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Am Tage des Urteilsspruches, erkletterte das Publicum die Plätze des Gerichtssaales, drängte sich die Menge in der größten Erregung um Einlaß. Seit Jahren hat kein Criminalproceß die Pariser derart bewegt. Im Musee Grevin ist das schauerliche Verbrechen Marion Fenayrou's plastisch dargestellt. Auf den Boulevards verkauft man Flugschriften, Bilder Gabrielens und ihres Geliebten; im Verlage Calman Levy's erscheint als Bereicherung der Criminal-Literatur ein »schöner Band«, » un beau volume«, wie die Annonce sich ausdrückt, der das Verbrechen von Chatou behandelt.
Der Apotheker Aubert verschwand spurlos – viele Wochen später ward aus der Seine der Leichnam eines Mannes gefischt, der, mit Bleistücken beschwert, ewig am Grunde des Flusses hätte modern sollen. – Ersparen wir uns die Schilderung des Ermordeten. Erwähnen wir nur, daß unter anderen fürchterlichen Verletzungen sein Herz mehrere Male durchbohrt war. Der Mörder ward durch die Schwester des Opfers, Madame Barbey, entdeckt. Es war der ehemalige Brodherr Aubert's, ein jetzt herabgekommener Apotheker, Fenayrou, der erfahren hatte, daß seine Frau, Gabriele, die Mutter von drei Kindern, zu Aubert in sträflichem Verhältnisse gestanden habe. Er drohte seiner Frau, sie und ihre Kinder zu tödten, wenn sie ihm nicht helfe, Rache zu nehmen und versprach ihr seine Verzeihung für ihren Beistand. Der teuflische Plan gelang. Das Pariser Ehepaar miethete in Chatou, einem Sommeraufenthalt der Pariser, ein kleines Häuschen. Gabriele schrieb Aubert, mit dem sie längere Zeit hindurch nicht mehr zusammengekommen war, er möge sie dort besuchen; sie bot ihm, wie sie behauptete, ein Darlehen von 1500 Francs an. Das Rendezvous ward angenommen. Fenayrou verabredete sich mit seinem Bruder Lucien und beredete ihn zur Mithilfe bei dem vorbedachten Morde. Am Confirmationstage des Söhnchens ward zwischen Wein und Kuchen die Schauerthat besprochen. Aubert ging in die Falle. Er begleitete Gabriele nach Chatou. Dort öffnet sie die Hausthüre. Es ist dunkel. Aubert tappt über die Schwelle, da fühlt er sich zu Boden gerissen; er will sich vertheidigen, Gabriele stellt sich auf die Seite des Angreifers, ihres Gatten, und während Lucien, der Bruder, im Garten Wache hielt, ward Aubert in der grausamsten Weise hingeschlachtet. »Könnte ich dich tausend Tode leiden lassen«, schreit Marion Fenayrou einmal über das andere. Die warme Leiche wird auf einen Karren geladen und zur Seine geschleppt, dort mit Bleiröhren, die Fenayrou in der Niederlage einer Gasgesellschaft gekauft hat, beschwert und in die Wogen versenkt. Dann kehrten Alle heim – nach Paris.
Das saubere Ehepaar feiert seine Versöhnung. Marion Fenayrou gibt Gabrielen den Brautkranz zurück, den er aus dem Schlafgemache entfernt hat. Der Rächer der Gattenehre öffnet seine Arme – und am nächsten Tage auch seine Börse – die Arme für Gabriele, die Börse für Lucien, dem er 50 Francs schenkt.
Das in kurzen Umrissen der Inhalt des Dramas. Die Schuldigen gestanden. Das Gericht verurtheilte Marion Fenayrou zum Tode, Gabriele zu zwanzigjähriger Zwangsarbeit und Lucien zu sieben Jahren Kerker. Alle Angeklagten melden die Nullitätsbeschwerde an. Man findet die Gründe stichhaltig und neuerdings ziehen die Bilder des Dramas im Gerichtssaale vorüber. Das Ende ist: Lebenslängliche Zwangsarbeit für Marion und Gabriele, Freiheit für Lucien, von dem angenommen wurde, daß er unter dem Einflüsse seines Bruders zum willenlosen Werkzeuge geworden sei. Wir haben den Proceß nur sehr kurz skizzirt; es spielen darin noch allerlei Dinge mit, welche von nebensächlichem Interesse sind.
