Ossip Schubin
Peterl
Ossip Schubin

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Bis gegen Ende Juni dauerte die Freundschaft zwischen Peterl und dem kleinen Fräulein ungestört; dann aber trat eine traurige Schicksalswendung in dem Leben des armen Peterl ein.

Die Stiefmama hatte richtig gleich nach ihrer Ankunft in Monplaisir die Zügel der Regierung an sich genommen. Daß aber die Resultate dieses Regierungswechsels so glänzender Natur gewesen wären, wie Frau Ottilie sich's versprochen, hätte Niemand die Kühnheit gehabt zu behaupten, am allerwenigsten ihr Gemahl. Doch ließ er sie gewähren. Erstens konnte er nichts Anderes thun, und zweitens hatte er eine Theorie von der Nützlichkeit des Hörnerabstoßen auf Lager, die er auf Alles und Jedes anwendete, jüngster Zeit mit besonderer Vorliebe auf seine Frau, welcher er bei dieser Beschäftigung mit dem erhabensten Phlegma zusah. –

Wenn sie zu energisch vorging, so z. B. an einem Tage den sämmtlichen Dienstboten kündigen wollte, um ein neues, musterhaftes System einzuführen, schritt er ein, aber durch Kleinigkeiten ließ er sich nicht beirren, – z. B. hatte er gar nichts dagegen, daß sie sich um die Lehrstunden seiner Söhne bekümmerte und abwechselnd die beiden jungen Herren und ihren Hofmeister zu unterrichten versuchte.

Nach vierzehn Tagen bedankte sich der Hofmeister und mußte ausdrücklich gebeten werden, zum mindesten bis zu dem neuen Schuljahr zu bleiben, zu welchem Ausharren er sich nur unter der Bedingung verpflichtete, daß die Stiefmama dem Unterricht ihrer Pflegesöhne weiterhin nicht nur nicht mehr beiwohnen, sondern sich in keinerlei Weise weiter hineinmischen möge. Die jungen Herren aber ergaben sich den unbändigsten und respectwidrigsten Siegesdemonstrationen, führten Kriegstänze auf und brannten ein Freudenfeuerwerk gerade vor den Fenstern der Stiefmama ab.

Das war ja recht abscheulich; als sich die Stiefmama aber bei ihrem Gatten über diesen Unfug beklagen wollte, zuckte er nur die Achseln und sagte: »Liebes Kind! Thu, was Du willst, aber laß' mich aus dem Spiel, ich muß jetzt auf die Jagd« – und schwupps war er ihr entwischt. – Es war Schonzeit, in Folge dessen ging er gar nicht auf die Jagd, sondern irgendwo andershin, – nur um aus dem Haus zu kommen. Dabei stellte er Betrachtungen darüber an, wie komisch es sei, daß sie ihm zu dieser Jahreszeit die Rebhühnerjagd geglaubt hatte. Nun, etwas Gutes habe es doch, wenn man sich eine so eingefleischte Städterin zur Frau genommen!

Hatte es wirklich etwas Gutes? – Außer dem kleinen Vortheil, ihr unter einem falschen Vorwand davonlaufen zu können, sah er nicht viel. Sie hatte andere Interessen, andere Sympathien als er und seine Kinder; sie entbehrte Bequemlichkeiten, die er nicht entbehrte, und wußte Genüsse nicht zu schätzen, ohne die ihm und den Seinen das Leben fast unerträglich gewesen wäre. Das Aergste war, daß sie für die ihrer Obhut anvertrauten Kinder kein Verständniß besaß, daß sich ihre Fürsorge in ebenso grotesker Art zeigte wie ihre Strenge.

Daß Jungen von acht und neun Jahren reiten sollten, schien ihr ganz ungehörig. Es wurde ihnen nur unter der Bedingung gestattet, daß sie im Schritt ritten und sich auf dem Sattel anbinden ließen. Als ihr Mann ihr zu beweisen trachtete, daß es viel gefährlicher sei, angebunden als frei im Sattel zu sitzen, da zeigte sie sich beleidigt und sagte, dann dürften die Jungen überhaupt nicht reiten, – sie habe Medicin studirt, und das Reiten sei für junge Organismen schädlich, es riefe Erschütterungen des Rückgrates hervor, ganz abgesehen von seiner großen Gefährlichkeit. Und als ihr Mann ihr hierauf erklärte, daß er seit seinem sechsten Jahre zu reiten pflegte, erwiderte sie ihm, das sei nicht maßgebend, nach solchen vereinzelten Erfahrungen könne man sich nicht richten, ihr Vorgehen beruhe auf wissenschaftlich begründeten Gesetzen.

»Grau, theurer Freund, ist alle Theorie, . . .« scherzte Herr von Feldeck.

Hierauf ereiferte sich Frau von Feldeck sofort über alles Mögliche, unter Anderem auch über Goethe, welcher sich erkühnt hatte, die Theorie anzugreifen.

An die Theorie dürfe man nicht tasten, behauptete sie, die Theorie sei ein von der Wissenschaft aus einer großen Summe von Beobachtungen gewonnener Weisheitsextract, den ungebildete Menschen nicht zu schätzen wüßten.

Herr von Feldeck wurde ungeduldig. »Ich versichere Dich, Ottilie, wenn es sich um Kinderpflege und Erziehung handelt, ist mir die mit gesundem Menschenverstand gepaarte Erfahrung zehnmal lieber als alle Theorie. Der gesunde Menschenverstand ist ein genialer Autodidact, die Theorie ist immer eine doctrinäre alte Jungfer!«

Nun erging sich Frau von Feldeck des Langen und Breiten über alles Unheil, das die sogenannten »genialen Autodidacten« in der Welt angerichtet hatten. Hierauf erklärte sie dem Gatten, sie müsse den Kindern gegenüber nach ihrem besten Gewissen handeln. Entweder wollte sie Mutterstelle an ihnen vertreten oder sich gar nicht um sie kümmern. Sie wurde heftig und stützig, und da er gegen ihren mit großer Leidenschaftlichkeit gepaarten Eigensinn doch nicht aufkommen konnte, ihm die Auseinandersetzung auch schon zu lange gedauert hatte, so ergab er sich in sein Schicksal und lief seiner Gattin unter irgend einem neuen Vorwand davon.

