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Der Aufstand.

Geraume Zeit schon standen die Mannschaften hinter den Mauern der Feste auf den Plätzen, die der Distriktschef und die beiden Unteroffiziere ihnen angewiesen hatten. Mit Ungeduld erwarteten sie das Herankommen der Feinde. Mit gespanntester Aufmerksamkeit blickten alle nach dem Orte hinüber, der in der Morgensonne so freundlich und friedlich vor ihnen lag. Der Sergeant Schauseil holte sogar sein Feldglas hervor, um nach der Kirche hinüberzublicken, auf deren hochgelegenem freien Platz die von der Werft Heranstürmenden zuerst sichtbar werden mußten.

Aber zunächst blieb alles still. Nur im hinteren Teil des Ortes, der bis dicht an die Werft heranreichte, fielen wieder Schüsse. Man hätte fast glauben können, die Herero knallten zum Vergnügen und es sei alles nur blinder Lärm gewesen.

Aber bald genug sollte es sich zeigen, daß man sich in dieser Hoffnung bitter getäuscht haben würde. Die Schießerei war furchtbarer Ernst gewesen. – Schon lagen die ersten Opfer des schrecklichen Aufstandes in ihrem Blute.

Mit gellenden Hilferufen kam eine junge Frau die Hauptstraße daher auf die Militärstation zugelaufen: »Hilfe! Hilfe! Sie morden uns! Hilfe! Hilfe!«

Der Distriktschef ließ das Tor öffnen und eilte ihr selbst entgegen. Er erkannte sie schon von weitem: Es war eine junge Hamburgerin, Fräulein Braun, die für gewöhnlich in Swakopmund lebte, aber vor einigen Tagen hier angekommen war, um Herrn Kestner, den angesehensten Händler des Orts, der mit seiner ganz jungen Frau in dem letzten Hause des Orts dicht beim Hererolager wohnte, zu besuchen.

»Um Gottes willen! Was ist denn geschehen? Sie sind ja verwundet!« rief der Offizier.

Aber die Dame vermochte nicht, ihm zu antworten. Plötzlich brach sie zusammen, von dem starken Blutverlust erschöpft; denn, wie sich gleich darauf herausstellte, war sie von zwei Kugeln in den Arm getroffen worden.

Der Distriktschef ließ die Verwundete in die Feste tragen und in die Krankenstube bringen. Aber erst nach längerer Zeit gelang es dem Assistenzarzt, sie ins Leben zurückzurufen, und nun erfuhr man die grausige Kunde.

»Der Kirchenälteste Johannes hatte uns gewarnt,« erzählte sie, noch immer in furchtbarster Aufregung. »Herr und Frau Kestner, ein Freund von ihnen, Herr Walter und ich – hatten also eben das Haus verlassen, um uns nach der Feste zu flüchten, da fingen sie von der Werst her an auf uns zu schießen. Frau Kestner erhielt zuerst eine Kugel in den Rücken. Mit einem schrecklichen Schrei brach sie zusammen. Ihr Mann warf sich über sie. Im nächsten Augenblick aber kamen die Herero herangestürmt – ein ganzer Haufen – und schlugen ihn mit ihren Keulen tot. – Herr Walter und ich flohen. Aber gleich darauf fiel auch Herr Walter. Ich allein bin entkommen, trotz der beiden Kugeln im Arm!«

Herr Lerse erbleichte, als er die furchtbare Nachricht hörte.

Wenn es den Seinen daheim ebenso erging! Unwillkürlich verquickte sich in seiner von Sorgen erregten Phantasie das entsetzliche Geschick der jungen Frau Kestner mit dem seiner eigenen Frau. – Ein Schuß in den Rücken! – »Marie, warum bin ich jetzt nicht bei dir, um mich auch über dich zu werfen und mit dir zu sterben!« rief es immer und immer wieder in ihm mit peinvoller Selbstquälerei.

Aber jetzt war keine Zeit mehr zu Grübeleien; denn mittlerweile waren die Herero herangekommen, hatten alle Häuser des Orts und selbst die Kirche besetzt und eröffneten ein heftiges Feuer auf die Feste.

