Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

8. Kapitel.

»Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik«: Nietzsches derzeitiges Verhältnis zum Christentum.


Über das Christentum spricht sich Nietzsche in seinem Erstlingswerk nur ein einziges Mal aus. Nachdem er die berühmte »griechische Heiterkeit« als »die Heiterkeit des Sklaven« charakterisiert hat, »der nichts Schweres zu verantworten, nichts Großes zu erstreben, nichts Vergangenes oder Zukünftiges höher zu schätzen weiß als das Gegenwärtige«, fährt er fort (I, 81):

Dieser Schein der »griechischen Heiterkeit« war es, der die tiefsinnigen und furchtbaren Naturen der vier ersten Jahrhunderte des Christentums so empörte: ihnen erschien diese weibische Flucht vor dem Ernst und dem Schrecken, dieses feige Sichgenügenlassen am bequemen Genuß nicht nur verächtlich, sondern als die eigentlich antichristliche Gesinnung.

Ob es damit seine geschichtliche Richtigkeit hat, mag dahingestellt bleiben. Für Nietzsches Stellung zum Christentum kommt nur in Betracht, daß er den Ernst des ursprünglichen Christentums anerkennt. Aber auch nur eben als Ernst; denn der Art dieses Ernstes zeigt er sich völlig entfremdet. Seine Lebensstimmung, Lebensanschauung, Lebenshaltung ist wenn nicht widerchristlich so doch unchristlich.

Das dionysische Erlebnis, wie Nietzsche es beschreibt, spielt im Christentum keine Rolle. Ihm entspricht etwa bei Paulus das Erlebnis, das er mit den Worten andeutet: »so lebe nun nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir«. Der Spannung zwischen Urlust und Urschmerz entspricht dann etwa der Widerstreit von Fleisch und Geist. Ist Nietzsche der glücklich-Lebendige, sofern er mit der Zeugungslust des Urwesens verschmolzen ist, so hat Paulus darin ewiges Leben, daß er von dem Geist Christi besessen ist. Dann aber hat Paulus ein gesteigertes Selbstgefühl, während in dem dionysischen Erlebnis Nietzsches das Selbstgefühl erlischt. Nachwirkung des dionysischen Erlebnisses ist etwa der metaphysische Trost, Frucht des Geistes ist außer Friede und Freude auch die Liebe. Das Urerlebnis Nietzsches und das Urerlebnis Pauli sind also nach Form, Inhalt und Wirkung verschiedener Art. – Als Urerlebnis Jesu kann wohl das Bewußtsein der Sendung bezeichnet werden: daß er unter einer Notwendigkeit steht, die zugleich zwingt und trägt. Inhalt der Sendung ist, daß er die Toten erweckt. In diesem Erlebnis fällt auch noch der Enthusiasmus weg, mit dem Paulus sein Urerlebnis erlebt. Es ist klarste Besonnenheit.

Für Jesus und Paulus ist die Welt nicht als ästhetisches Phänomen ewig gerechtfertigt, sondern als Wirklichkeit. Denn sie ist im Ganzen und in allem Einzelnen bestimmt durch den Liebeswillen Gottes. Dieser ist freilich so paradoxer Art, daß Gott gerade dem Besten das schwerste Schicksal zubestimmt: das Leiden um der Gerechtigkeit willen ist das Losungswort des Christentums. Begriffen kann die Liebe Gottes nur werden, wenn man die Geschichte des Menschen über den Horizont, den uns der Tod zieht, hinaus verfolgt. Daß man sich mit einer ästhetischen Rechtfertigung des Daseins begnügt, stellt sich dem Christentum als Mangel an Ernst dar. Und zugleich als Herzlosigkeit: wie kann man nur den leidensvollen Untergang des Menschen, ja des Lebewesens überhaupt, als ästhetisches Phänomen gerechtfertigt finden? – In dieser Hinsicht fühlt und urteilt Nietzsche nicht bloß nichtchristlich, sondern widerchristlich.

Endlich hat das Christentum kein Interesse für Kultur. Dem Christen liegt das »ewige Leben« im Sinn. Das Verhältnis zu Welt und Mensch, das sich daraus ergibt, hat für ihn keinen Selbstwert. Gestaltet es sich zu einer gewissen Art von Kultur, so wird diese doch nicht als Kultur erstrebt. Eine christliche Kultur ist nur Nebenprodukt, nicht Zweck des Christentums. Wie also Nietzsche die tragische Kultur auffassen mag, für die er kämpfen zu sollen glaubt: seine Leidenschaft für Kultur ist als solche eine Absage an das Christentum.

Eine leichte Fühlung mit dem Christentum hat er noch durch seine platonische Liebe für das Dionysische. Denn das dionysische Erlebnis, das er wenigstens ästhetisch nachzuerleben sich sehnt, sprengt das Leben in der Kultur und für die Kultur. In der Ahnung wahren Lebens geht er also hinter alle Kultur zurück oder über alle Kultur hinaus. Aber für das dionysische Leben schwärmt er doch bloß: seine wirkliche, wirksame Leidenschaft gehört der Kultur. Und das dionysische Leben ist andrer Art als das christliche Leben. Es ist sinnlicher Enthusiasmus; dieses, wenn es überhaupt Enthusiasmus ist, Enthusiasmus des Geistes und Gemüts.

Das Christentum ist für Nietzsche abgetan. Aber er steht noch vor der Entscheidung zwischen Religion und Kultur. Wird ihm das dionysische Erlebnis Mittelpunkt des wirklichen Lebens, so entwertet sich ihm die Kultur und er wird religiöse Persönlichkeit. Die Verschmelzung mit der Zeugungslust des Urwesens wird dann Ursprung und Ziel seines wirklichen Lebens; der Wert des Lebens wird ihm garantiert durch einen Enthusiasmus der Sinnlichkeit (also einer Sinnlichkeit, die enthusiastisch werden kann). Gewinnt die Leidenschaft für Kultur die Herrschaft über ihn, so kann die Bedeutung der Kultur sich nicht darauf beschränken, daß die tragische Kunst, indem sie das Nacherleben des dionysischen Lebens vermittelt, metaphysischen Trost gewährt; die Schwärmerei für das dionysische Erlebnis, das aus der Kultur herausfällt, wird sich nicht erhalten können, und Nietzsche wird das resolute Leben darin sehen, daß er in die zeitliche Bewegung des Lebens energisch eingreift. Er wird sich verweltlichen.

Er steht noch vor der Entscheidung zwischen »Zeit« und »Ewigkeit«. Doch hat er schon jetzt für die »Ewigkeit« nur eine platonische Liebe, wendet sich schon jetzt seine wirkliche Leidenschaft der »Zeit« zu: so daß die überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür spricht, er werde sich für die »Zeit«, für die Kultur entscheiden.


 << zurück weiter >>