Lüge und List sind immer die Folgen der Tyrannei, der ehelichen ebenso gut wie jeder anderen.

Nach kaum dreimonatlicher Ehe fing Feldeck bereits an, sich zu fragen, warum er Frau Ottilie denn eigentlich geheirathet habe.

Um ein Heim zu haben – den Kindern eine Mutter zu geben? Unsinn! – Seine Schwester hätte sein Haus gewiß ebenso gut und bedeutend friedsamer geführt, und die Kinder wären eigentlich auch besser versorgt gewesen.

Ja, warum hatte er sie geheirathet? – Das war so gekommen.

Als er im vorigen Spätsommer in Ostende Seebäder genommen, hatte man sie ihm gezeigt als eine junge Dame, die thatsächlich ihren Doktor machen wollte, worauf er sie sich wie eine Merkwürdigkeit besah. Zu seinem großen Erstaunen war sie hübsch, wenn auch zu mager und mit scharfen Zügen. Sie hatte goldblondes Haar, welches, wie er sofort merkte, nicht künstlich gefärbt war, und ging geschmackvoll, fast immer in weiße Wolle gekleidet.

Dies hatte zur Folge, daß er sich mehr als einmal nach ihr umsah. Sie bemerkte seinen Blick, und nun war es an ihr, nach ihm hin zu schielen, wenn er zufällig vorüberkam. Einer seiner Bekannten, der mit ihrer Familie verkehrte, theilte ihm mit, daß er eine Eroberung bei ihr gemacht habe, – genau wie ihn habe sie sich immer den jungen Siegfried vorgestellt.

Er hatte sein Lebtag nie die »Nibelungen« gelesen, aber eine Ahnung davon, wer Siegfried gewesen war, hatte er doch.

Die Schmeichelei that ihre Wirkung. – Er ließ sich ihr vorstellen, bezeigte ihr kleine ritterliche Aufmerksamkeiten und merkte bald, daß sie ihn allen Männern ihres Kreises vorzog. Sie war reich, und seine Güter waren verschuldet. – Zu seiner Ehre sei's gesagt, daß ihr Reichthum ihn eher stutzig machte, als ihn anfeuerte, und daß er schließlich von Ostende abreiste, ohne ein bindendes Wort gesprochen zu haben. Aber der gemeinschaftliche Bekannte, welcher mit ihm nach Böhmen fuhr, lag ihm in den Ohren. Zu Neujahr sandte er nicht nur ihren Eltern, sondern dem gelehrten Fräulein speciell eine Glückwunschkarte. Kurz darauf schrieb sie ihm, sich auf Tatjana in »Eugen Onägin« berufend, einen Brief, der sein Schicksal besiegelte.

Während der kurzen, glühend zärtlichen Brautschaft that er sein Möglichstes, die schlanke Million, welche ihre Mitgift ausmachte, zu vergessen.

Es war ihm gelungen, sich einzureden, daß er thatsächlich in Marie Halbers verliebt sei; aber, als er jetzt, die Büchse, die er nicht losschießen durfte, über der Achsel, die Feldraine entlang schritt, bereitete die Erinnerung an besagte Million ihm doch recht unbehagliche Empfindungen.

Ueberhaupt hatte ihm Marie nach jeder Richtung hin mehr gebracht, als er ihr gegeben, und da er ein durch und durch anständiger Mensch war, so demüthigte und beschämte ihn das Bewußtsein – machte ihn feig, veranlaßte ihn, hinzunehmen, was er nicht hätte hinnehmen sollen, und verhinderte ihn einzuschreiten, wo das Einschreiten dringend nöthig gewesen wäre.

So ging er denn, über die Regierungsexperimente der Stiefmutter grübelnd, recht muthlos zwischen den Weizenfeldern einher, und versuchte sich immer von Neuem mit demselben Trostwort zu beruhigen: »Es wird schon anders werden, – sie wird sich die Hörner abstoßen.«

Aber im Innersten war er sich längst klar darüber geworden, daß seine passive Haltung unwürdig und nur eine moralische Trägheit sei.

Er war nicht der einzige Unbefriedigte der Ehegatten. Vielleicht war seine Frau die Entmuthigtere von beiden.

Sie fühlte es genau, daß »Siegfried« ihre Leidenschaft nicht erwiderte; sie fühlte, daß er mit nichts von dem, was sie veranstaltete, eigentlich einverstanden war, daß seine Nachgiebigkeit gewissen höflichen Rücksichten entsprang, die die Frucht eines schlechten Gewissens, und einer Gleichgültigkeit, die die Folge seines phlegmatischen Charakters war. Vergebens zerbrach sie sich den Kopf darüber, wie sie es anders machen sollte.

Daß sie mit ihrem System nicht vom Fleck kam, merkte sie; was sie anrührte, schien in die Brüche gehen zu wollen. Was hatte sie denn im Grunde nach allen ihren Bemühungen für Erfolge aufzuzählen? Verdruß mit ihren Stiefsöhnen, Verdruß mit ihren Dienstboten – und . . . stillschweigenden Verdruß mit ihrem Mann!

Er war unzufrieden mit ihr, wenn er auch aus Höflichkeit darüber schwieg. Im Grunde seines Herzens war ihm das vergnügte, »alle Fünf gerad sein lassen«, das zur Zeit seiner Schwester geherrscht hatte, viel lieber gewesen als die von ihr eingeführte Musterwirtschaft.