Viel Schaden konnten sie damit freilich nicht anrichten; denn die Mauern der hochliegenden Station waren stark genug, um gegen Gewehrfeuer Deckung zu bieten, und Geschütze hatten die Aufständischen glücklicherweise nicht. Aber Hof und Gebäude waren doch immerhin gefährdet, und jedenfalls durfte man die Vorsicht nicht außer acht lassen, wie bald genug das Geschick eines der sechs Reservisten lehren sollte. Trotz der Warnungen des Sergeanten hatte er sich zu weit aus der Deckung gewagt, um nach seinem von den Herero besetzten Hause zu sehen. Gleich darauf hatte er einen Schuß in der Schulter sitzen.

»Na ja! Ich sage ja! Nu haben wir den Salat!« schalt der Sergeant, den Reservisten zurückreißend, damit er nicht noch länger als Zielscheibe für die Herero dienen sollte. »Sowie sie erst mal Zivilisten jewesen sind, is keene Raison wieder rinzukriegen! Was sollen wir denn anfangen, wenn sich unser paar Männekens auch noch zum Verjnügen die Knochen kaput schießen lassen? – Nu warten Sie man, bis die Hereros Frühstückspause machen; denn jetzt können Sie nich zum Doktor laufen, wenn Sie nich noch janz zu Mus jeschossen werden wollen.«

Dabei hatte er aber schon selbst dem Verwundeten den Rock aufgeknöpft, um die glücklicherweise nur leichte Fleischwunde zu untersuchen und mit einem Notverband zu versehen.

Die Westbastion, auf der Herr Lerse über seine zehn Mann das Kommando führte, hatte bis jetzt nur wenig Feuer bekommen. Sie lag am weitesten von dem Orte entfernt und konnte nur mit den besonders weittragenden Büchsen erreicht werden, mit denen die Herero nur vereinzelt bewaffnet zu sein schienen.

Aber plötzlich fiel von der anderen Seite ein Schuß. Die Kugel flog dicht an Herrn Lerses Kopf vorbei und schlug dann klatschend gegen die Mauer.

»Achtung! Näher an die Mauer! Sie scheinen uns jetzt auch in den Rücken zu kommen!« rief Herr Lerse, bemühte sich aber vergeblich, den Schützen draußen im Gelände zu entdecken, der ihn soeben beinahe getroffen hätte.

Die ortskundigen Leute dagegen brauchten nicht lange nach der Stelle zu suchen, von der die neue Gefahr kam.

»Herr Unteroffizier! Herr Unteroffizier!« rief Osterle, nach dem langgestreckten Rand der Klippen zeigend, die westlich in einer Entfernung von etwa fünfhundert Meter über die Feste emporragten. »Sehe Sie da drobe das graue Fleckle? Jetzt ebe tut sich's bewege. Ma könnt moine, a Has' tät Allotria treibe. Aber sell ischt a Schlapphütle. Und dort sind au die andere! Schauet Sie doch nur, Herr Unteroffizier!«

In der Tat war nun nicht mehr zu verkennen, daß der Feind im Begriffe war, die Klippen zu besetzen, die bei einigermaßen guter Bewaffnung den ganzen westlichen Teil der Station beherrschten. Hieran mußte man sie unter allen Umständen zu hindern suchen. Der Distriktschef hatte zwar beschlossen, so viel als möglich Munition zu sparen; aber jetzt wäre Sparsamkeit Verschwendung gewesen; denn wenn sich die Gesellschaft auf den Klippen erst einmal festgesetzt hatte, würde es kaum noch möglich sein, sie wieder herunter zu jagen.

»Auf die Klippen! Fünfhundert Meter! … Legt an! … Feuer!« befahl Herr Lerse.

Krachend fuhr die Salve nach der bedrohlichen Stelle hinüber, und die Wirkung schien eine vortreffliche gewesen zu sein. Im Nu waren sämtliche Schlapphüte verschwunden, und geraume Weile blieb dort oben alles still.

Da sah man, wie ganz langsam an vielen Stellen zugleich durch unsichtbare Hände von hinten her große Steine vorgeschoben wurden.

Wieder ließ Herr Lerse feuern. Aber die Herero schien das nicht mehr zu stören. Langsam aber unaufhaltsam rückte die lebende Steinwand vor bis hart an den Klippenrand, und nun eröffneten die Feinde hinter dieser vortrefflichen Deckung ein so lebhaftes Feuer, daß die kleine Besatzung der Westbastion eine Zeitlang in ernster Gefahr schwebte.