Eines aber ist hochwichtig: Gabriele Fenayrou besaß, als sie Aubert mordete, einen anderen Geliebten in der Person eines Journalisten, eines 26jährigen Mannes, Secretär einer Zeitung, Herrn Gersteau. Das Interesse des Psychologen wendet sich Gabrielen zu. Marion Fenayrou ist im Leben ein roher Mensch mit geringem Wissen, ein nachlässiger Geschäftsmann, ein Freund der Karten und der Wetten auf dem Rennplatze. Er ist von mittelmäßiger Intelligenz und wäre durch und durch banal und gewöhnlich, wenn nicht die gräßliche Art der Ermordung Aubert's einen diabolischen Zug verriethe. So wie Fenayrou sehen die Männer nicht aus, welche berufen sind, mit der Waffe in eigener Hand ihre Ehre zu rächen.
So sehen die Verbrecher aus und so handeln sie – Fenayrou wäre wahrlich auch im Stande, einen ähnlichen Mord zu begehen, nur um sich eine große Summe Geldes anzueignen. – Es fehlte ihm nur die Gelegenheit dazu. Die Pariser Jury, welche stets zu einem Freispruche neigt, wenn es sich um Gattenehre handelt, hat das auch empfunden und trotz des glänzenden Plaidoyers seines Vertheidigers, der es nicht an flammenden Worten fehlen ließ, hat die Jury zwar das Todesurtheil umgestoßen, an dessen Stelle jedoch lebenslängliche Zwangsarbeit gesetzt. –
Und Gabriele Fenayrou! Mehrere Schauspielerinnen der ersten Theater wohnten dicht verschleiert der Verhandlung bei. Sie studirten die Züge der entsetzlichen Frau, welche auf der Anklagebank keinen Moment ihre Haltung verlor. Man hat es versucht, Gabriele als ein Product der Zeit hinzustellen. Ich bestreite die Berechtigung dieser Auffassung. Zu allen Zeiten hat es Menschen mit hartem Herzen, Egoisten und Feiglinge gegeben. Gabriele ist Alles das zusammen. Die moderne Vertheidigung, welche sofort die Zurechnungsfähigkeit des Angeklagten bestreitet, welche von unwiderstehlichem Triebe spricht, welche aus einem Ohnmachtsfall Hysterie und aus dieser die Entschuldigung von Sünde und Verbrechen herleitet, ist eine Gefahr für die Gesellschaft. Die Sophistik stellt Sätze auf, welche die Axt an die gesunde Anschauung von Recht und Unrecht legen. Es ist ein Schmerz für die Frauenwelt, wenn man das reizbar nervöse System des Weibes in den Kampf hineinzieht, um eine Verbrecherin zu vertheidigen. Millionen ehrbare Frauen, die keiner Fliege weh thun könnten, werden hiedurch unter das Damoklesschwert der Unzurechnungsfähigkeit gestellt.
Die Verteidigung muß allerdings nach Ausgangspunkten suchen, aber das gesunde Urtheil darf sich nicht bestechen lassen. Das Weib, das seit fünfzig Jahren progressiv fortschreitend seinen Antheil am Menschenrechte verlangt, begehrt auch keine Ausnahmsstellung vor der Gerechtigkeit, die über dem Verbrechen waltet. Gabriele Fenayrou ist keine hysterische physisch leidende, sie ist eine gemeine Natur durch und durch, eine Giftpflanze, die man ausreißen muß. Jeder Ehemann müßte zittern, wenn er daran dächte, daß die Nervosität seiner Frau den Ausschlag zu Mord und Unthat geben könnte! Gabrielens Seelenleben zu erforschen lohnt wahrlich nur für den Criminalisten der Mühe.