Ja, er schwieg aus Höflichkeit – aus Höflichkeit! Wenn er doch blind gewesen wäre aus Liebe! . . . aber nein, er hatte keine Liebe, – und da er doch ein anständiger Mensch war, so schämte er sich, eine reiche Frau geheirathet zu haben ohne Liebe, – und darum war er höflich . . . geduldig.

Wie der Gedanke sie demüthigte, ihr am Herzen fraß, in der Seele brannte! Was machte sie sich denn aus ihrem Geld! Damit sollte er anfangen, was er wollte, aber ihren Einfluß sollte er gelten lassen, ihr helfen ihre Ideen durchzuführen, mit ihr für ihre Ueberzeugungen kämpfen.

Darum aber war's ihm gar nicht zu thun. Er behandelte sie wie eine Närrin, der man nicht widersprechen darf. Er hoffte, daß die Zeit sie von ihren Schrullen curiren werde . . . . Schrullen . . . Schrullen! . . .

O, das war nicht zum Aushalten kränkend!

Je ruhiger er war, um so gereizter und aufgeregter wurde sie. Da sie im Großen nichts ausrichten konnte, bohrte sie sich in Kleinigkeiten hinein, bewies ihren Dienstboten, ihren Kindern gegenüber eine kindische Rechthaberei, durch die sie sich verhaßt und lächerlich machte, – was sie merkte, ohne die Ursache der heraufbeschworenen Wirkung ergründen zu können.

Sie war unglücklich, und kaum vier Monate verheirathet machte sie sich bittere Vorwürfe darüber, der Wissenschaft untreu geworden zu sein, und dachte mit Sehnsucht an die Zeit zurück, wo sie in Zürich Medicin studirt und gemeinschaftlich mit ihrem Bruder einen neuen Bacillus zu entdecken getrachtet hatte.

Diesem Bruder, welcher noch immer auf den Höhen der Wissenschaft wandelte und seine Bacillenforschungen mit dem alten Eifer betrieb, berichtete sie ihren Kummer in einem langen, ausführlichen Brief, in dem sie ihm zugleich mittheilte, wie sehr sie sich nach dem Verkehr mit einer gleichgestimmten Seele sehne, und ihn dringend aufforderte, sie zu besuchen.

Ende Juli traf der Bruder ein. Er war ein etwas vierschrötiger Gesell mit zwei kleidsamen Schrammen in seinem rothen, aufgedunsenen Gesicht und einem borstigen, blonden Kopf, der wie ein sehr schlecht gemähtes Stoppelfeld aussah.

Er trug eine Brille, hielt sich für unwiderstehlich und hatte über Alles seine eigenen Ansichten.

Herrn von Feldeck war er gründlich zuwider, weshalb dieser noch öfter von Hause weglief als früher. Doktor Emil Halbers merkte das zwar, legte sich den Umstand jedoch auf das schmeichelhafteste aus. Der gute Feldeck wich ihm aus, weil er sich durch die Anwesenheit einer überlegenen Intelligenz gedemüthigt fühlte.

Diese Beurtheilung der Sachlage theilte er seiner Schwester mit, worauf er sich ein Weilchen damit beschäftigte, sie ausbündig zu bedauern, und seine Rede endlich mit dem ermutigenden Satz schloß, sie müsse sich eben in die geistige Minderwerthigkeit des Gatten finden, – man sei nun einmal im Ehestand darauf angewiesen, seine Ansprüche möglichst tief herunterzuschrauben. Es gebe überhaupt keine glücklichen Ehen, und wenn man schon so thöricht gewesen sei, die veraltete Mode mitzumachen, müsse man sich mit Anstand in die Consequenzen finden. Dann erzählte er allerhand Züricher Neuigkeiten, berichtete von dem und jenem weiblichen Genie, das unlängst seinen Doktor gemacht und viel Aufmerksamkeit erregt habe, worauf er seine eigenen Erfolge aufzuzählen begann, – erstlich seine Erfolge in Bezug auf Medicinstudentinnen, dann seine Erfolge hinsichtlich des neuen Bacillus; er hatte ihn zwar noch nicht entdeckt, aber er ahnte ihn bereits und war ihm ganz bestimmt auf der Spur.

Den Rest des Tages drehte sich das Gespräch ausschließlich um Bacillen, und die beiden Geschwister redeten sich nun in solchen Eifer hinein, daß von da an in Monplaisir Alles desinficirt wurde, von der Bettwäsche angefangen bis zum Schwarzbrot. Das ganze Haus roch nach Carbol!

Im Innersten seines Herzens zitterte der Hausherr vor Wuth über das, was er respectwidrig als einen verdammten Schwindel bezeichnete, aber er dachte an die Million seiner Frau und da . . . Er hätte um keinen Preis unritterlich sein mögen; aus lauter Angst sich als Rüpel zu gebärden, benahm er sich, wie man es auf gut Oesterreichisch ausdrückt, wie ein »Papplöffel«.

So ging denn die große Bacillenverfolgung in Monplaisir ihren Weg. Sie sollte eine Aera bilden in der Geschichte der stillen Stätte, – noch um Jahre später sprach die Dienerschaft von jener Schreckenszeit!

Es ließ sich nicht leugnen – die Zustände waren ungemüthlich in Monplaisir, und daß diese Ungemüthlichkeit auch nur mit dem geringsten Nutzen verbunden gewesen wäre, hätte man dem jungen Doktor aufs Wort glauben müssen, denn irgendwie nachweisbar waren die durch seine hygienischen Maßregeln errungenen Erfolge nicht.

Dies aber entmuthigte den strebsamen Gelehrten keineswegs. Unbeirrt fuhr er fort, den Bewohnern von Monplaisir jedes kleine Vergnügen zu vergällen, nicht nur das, welches sonst mit dem Essen und Trinken verbunden war, sondern auch manches Andere; denn überall witterte er den unsichtbaren Feind.