Herr Lerse stellte also schließlich das Feuer ein. Es hatte doch keinen rechten Zweck und setzte die Leute nur der Gefahr aus, beim Schießen selbst getroffen zu werden.

Seinen Wünschen entsprach diese Zurückhaltung allerdings ganz und gar nicht. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er jetzt seine zehn Mann genommen und wäre mit ihnen hinübergestürmt, um den Feind mit dem Bajonett von den Klippen zu verjagen. Und dann? Ja, dann am liebsten weiter – nach Marienhof! … Aber von alledem konnte jetzt nicht die Rede sein. Jetzt hieß es gehorchen und auf dem Platze ausharren, den er angewiesen erhalten hatte.

Auch die Leute fingen bald an, sich in der unbequemen und unrühmlichen Lage zu langweilen. Es ärgerte sie, zur Untätigkeit verurteilt zu sein einem Feind gegenüber, den sie verachteten, und bald machte sich ihre Mißstimmung in allerhand Galgenhumor Luft.

»Wißt ihr, Kinder, warum der Samuel uns eingesperrt hat?« meinte Lehmann, ein langer, dürrer Mensch, der mit seinem Landsmann Schanseil gleichzeitig in die Schutztruppe eingetreten war.

»Nun? Warum denn?« fragten die anderen, die sich schon denken konnten, daß jetzt irgend ein Kalauer zum Vorschein kommen würde.

»Na, damit wir noch recht fett werden für das Paradediner, das er nächstens von uns jeben will,« fuhr der Berliner fort.

Alle lachten, besonders nachdem Neumann, der Sachse, den Scherz noch durch die Bemerkung übertrumpft hatte, dem Berliner Windhund könnte es »nu äben« nichts schaden, wenn er ein bißchen fett gemacht würde, denn an ihm würde sich Samuel sicher die Zähne ausbeißen.

Soenneke, ein dicker Westfale, dagegen faßte die Sache elegischer auf und fragte mit ziemlich kläglicher Miene, wovon sie hier wohl fett werden sollten, in diesem Hungerlande, wo es nicht einmal Pumpernickel gäbe, und westfälischen Schinken schon gar nicht.

Wieder erklang fröhliches Lachen in der Westbastion, während ringsumher die bleiernen Sendboten des Todes Umschau hielten nach frischen jungen Menschenleben. Was machten sich diese kecken Burschen daraus, die Tatendrang und Abenteurerlust in die Ferne getrieben hatte, fort von Heimat und Vaterhaus, wo jetzt vielleicht ein armes Mutterherz sich in Sorge verzehrte.

Und Lerse verwehrte es ihnen nicht. Ja, er beneidete sie fast darum. Was hätte er darum gegeben, wenn auch er jetzt hätte mit einstimmen können in ihre harmlosen Scherze, in ihre befreiende Fröhlichkeit, wenn sie ihn einmal losgelassen hätten, diese qualvollen Gedanken!

Plötzlich winkte Osterle den Kameraden, sich still zu verhalten.

Er hatte schon geraume Weile mit gespannter Aufmerksamkeit nach einem Bergkegel ausgeschaut, der im Süden, etwa zwei Kilometer von der Station entfernt, am Rande des Swakoptales über das umliegende Hochland emporragte. Jetzt schien er zu der Überzeugung gelangt zu sein, daß er sich in seiner Vermutung nicht getäuscht habe und daß seine Beobachtung, wie immer, richtig gewesen sei.

Mit strahlendem Gesicht rief er: »Herr Unteroffizier! Herr Unteroffizier! Schauet Se doch! Schauet Se doch! Die Windhuker sind da! Se signalisiere schon! Schauet Se doch, wie's dort blitzt!«

»Wahrhaftig!« entgegnete Herr Lerse freudestrahlend. »Da oben arbeitet der Lichttelegraph. Das kann nur unsere Verstärkung sein, Kameraden! Jetzt wird es bald Luft geben! … Wer ist freiwillig bereit, durch den Kugelregen nach drüben zu laufen und dem Herrn Distriktschef die Meldung zu überbringen?«

»Ich! Ich! Ich!« riefen alle durcheinander, begeistert von dem Gedanken, daß sie nun endlich Gelegenheit bekommen würden, die langweilige Stellung in der Bastion zu verlassen und zum Angriff überzugehen.

