der anderen, die Maulbeermatten tragen; die Matten schwanken wechselnd bei der Arbeit der Hüften.

Die Weise, wie der Führer sie leitet, in gebändigtem Vortanz, der alle Muskeln erschüttert, ist das Höchste an animalischer Eitelkeit . . . schamlos naht er sich, unwiderstehlich, warm und widerlich: der Manaia von Fasitoo.

Er erreicht den Dorfplatz.

Die Hütte leert sich; ich werde verscheucht mit den übrigen; denn die Worte des dumpfen Gesangs sind vernehmlich. Aber wenn mein Körper auch entwichen ist, meine Seele harrt weiter am alten Platze aus; meinen dummen Körper sehe ich, kreuzbeinig und ein wenig lüstern, aus einer der halbgeschlossenen Nebenhütten lugen; und ich lache dazu.

Ich sehe den schimmernden Zug von Jünglingen um die Hütte wandeln; meine Seele ist allein darin mit der toten Taupou.

»Mau mau le fu tele,« dröhnt es zu mir herein. »Lea pala vale i le ele-ele, le momogo iai e matou ule tetele«; und jedesmal, wenn das dumpfe »Mau mau« wieder einsetzt, klingt es in mir mit; statt schamverbrannt zu sein, kichere ich in mich hinein . . .

Grüne Nüsse regnen draußen von der Palme in den Sand; der Manaia hat sie erklettert. Jetzt sitzt er wieder am Boden; siehst du ihn? Er schreit im höchsten Falsett des Ärgers; er spaltet die Nüsse auf dem Hartholzstab und 153 entfasert sie mit der Kraft der Leidenschaft; wie gut verstehe ich seinen Zorn, du tote Taupou! Wie unterfingst du dich, zu sterben, bevor du so leuchtendem Mannestum deinen Tribut entrichtet! Sieh, er speit nach dir, er verachtet dich; begreifst du das?

Du regst dich nicht. Die Nußmilch läuft dir übers Gesicht; du blinzelst nicht einmal.

Du verschläfst deine tiefste Schande.

Deine Sippschaft ist gewichen; sie wurde zu Erde, Baum und Strauch.

Du kennst keine andere Verwandtschaft mehr; der Manaia mag sich heiser schreien! –

 

Nun spürt mein Körper, der junge Samoaner im Nebenhaus, ein festliches Verlangen nach den Hühnern, und er stiehlt sich herüber. Die anderen folgen ihm, und bald ist die Hütte wieder voll. Ich schmause eine gebackene Banane und ein Hühnerbein, doch in tiefer Meditation sitzt meine Seele darüber und staunt ihr Idol an: die tote Bimatatetēle.

Man hat sie geschmückt und aufgesetzt. Sie sitzt am Mittelpfosten, kreuzbeinig; die Hände, voll von Schildpattringen, ruhen im Schoß. Ihr Haar steht wie ein Dach vom Kopfe ab. Auf ihm lastet ein Bambusgestell, der Aufsatz der Braut . . . Quasten roter Federn schwanken daran, weinroter Flaum, gerupft aus den Brüsten von Honigsaugern. Ockergelbe und schwarze Maulbeermatten umbauschen ihre Hüften.

Der Manaia erhebt sich; zwei Jünglinge greifen ihr unter die Schultern.

Und das Fabelhafte, das Bejubelte geschieht: die Taupou steht auf.

Man singt leiernd und leise; man pocht und trommelt.

Die Taupou stolpert ein wenig; man muß ihr helfen.

Sie fällt fast der Länge nach hin, doch man ergreift sie sicher.

Sie ist nicht lustig; sie scheint nicht aufgelegt zum Tanzen, denn ihr Kopf, mit einer schleudernden Bewegung, wirft 154 den Turm aus Bambus voll Unmut nach vorn. Sie macht einen ungeschickten Schritt über die eirunden Steine, die die Hütte umrahmen.

Doch draußen angelangt, fällt sie dem Manaia in die Arme, fällt sie auf ein Polster warmer Muskeln, in eine warme Sicherheit, an das Herz des keuchenden Lebens.