Eines Tages, als Frau von Feldeck in das Studium eines wissenschaftlichen Werkes vertieft, in ihrem Boudoir saß, das eigentlich eine Bibliothek, an allen Wänden mit Bücherschränken garnirt war, stürzte Doktor Emil mit sehr aufgeregtem Gesicht zu ihr herein und schwang ein Zeitungsblatt in der Luft.

»Da hast Du's . . .« rief er; »ich hab' Dir's immer gesagt, nirgends ist man sicher, – nichts soll man unnöthiger Weise anrühren, nicht einmal Blumen . . . am allerwenigsten Blumen! . . .« Worauf er mit lauter Stimme zu lesen begann: »Domingo Freire – hörst Du's, Domingo Freire – hat, wie er der französischen Akademie berichtet, in einem gegen Infection aus der Nachbarschaft sehr geschützt (zwei Meilen von Rio und 50 Meter über dem Meeresspiegel) liegenden Garten aufgeblühte Blumen unter möglichster Vermeidung jeder Uebertragung von Mikroorganismen durch die benützten Instrumente abgeschnitten und in Nährflüssigkeiten fallen lassen, in denen sich alsbald Colonien – hörst Du's, Marie? – Colonien! verschiedenartiger pathogener oder verdächtiger Bacillen entwickelten. Aus der Blüthe einer nach Rothschild benannten Rosenspielart wurde Leptothrix ostracea gezüchtet und aus der von rosa gallica (centifolia) sogar zweierlei Bacillenstöcke, nämlich Streptococcus pyrogenes und eine neue Bacillus gallicus genannte Form. Freire meint, daß hier nicht nur der Zufall seine Hand im Spiel habe, sondern daß gesetzmäßige Beziehungen zwischen den Bacillenarten und den Blüthen bestehen, in denen sie angetroffen werden, als Beweise solcher Beziehungen deutet er folgende Erscheinungen. Die Kulturen von Leptothrix ostracea besitzen, bevor sie schließlich ziegelroth werden, denselben Farbenton wie die Spielart Rothschild.«

Doktor Emil ließ das Blatt auf einen Tisch fallen und sich selbst in einen Lehnstuhl –, »es ist schrecklich . . . schrecklich! . . . die Unvorsichtigkeiten, die man aus Mangel an wissenschaftlicher Bildung begeht, die Gefahren, denen man sich aussetzt! . . . Höre nur weiter . . .«

Und nun folgte eine lange Aufzählung der Blumen, mit welchen man in Folge ihrer Bacillenverdächtigkeit den Verkehr meiden müsse, – vor allen anderen zeigten sich verschiedentlich, besonders anmuthige Rosengattungen verpönt. »Denke Dir, aus der wundervollen nach Rothschild benannten Rosenspielart wurde Leptothrix ostracea gezüchtet!«

Während nun Frau Marie sämmtliche Rosen, welche zum Schmuck der Stuben herumstanden, mit Carbol anspritzte, spazirte der Doktor etwas tiefer in den Park hinein, um für seinen, durch den Artikel mächtig erregten wissenschaftlichen Eifer neue Opfer zu suchen. Da bemerkte er plötzlich etwas, das ihm, wie er sich später ausdrückte, einen Schauer von Hagelkörnern über den Rücken trieb. Es war Liesel, die neben Peterl im Grase saß und ihm liebevoll die Ohren zauste. Sie hatte ihm soeben einen Kranz von Rosen über den Kopf gezogen, und in diesem Halsschmuck, welcher ihn ihrer Ansicht nach vortrefflich kleidete, fand sie ihn ganz und gar entzückend. – Er seines Theils warf sich hin und her vor Wohlbehagen und leckte ihr aus Dankbarkeit den kleinen Arm – das hatte der junge Mediciner ganz deutlich gesehen: der Hund berührte den Arm des Kindes mit seiner Zunge!

Nun gab es auf der Welt nichts Bacillenhaltigeres als eine Hundezunge, da ein Hund bekanntlich ungenirt an allerhand Dingen herumleckt, die er lieber ungeschoren lassen sollte. Und obendrein trug er einen Kranz aus Rosen um den Hals!

Der junge Gelehrte erstarrte vor Schrecken..

Als seine Geistesgegenwart sich von Neuem bei ihm eingestellt hatte, faßte er Liesel unter beiden Achseln und trug die empört aus seinen Händen Herausstrampelnde ins Schloß zurück. Liesel sah sich wie Hülfe suchend nach ihrem Freunde um. Aber der rührte sich nicht. Er saß da wie angewurzelt und machte über den zerzausten Rosenkranz hinüber, der ihm um den Hals hing, ein ebenso hülfloses wie trübsinniges Gesicht. Er sah, daß hier weiter nichts zu thun war. – Ihm ahnte Böses, und seine traurige Ahnung ging nur zu bald in Erfüllung.

Der junge Mediciner wußte der Stiefmama die unausbleiblichen Folgen, welche Liesel's Umgang mit Peter nach sich ziehen mußte, so entsetzlich darzustellen, daß die Stiefmama erklärte, Peterl müsse auf der Stelle weggegeben werden.

In ihrem ersten Schrecken wollte sie auch zugleich die Kinderfrau wegschicken, welche Liesel's Verkehr mit Peterl gestattet, sowie den Kutscher, welcher Peterl bei sich beherbergt und die Freundschaft des kleinen Fräuleins mit dem Hunde wohlgefällig unterstützt hatte. Da sich aber Herr von Feldeck wieder einmal »auf der Jagd« befand, mußte man seine Rückkehr abwarten, um etwas Definitives beschließen zu können.