Die Heldin des Verbrechens von Chatou ist jetzt eine Frau in den Dreißigern. Sie ist nicht schön, das Gesicht ist verblüht, wohl aber durch glänzende Augen belebt. In der Jugend mag sie vielleicht den Reiz besessen haben, von welchem das zertrümmerte Pastellbildchen, das der Präsident vor sich liegen hat, Zeugniß gibt. Gabriele gehört einer achtbaren, wohlhabenden Bürgerfamilie an. Die Mutter, gebeugt und gebrochen, schwört im Gerichtssaale auf die Unschuld ihrer Tochter und fleht: »Gebt mir meinen Schatz zurück, Ihr Richter, gebt mir mein Kind wieder!« Gabriele hat, wie die meisten Französinnen, in der Pension eine sogenannte gute Erziehung genossen. Die Vorsteherin dieser Pension, schildert sie als sanft, lernbegierig, fleißig, aber als schlaffen Charakter. Sechzehn Jahre alt, schließt Gabriele eine Vernunftheirat mit dem Apotheker Fenayrou.
Dieser liebt seine Frau leidenschaftlich, trotzdem er sie zuweilen heftig behandelt. Nach dem dritten Kinde erkrankt sie und die Aerzte warnen sie vor abermaliger Mutterschaft – Gabriele las viel Romane, ihr Mann genügt ihr nicht, sie ist kokett, ja herausfordernd im Verkehr mit der Männerwelt.
Der junge Aubert tritt als Gehilfe in die Apotheke – er wird Gabrielens Geliebter, der Ausdruck paßt besser, als wenn wir sagen würden, sie wird seine Maitresse. Die Frau ist in diesem Falle der angreifende, der handelnde Theil. Gabriele scheint ihren Reizen nicht allzu viel Vertrauen zu schenken, sie gewöhnt Aubert an große Bedürfnisse und nimmt aus der Casse des Gatten das Geld, welches sie in verschiedenen Zwischenräumen Aubert zusteckt. Die Freunde Aubert's haben behauptet, dieser sei unfähig gewesen, Geld von einem Weibe zu nehmen. Gabriele selbst hielt ihre Behauptung aufrecht. Fühlt diese Frau nicht die doppelte Schmach? Die Diebin in der Casse des Mannes, am Vermögen der Familie, die Buhlerin, die ihren Buhlen erkauft! Die Schande fällt auf Gabriele zurück, denn Aubert war ein junger, leichtlebiger Mensch, der über die Provenienz des Geldes nicht nachdachte und sich in den Genüssen, die er sich damit verschaffte, gefiel. Fenayrou schöpft Verdacht. Aubert ist mittlerweile Apotheker geworden, der mit seiner Buhle die Nothwendigkeit seiner Verheiratung bespricht. Gabriele, welche sich, wie sie behauptet, sehnt, auf den Weg der Tugend zurückzukehren, beginnt damit, daß sie die Geliebte Gerstean's wird, den ihr Mann in ihr Haus gebracht hat.
Gerstean, abermals ein jüngerer Mann als Gabriele, spielt in dem Processe eine bedauerliche Figur. Als Zeuge vorgerufen, schilderte er Gabriele als unverstandene Seele und erklärte, er habe nicht beabsichtigt, seine Beziehungen zu ihr fortzusetzen. Gabriele hat nun zwei Liebhaber auf einmal – Beide nicht sehr leidenschaftlich verliebt – der Eine erkaltet, der Andere kühl. An diesen beiden Liebhabern hat sie nicht genug, sie sehnt sich nach der Zärtlichkeit ihres Mannes, und als dieser, auf Aubert eifersüchtig, fragt und untersucht, gesteht sie Alles – wohlweislich aber nichts von Gerstean. Dieser konnte ja später einmal geopfert werden.