Der Manaia tut zuckende Schritte; das Gefolge gliedert sich an.

Der Takt des Siwa wird wilder.

Kaum streift sie den Boden mehr; ihre Füße fahren rhythmisch durch die Luft.

Gellende Verse lohnen ihr; es dröhnt: »Mali‘e, Mali‹e!«

Ihre Muschelketten klirren; ihre Mattenröcke rascheln; ihre Glieder baumeln und schlenkern.

Der Manaia schwenkt sie herum, sie wirbelt in der Flamme seiner tierischen Kraft wie eine bunte Puppe, von fremdem Blut, von fremdem Puls wild und zündend getroffen: gleich als wenn sie bei sengender Sonne in blendendem Grün von Pein nach dem schändlich Geraubten geschüttelt ein ärmliches, letztes Mal noch nach Wärme gierte; nach Wärme, Luft und Licht, nach Gastereien, Gesprächen im Dunkel, Umarmungen und schwellenden Atemzügen bis in ein leidloses Alter.

So tanzt sie ihren letzten Tanz, Bimatatetēle, nach schrillem, hoffnungslosem, verzücktem Takt.

So tanzt die Taupou von Safai ihren Totentanz.

 

Gerhart zuckte zusammen, wie nach einem Albdruck, der die Grenze der Beklemmung erreicht.

Er hörte Grothusen banale Worte äußern, hörte ihn sprechen:

»Wissen Sie, das war, als ich noch für Gravenhagen meine Station hatte, vor dem letzten Ausbruch des Matavanu . . . Die Person war wirklich Goldes wert.« Er krauste die Stirn. »Ihre ganze Auluma schickte sie mir in den Laden; 155 achtundvierzig kauflustige Mädchen; jetzt ist das vorüber, – das Echte, meine ich; – bis auf den schwachen Versuch dort drüben.« Er deutete rückwärts in die Dunkelheit. »Sie sehen, die Leute haben zu starke Angst vor den Missionaren; sie rühren sich nicht mehr aus den Häusern. Sie halten deshalb ihren Spektakel nur des Nachts ab; nicht mehr am hellen Mittag wie damals; die schönen Zeiten haben aufgehört . . . Doch ich habe Sie ermüdet; versuchen wir zu schlafen.« Er rollte sich zusammen und verstummte.

Gerhart blieb noch lange wach. Zwei beerenschwarze Augen, voll der tödlichsten Gleichgültigkeit, starrten ihn an aus der Nacht, verfolgten ihn, ob er auch die Lider schloß. Es sind die Augen, deren ich viele Tausende gesehen habe, dachte er: die Augen des heißen Ostens. Ich gehe durch jene Hirne wie ein Vogel oder ein Hund. Wäre ich turmgroß und hätte sechs Hände und sechs Füße, ich wäre schon nach der nächsten Wegbiegung nichts als eine lächerliche Legende.

Die Stimme aus der Nacht wütete weiter, ohne Pause, ohne Erschöpfung. Und wieder trat ihm sein Morgengang vor Augen; jenes aufreizende, nichtssagende Lächeln der Gruppe, die ihm den Weg verstellt. Und er gedachte des Hauses, aus dem jetzt, zur Nachtzeit, die Brunst der Trauer hervorbrach.

Dort drinnen also hatte einer gehockt, der nicht hatte erwarmen wollen, und die Sonne hatte ihn umsonst mit goldenen Pfeilen gesucht! Dort hatte der Tod gesessen, mitten im bunten Alltag; dort hatten seine schlaffen Kiefern ins warme Blau gegähnt, und er hatte es nicht geahnt!

Und jetzt? Was wird jetzt geschehen? Wird jenes Gesicht auf den Brustkorb sinken? Man peinigt ihn mit Insulten wie mit sausenden Steinen. Wird er nicht plötzlich vornüber fallen und um sich schlagen, gespenstisch belebt, mit unheurem Ächzen, wie ein faulender Urwaldbaum, der alles um sich zerdrückt? 156


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