Gegen Abend kam er zurück, machte sein freundlichstes Gesicht und nannte seine Frau »Mausi«. Eine Anwandlung von Flitterwochenverliebtheit durchwärmte ihre gelehrte Seele. Eigentlich hätte sie am liebsten alle Bacillen der Welt vergessen, um ungestört die Stunde genießen zu können, welche das Schicksal ihr bot. Aber – »die Pflicht vor Allem!« lautete ihr Wahlspruch, und nach dem richtete sie sich.

So erzählte sie denn Herrn von Feldeck mit fliegendem Athem und schreckenerregenden Beiwörtern die ganze Geschichte. Herr von Feldeck verstand das musterhafte Hochdeutsch seiner gebildeten Gattin überhaupt schlecht, am allerschlechtesten aber, wenn es mit hochtrabenden Bei- und Fremdwörtern garnirt war. Für ihn hatte das, was sie vorbrachte, weder Hand noch Fuß. Nur so viel hörte er aus all' dem heraus, daß seine Frau schon wieder im Begriffe stand, einen »Krawall« heraufzubeschwören. Und diesmal riß ihm die Geduld, – die Sache war ihm gründlich zuwider. Er zog seine dunklen Augenbrauen zusammen und begann: »So gut ich's verstehe, Marie« – mit Mausi war's vorläufig zu Ende – »so gut ich's versteh', handelt sich die ganze Aufregung darum, daß der kleine Stallköter meinem Mädel die Hand geleckt hat!«

»Nicht die Hand,« unterbrach sie ihn. »Gott sei Dank, so arg war's nicht, aber den Arm . . . begreifst Du denn nicht, wie gefährlich . . .«

»Nein, ich begreife nicht,« erwiderte der Gatte trocken; »da der Köter eben so gutmüthig als garstig ist – und gesund dazu, begreif' ich Deine Aufregung durchaus nicht. Ich bin zwischen Hunden und Pferden aufgewachsen, und wenn meine Eltern jedesmal das halbe Dienstpersonal hätten hinausjagen sollen, sobald mir ein Hund oder ein Pferd die Hand geleckt hatte, da wären wir weit gekommen!«

»Aber Leopold! . . . bedenke den Fortschritt der Wissenschaft! In Deiner Jugend wußte man noch nichts von Bacillen, man konnte nicht daran denken, Gefahren vorzubeugen, die man nicht fürchten gelernt hatte!«

»Ach der Teufel hole die Wissenschaft, wenn sie Einem jedes Plaisir vergällt, und mit den ewigen Gefahren, denen man vorbeugen muß, laß mich aus! Etwas muß man doch auch dem lieben Gott überlassen!« schnaubte Leopold.

»Gewiß«. erwidert sie ihm in ihrer belehrenden Weise – »nur nicht zu viel!« – Nach einer Pause hub sie von Neuem an: »Uebrigens weißt Du, was den Gottesbegriff anbelangt . . .«

Da aber hielt sich Herr von Feldeck die Ohren zu und lief davon. Er ertrug viel von seiner gelehrten Frau – nur nicht Vorträge über den »Gottesbegriff«.

Natürlich bereute er kurz darauf seine Ungezogenheit und büßte sie ab mit Concessionen.

Schließlich wurde die Angelegenheit folgendermaßen geordnet: die ganze Last der Strafe fiel auf Peterl's schwachen Rücken. Kutscher und Kinderfrau kamen mit einem blauen Auge, d. h. mit einer vernichtenden Strafpredigt davon; aber für Peterl gab's keine Gnade, der mußte binnen drei Tagen entfernt werden. Entweder er kam fort – oder er wurde erschossen.

Bei dem Gedanken, daß sein harmloser kleiner Schützling erschossen werden sollte, weinte der dicke, alte Kutscher wie ein kleines Kind. Und Peterl, der die drei Tage über natürlich den strengsten Hausarrest erdulden mußte, sah ihn mit seinen rührenden Augen immer so traurig an, daß dem Dicken das Herz mit jeder Stunde schwerer wurde.

Die Kutscherfrau rieth ihrem Mann, sich in die Sache zu fügen – »Herrschaft bleibt Herrschaft«, sagte sie – »die Herrschaft hat immer Recht – das ist einmal so – und es handelt sich ja doch nur um ein unvernünftiges Thier!«

»Ach, gib Du mir Ruh',« erwiderte der Kutscher – »ein Hund hat oft mehr Verstand als ein Mensch, – und mehr Herz hat er fast immer; Peterl – mein armer Peterl!« Und dabei klopfte er dem kleinen Köter liebevoll auf den Hals, und Peterl wedelte hierauf mit dem Schweif. Aber er sah immer gleich traurig aus, und seine armen, geänstigten Augen fragten deutlich: »Was nun?« Er hatte nämlich genau verstanden, um was sich's handelte. Denn wenn die hochmüthigen Menschen, die sich so viel besser und klüger als die Thiere dünken, auch nie lernen, die Hundesprache zu verstehen, so verstehen im Gegentheil die Hunde von dem, was die Menschen reden, jedes Wort, – besonders. wenn es auf die Hunde Bezug hat.

Der Kutscher überlegte indessen, wie er es anstellen solle, damit Peterl's Zukunft sich nicht gar zu traurig gestalte. Ihn irgend Jemandem in den umliegenden Ortschaften zu schenken, hätte nichts genützt, da Peterl auf meilenweite Entfernung doch immer den Weg zu seinem geliebten Stallhof und seiner noch geliebteren Liesel zurückgefunden hätte. Er mußte irgendwohin expedirt werden, von wo aus die Gefahr seiner Rückkehr nicht mehr befürchtet zu werden brauchte.