Fenayrou soll Gabriele gedroht haben, ihre Kinder zu tödten, wenn sie ihm nicht helfe Rache zu nehmen. Glaubt eine Mutter an diese Drohung? Glaubt sie, daß der Vater sein Fleisch und Blut aus der Welt schafft, um die Ehebrecherin zu strafen? Nun und nimmermehr. – Glaubt sie an Gefahr für ihr eigenes Leben? Nein, sonst bliebe sie nicht bei Fenayrou; sie weiß, daß unter den drei Männern, welchen sie abwechselnd angehört, der Gatte der für die Zukunft sicherste Verehrer ist. Sie mordet Aubert oder vielmehr sie ist das Werkzeug ihres Gatten, weil ihr Aubert nichts mehr ist. Man las vor 20 Jahren Schauergeschichten aus seinem orientalischen Harem. Eine Prinzessin beschenkt schöne Fremdlinge mit ihrer Gunst und ließ die aus ihren Armen Heimkehrenden überfallen und tödten. Gabriele ist die Erste nicht, welche den gewesenen Liebhaber haßt. Warum sie ihn haßt? Nun eben weil er ihr Liebhaber war. Das liegt auf der Hand. Die Anklage spricht von einem Päckchen Briefe, die in Aubert's Besitz gewesen sein sollen, von denen die Ehre der Fenayrou's abhing, Aubert wollte die Briefe nicht herausgeben.
Er soll die Aeußerung gethan haben, »er fürchte die Fenayrou nicht, er halte sie in der Hand.« Ist noch ein zweites Geheimniß mit verflochten, dann gewinnt der Mord an Boden, dann wird die Ursache klar, weshalb Gabriele Aubert zum letzten Mal 1500 Francs verspricht. Vermuthungen sind zahlreich, das angeklagte Paar will von der Bedeutung der Briefe nichts wissen. Aber die Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß Aubert die Briefe bei sich gehabt, daß die 1500 Francs der Preis dafür waren, daß Marion Fenayrou diese Briefe nach der Ermordung Auberts sich aneignete und vernichtete. Ob diese Briefe ein Verbrechen enthielten? Das Dunkel wird wohl nie gelüftet werden. Nach der Schauerthat von Chatou gewinnt Jeder die Ueberzeugung, daß der Mann, welcher sie so kalt vorherbedacht, nicht zum ersten Mal auf dem Weg der Sünde wandelte.
Gabriele kehrt nach dem Morde heim und feiert mit ihrem Gatten eine neue Brautnacht – die Ehre ist gerächt – von Gerstean weiß der Gatte kein Wort. Und nun fragen wir weiter, warum dies Wüthen gegen Aubert und diese Ruhe gegen Gerstean?
Deutet das nicht sicher darauf hin, das Fenayrou noch etwas Anderes in Aubert sah, als den Mörder seines Eheglückes?
Die Haltung Gabrielens war während der Verhandlung eben so feig wie ihr Benehmen vorher. Sie stellt sich als das Opfer hin. Immer sie und wieder sie – dabei bewahrt sie eine merkwürdige Ruhe. Man sah, die Frau ist fertig mit sich. – Sie weiß, man wird sie nicht zum Tode verurtheilen und sie weiß, daß sie in Neu-Caledonien in der Colonie der Deportirten eine interessante Erscheinung sein, eine interessante Rolle spielen werde.
Und das Urtheil! Lucien frei! Mit Recht ist alle Welt darüber entrüstet. Nichts hat sich geändert und die Jury, welche vor wenigen Wochen 7 Jahre Kerker aussprach, fällt ein freisprechendes Urtheil. – »Ein Dummkopf«, sagen die Franzosen, den sein Bruder beherrschte – dieser Lucien, der für 50 Francs den Aufpasser machte, der den blutigen Körper in die Seine schleppte, ist heute wieder Wähler im freien Frankreich, Zeuge, kurzum ein Mann mit allen bürgerlichen Ehren. Marion Fenayrou wird demnächst nach Caledonien segeln; dort wird er seine Frau erwarten, die man ihm bald nachschicken wird. Die Frau, seine Kinder, nun, die Idylle dieses Familienlebens auf Staatskosten wird reiche Blüthen treiben.
Nein, Gabriele ist kein Product der Zeit – unverstandene Frauen zeichnen sich durch wilden Muth, durch unglaubliche Kühnheit, durch maßlose, alle Schranken niederreißende Leidenschaftlichkeit aus, aber sie werden nicht zu Meuchelmörderinnen, die aus der Casse des Gatten sich fröhliche Stunden im Arme des Geliebten bezahlen. Marion Fenayrou ist ein Verbrecher und Gabriele eine Verbrecherin, nichts weiter – und ob der Mord an Aubert das erste Verbrechen oder nur die Folge desselben war, die Wellen der Seine wissen es und bewahren das Geheimniß.