Ein ganzer Tag verstrich; der Kutscher hatte nichts ausgeklügelt zu Peterl's Rettung. Der zweite Tag brach an, die Sonne stieg höher und höher, wendete sich schließlich dem Westen zu; – die Schatten wurden lang – der Kutscher speculirte noch immer. Er hatte indessen Peterl angebunden, damit dieser nicht durch erneuerte Ausflüge in den Park und zärtliche Zusammenkünfte mit Liesel die Empörung der Herrschaften vermehren möchte. Anfangs hatte Peterl geheult und an dem Strick gebissen. Jetzt aber lag er ganz geduldig still vor dem kleinen Hundehaus, das neben die Stallthüre gestellt worden und vor dem er an einen Pflock festgebunden war. Er hatte sich wie eine Schnecke zusammengedreht und sein Köpfchen unter das Hinterbein gesteckt. Er wollte der Zukunft nicht in die Augen sehen.

Der Kutscher saß vor ihm auf einer hölzernen Bank und grübelte noch immer. Einen kurzen Augenblick hatte er daran gedacht, um Peterl's willen den Dienst zu kündigen. Den Gedanken jedoch gab er bald auf. Denn wenn er Peterl liebte, so liebte er auch seine Pferdchen, den schwarzen Lepidus und die blonde Licenz, – er liebte den Stallhof, der mit der Försterei verbunden war, und in dem er mit dem Förster und dem Heger seit beinahe zehn Jahren hauste, – er liebte die Linden im Park, von denen der Geruch im Juni und Juli über die Dächer hinüber in den Stallhof drang, – und vor Allem liebte er Liesel, die ihn manchmal mit ihrer Kinderfrau besuchen kam, und deren Stimmchen girrend und lachend von früh bis Abend aus dem Park herüberklang.

Der Lohn war gut, Arbeit nicht übermäßig und die Herrschaft zu ertragen. Es war eher eine gute Herrschaft. Der Herr war sehr gut, die neue Gnädige . . . freilich, die sekirte oft, – aber bei einem Ehepaar ist immer ein Theil schlimmer als der andere; man muß froh sein, wenn man's aushalten kann. Der Kutscher wußte das aus Erfahrung. Nun, was war zu thun?

Der Heger, dem der Auftrag geworden war, Peterl, falls der Kutscher keine anderweitige Versorgung für ihn ausgekundschaftet hatte, zu erschießen, schritt, das Gewehr über der Schulter durch den Hof, und schielte mit einem recht bösen Blick nach der Hundehütte, vor welcher der unschuldig Verurtheilte noch immer geduldig zusammengekauert lag.

Der Heger und der Kutscher hatten sich wieder einmal in den Haaren gelegen, und der böse Blick war die Folge davon. Sie zankten sich oft, aber das hatte weiter nichts zu bedeuten. Die Versöhnung blieb nicht lange aus. Diesmal war die Sache ernster.

Der Kutscher seufzte tief. – Endlich kam ihm eine Erleuchtung. Er erinnerte sich, daß sein Bruder, der ein Kunstgärtner bei X . . . . war, sich einen der weißen Spitze, die er im zarten Kindesalter kennen gelernt, für seine Frau gewünscht hatte. Damals, als die Knirpse noch in tadelloser Schönheit prangten und Katja's mangelhafte Rassenreinheit von Niemandem geahnt wurde, hatte der Kutscher nicht darauf hoffen dürfen, dem Bruder einen der Hunde zuwenden zu können; jetzt aber lagen die Sachen anders. Er schrieb sofort ein paar Zeilen an den Kunstgärtner, und zwar folgendermaßen:

»Milí bratře (lieber Bruder)!

Durch die besondere Gnade meiner Herrschaft, welche sich bewogen fühlte, mir einen Beweis allerhöchsten Wohlgefallens zu geben, ist mir einer der weißen Spitze geschenkt worden. Bitte telegraphire augenblicklich, ob Du noch wünschest, das Thierchen zu besitzen.

Es hat Eile, da ich im entgegengesetzten Fall Jemand anderen damit beglücken möchte; die Leute reißen sich um die weißen Hunde, die, wie Du weißt, eine große Seltenheit sind. Es warten hier fünf darauf – falls Du den Spitz nicht mehr wolltest, würden sie darum loosen. Ich kann sie nicht alle befriedigen und möchte doch Keinen kränken, aber Du gehst natürlich vor. Also telegraphire sofort Deinem Dich liebenden Bruder

Wenzl Petrzilka.«

Dieser wahrheitsgetreuen Epistel wurde natürlich die gewünschte Antwort zu Theil, nämlich ein Telegramm des Inhalts: »Hund sofort abschicken!«

Der Kutscher athmete erleichtert auf. Dann betrachtete er Peterl, welchen er sonst immer nur mit Liebe anzusehen pflegte, zum ersten Mal in seinem Leben kritisch.

Peterl befand sich entschieden auf einer ungünstigen Entwicklungsstufe. Was würde der Bruder sagen zu den unverhältnißmäßig großen Ohren, zu dem kahlen Schweif? – Hm . . . hm! Das war recht fatal: Peterl würde sich schon herauswachsen, aber leider war der Kutscher der Einzige, der daran glaubte!

Mit schwerem Herzen zimmerte er dem armen Peterl aus Kistendeckeln den Käfig zusammen, in welchem er die Reise antreten sollte. Die Kutscherfrau wusch ihn indessen mit Seife und Soda und knüpfte ihm ein rothes Band um den Hals; dann setzte sie ihm sein Lieblingsgericht, süßen Reisbrei, vor. Aber Peterl merkte, daß etwas Verhängnißvolles im Gange war. Er steckte sein Näschen in den Brei und wandte es gleich darauf ab. Er konnte nichts essen. Die Kutscherfrau redete ihm zu und streichelte sein Köpfchen. Er wedelte mit seinem garstigen Schweif und leckte ihr die Hand, um ihr seine Dankbarkeit zu beweisen, – aber essen konnte er nicht.

Die Kutscherfrau fing an zu weinen, der Kutscher fuhr sie an, dann aber trat ihm selber das Wasser in die Augen.

Als er mit der Kiste fertig war, wurde er nachdenklich.

Es wäre doch zu traurig, wenn der arme Peterl fort müßte, ohne von seiner kleinen Herrin Abschied genommen zu haben. Das meinte die Kutscherfrau auch. Aber wie eine letzte Zusammenkunft herbeiführen?

Wenn es schönes Wetter gewesen wäre, so hätte sich die Sache eher gemacht. Er hätte der Kinderfrau und Liesel aufgelauert im Park. Aber es regnete in Strömen.

Da blieb denn nichts Anderes übrig, als ins Schloß zu schleichen, in das Bügelzimmer einzudringen und eines der Stubenmädchen zu bitten, sich an die Kinderfrau zu wenden mit der Frage, ob sie ihre kleine Schutzbefohlene nicht in den Stall bringen wolle, damit sie von ihrem guten Freund Abschied nehme.

Das Stubenmädchen, welches eine Schwäche für Peterl, nebstbei Gründe hatte, sich mit dem dicken Kutscher gut zu stellen – da er um mehrere ihrer Geheimnisse wußte, – verfügte sich denn auch ganz bereitwillig in die Kinderstube, kam aber mit der entmutigenden Nachricht zurück, die Frau Streubel könne der Aufforderung des Herrn Petrzilka nicht nachkommen, so leid es ihr auch thäte; sie habe strenges Verbot. Diesem zuwider zu handeln, hieße ihre Stelle aufs Spiel setzen. Um die Stelle sei's ihr zwar gar nicht zu thun, Stellen bekäme sie genug und sogar bessere; aber von Liesel wollte sie sich nicht trennen, denn ein reizenderes Kind habe sie auf der Welt nicht gesehen.

Da zog denn der Kutscher wieder ab, in den Stall zurück, wo er sofort seinem Weibe erzählte, wie es ihm im Schlosse ergangen, wobei er natürlich gewaltig auf die Frau Streubel zu schimpfen begann, welche er als eine infame deutsche Intriguantin bezeichnete.

Er selber war nämlich ein Altczeche und hegte die strengsten conservativen und nationalen Ueberzeugungen. Wenn er nüchtern war, äußerten sie sich friedlich. Aber heute hatte er einen Schnaps getrunken, um sich für die bevorstehende Trennung von Peterl zu stärken, – da wurde er immer rabbiat.

Sein Weib fing sofort an, ihm die Leviten zu lesen. – Er gehe viel zu weit und schütte das Kind mit dem Bade aus, – die Frau Streubel sei eine gute Frau, wenn auch eine Deutsche, und daß sie dem Verbot der Herrschaft nicht zuwider handle, sei nur in der Ordnung. »Denn Herrschaft bleibt Herrschaft, das hab' ich Dir schon einmal gesagt,« erklärte sie.

Der Kutscher antwortete nichts mehr – es brummte ihm der Kopf vor Sorgen und Branntwein. Er wendete sich ein letztes Mal zu Peterl und ließ sich seine Kunststücke von ihm vormachen. Peterl führte alles aus, aber mit so traurigen, geduldigen Augen!

Der Kutscher seufzte, dann klopfte er ihn ein letztes Mal ab, seufzte noch einmal und . . . plötzlich legte er den rothen Zeigefinger an die Stirn. Das bedeutete so viel, als daß in seinem Kopf ein neuer Gedanke aufzudämmern begann. Seine Gedanken brauchten sehr lang zum Ausreifen, dann aber waren sie auch darnach.

Wenzl Petrzilka stand auf, schnitt einen langen Papierstreifen zurecht, denjenigen ähnlich, die den Medicinflaschen an den Hälsen hängen, und schrieb darauf: »Hier ist der Hund! Er heißt Peterl. Bitte, seine Struppigkeit zu verzeihen – diese ist etwas Vorübergehendes und liegt in der Rasse. Er wird noch sehr schön werden. Im Uebrigen kann er apportiren, aufwarten, Purzelbäume schlagen und verlorene Taschentücher finden. – Dein treuer Bruder W. P.«

Diesen Steckbrief mußte die Kutscherfrau dem armen Peterl an das Band stecken, welches seinen Hals schmückte.

Und nun hatte die Abschiedsstunde geschlagen – es gab kein Zögern mehr. Peterl wurde in den Lattenkäfig gesteckt. Er wehrte sich, wie er konnte; zweimal entwand er sich seinen Freunden und versteckte sich in die fernste Ecke des Stalls, wo er dann schwanzwedelnd mit Augen, aus denen die Todesangst herausleuchtete, stumm um Gnade flehte. Es nützte nichts – in den Käfig mußte er! Und als er drin war, nagelte der Kutscher den Deckel auf den Käfig. Der Stallbub lud das Gehäuse auf den Einbringwagen, mit dem der Kutscher zur Post fahren sollte, und holperti, polterti ging's hinaus, den dicht umbuschten Weg hinunter, der aus dem Park führte, und in dem die letzten Regengüsse grausame Risse gemacht hatten.

Peterl rüttelte nicht mehr an den Stäben, er war zu müde zur Verzweiflung. Der letzte Hoffnungsschimmer war in seinem kleinen Hundeherzen gestorben. Elend, zusammengekauert, mit gesträubtem Fell lag er in einer Ecke seines Käfigs . . . Da rief ein feines Stimmchen plötzlich: »Peterl! Peterl!«

Er fuhr auf, er zappelte, tanzte, wedelte.

Die sich bereits senkende Sonne trat aus den Wolken, und ihre Strahlen legten sich weich und goldig über das vom letzten Regen noch triefende Gras.

Liesel machte ihren Nachmittagsspaziergang mit Frau Streubel. Jetzt kam sie an der Hand der Gestrengen einen Seitenpfad entlang, der auf die Straße mündete. War es Zufall, oder hatte Frau Streubel ein Einsehen gehabt? Auf Letzteres deutete ein Biscuit in Liesel's Hand.

Der Kutscher hielt. Die Frau Streubel, welche zu finden schien, daß ein Hund im Käfig Niemandem mehr gefährlich vorkommen kann, hob die Kleine so, daß sie dem Peterl das Biscuit zwischen die Stäbe seines hölzernen Kerkers stecken konnte – dann streichelte Liesel noch den Käfig, klopfte mit ihren zarten Patschen darauf herum, rief einmal ums andere: »Peterl! armes Peterl!« bis Frau Streubel erklärte: jetzt sei's genug. – Da zogen die Pferde an, der Wagen setzte sich in Bewegung. – Das Letzte, was Peterl sah, war Liesel, die auf einer hohen, smaragdgrünen Rasenböschung dem davonholpernden Gefährt nachspähte und ihm Kußhändchen zuwarf.

Jetzt wendete sich der Weg. Er sah sie nicht mehr, aber durch das Rauschen der Büsche hindurch hörte er's ein letztes Mal: »Peterl, armes Peterl!«

Er wedelte mit dem Schweif, seufzte auf und – legte sich nieder. Liesel's freundliche Augen hatten ihm ein wenig Muth gemacht. Es würde vielleicht doch nicht gar so schlimm kommen, dachte er.

Nun, schön war's immerhin nicht, was er in den nächsten vierundzwanzig Stunden erlebte. In Folge der Haltestation im Park war der Kutscher knapp vor Thorschluß auf die Post gekommen; es blieb ihm nur noch Zeit, den Hund aufzugeben; dann legte er zum Abschied die Hand auf den Käfig, sagte »Adieu, Peterl!« und die Thüre hatte sich hinter ihm geschlossen – Peterl lag ganz verlassen da in der fremden Poststube zwischen verschiedenen Paketen und Kisten, mit denen er eine Viertelstunde später in den gelben, mit einem doppelköpfigen Adler verzierten Wagen verladen wurde, den er bereits bei der Anfahrt vor dem Postgebäude bemerkt hatte. Dann wurde er umgeladen in irgend einen ganz dunklen Raum, wo neben ihm noch ein Hund bellte und verschiedenes Geflügel, jedes nach seiner angebornen Art, Spectakel machte.

Plötzlich schrie etwas draußen langgedehnt, fürchterlich, dann fing der dunkle Raum an sich zu schütteln, die Gänse schnatterten, die Hühner gackerten, ein Kalb blökte, ja die Wände der dunklen Stube selbst schienen zu stöhnen und zu schreien. – Mit Schrecken dachte Peterl, daß dies überhaupt nicht mehr aufhören würde, – daß das die Hölle sei, von der die Frau des Kutschers einmal mit dem Stallbuben gesprochen, die ewige Qual, mit der die Menschen gepeinigt wurden, die nicht hatten folgen wollen.

Aber er war ja gar kein Mensch, nur ein armer kleiner Hund, und er war immer so brav gewesen!

Anfangs drehte er sich in seinem Käfig herum wie ein Kreisel und bellte, bis ihm der Athem verging. – Dann sank er todtmüde nieder. Er war heiser – er konnte nicht mehr bellen, und rühren konnte er sich auch nicht mehr, da ihm jeder Knochen in seinem Körperchen wehe that. So ließ er denn Alles über sich ergehen.

Von Zeit zu Zeit blieb die dunkle, närrisch herumtanzende und stöhnende Stube, in welcher er sich befand, stehen, und einer oder der andere von Peterl's Reisegefährten wurde herausgeschoben. Erst das Kalb, dann die Gänse. Peterl sagte sich, endlich würde die Reihe auch an ihn kommen, und das war ein Trost.

Und die Reihe kam auch an ihn. Das weißliche Morgenlicht drang durch die Thür der dunklen Stube, als diese mit einem scharfen Ruck zum dritten Mal stehen blieb.

Ein Mann trat herein, stöberte da und dort herum und wollte wieder fortgehen – gerade, als ob er den Gegenstand, den er gesucht, nicht hätte finden können. Da rief von draußen eine Stimme: »Ich weiß es bestimmt – es muß ein Hund da sein – er ist in Risnitz aufgegeben worden – Abends um 7 Uhr!«

Peterl fing an zu bellen, so laut er mit seinem wunden kleinen Hals noch bellen konnte . . . »Haf . . . haf . . . haf!«

»Hab' ich's nicht gesagt?« rief die Stimme von draußen – »jetzt aber schnell!«

In aller Eile wurde Peterl's Käfig ins Freie gesetzt, und zwar auf die gepflasterte Plattform eines Stationsgebäudes, dessen verwischter Umriß gerade anfing, sich aus der Morgendämmerung herauszuarbeiten.

Peterl erblickte bläulich rosa ins Morgenlicht hereinschillernde Fensterscheiben, eine gelb angestrichene Veranda, mit wildem Wein umrankt, in dem der Morgenthau kühlend von einem Blatt ins andere raschelte.

Er athmete auf, während er sich aus seinem Käfig heraus nach einer neuen Wendung seines Schicksals umsah. Drei oder vier Männer, von denen der eine eine rothe Mütze und blanke Knöpfe an einem blauen Rock trug, hatten sich um den Käfig versammelt, und einer von ihnen, der in einem sauberen bürgerlichen Anzug dem Kutscher Petrzilka sehr ähnlich sah, nur daß er einen Schnurrbart trug, erklärte dem mit den blanken Knöpfen: der soeben angelangte Hund sei »etwas Großartiges«, das sein Bruder durch besondere Protection geschenkt bekommen habe, – der Hund heiße »Peter«, und sein Großvater sei der Lieblingshund des Kaisers von Rußland.


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