Aber ehe Herr Lerse noch dazu kam, einen von ihnen für die Meldung zu bestimmen, erklang vom Hauptgebäude her die Stimme des Distriktschefs: »Unteroffizier Lerse! Lassen Sie einen Beobachtungsposten zurück und ziehen Sie sich mit Ihren anderen Leuten hinter der Mauer entlang nach Süden herum. Die Verstärkung ist heran; sie wird bald in das Gefecht eingreifen können, und es ist sehr leicht möglich, daß wir dann einen Ausfall wagen müssen.«

»Hurra! Einen Ausfall! Endlich hinaus aus diesen Mauern!« jubelte es in den Herzen der jungen Soldaten, und auch in Herrn Lerse loderte freudige Hoffnung auf.

Nun aber kam eine schwierige Frage: Wen sollte er hier als Beobachtungsposten zurücklassen? Er hätte es am liebsten keinem von den braven Menschen antun mögen; wußte er doch, daß alle vor Eifer brannten, mit den Herero ins Handgemenge zu kommen. Aber es war befohlen und mußte ausgeführt werden.

So fragte er denn wieder, wer freiwillig als Beobachtungsposten zurückbleiben wolle. – Längere Zeit schwieg alles. Endlich aber meldete sich Osterle, obwohl man es ihm ansah, wie schwer ihm der Entschluß geworden war.

»Sie, Osterle?« sagte Herr Lerse, ihm die Hand schüttelnd. »Das ist brav von Ihnen. Es gehört manchmal mehr Tapferkeit dazu, einen wichtigen aber undankbar scheinenden Posten zu übernehmen, als mit den anderen draufzugehen. Sie eignen sich auch am besten dazu; denn ich habe schon bemerkt, daß Sie die Augen offen haben. Ich brauche es Ihnen also nicht erst zu sagen, daß Sie sehr aufmerksam sein müssen. Seien Sie vorsichtig und setzen Sie sich nicht unnützer Gefahr aus. Auf Wiedersehen! – Die anderen stillgestanden! – Rechts um! – Ohne Tritt marsch!«

Er führte nun seine kleine Schar bis in die Nähe des Südportals, wohin von der anderen Seite auch Sergeant Schauseil mit seinen Leuten gerückt war.

»Na, Herr Kamerad!« rief ihm der Berliner schon von weitem zu. »Nu werden wir ja wohl bald ein bißken Deutsch mit die Bajage reden. – Es war bis jetzt auch ein zweifelhafter Jenuß. – Nich eenen vernünftigen Schuß haben wir abjeben können, so verkrümelt hat sich die feije Bande! Aber nu wird's bald lustig werden! – Na, mir soll bloß eener mang die Finger kommen; ich bin mächtig jeschwollen, von wejen, weil sie uns heute unseren Kejelabend verdorben haben.«

Aber es verging noch mindestens eine Stunde, ohne daß sich in der Lage irgend etwas geändert hätte. Die Herero schossen aus ihren sicheren Verstecken heraus, als würde ihre Munition niemals ein Ende nehmen, und die Deutschen drückten sich hinter den Mauern herum, ohne besonders viel ausrichten zu können.

Wieder vertrieb man sich die Zeit mit Scherzen und, schließlich fing man sogar an zu frühstücken, nachdem Lehmann, der immer der erste war, sobald es ans Essen ging, mit Erlaubnis des Distriktschefs den nötigen, Proviant aus der Kantine herbeigeschafft hatte.

»Eßt nur tüchtig,« meinte der Offizier. »Es ist mir lieb, wenn ihr euch vorher stärkt; denn wer weiß, wann wir heute wieder dazu kommen werden. Aber trinkt nicht zu viel!«

In dieser Beziehung brauchte er nun allerdings keine Sorge zu haben; denn als Lehmann eben mit einem großen Buddel »Burgunder«, wie die seitens des Gouvernements gestattete Mischung von sehr viel Wasser mit sehr wenig Rehobother Landwein scherzweise genannt wurde, über den Hof daher gelaufen kam, zerschmetterte ihm eine Hererokugel die Flasche in der Hand, so daß das von allen so lebhaft begehrte Naß zwecklos im Boden verrann.

»So 'ne Neidhammels!« schalt Lehmann. »Nich mal den Droppen Burjunder jönnen se einem. Aber wart' man: Das werde ick euch besorjen!«

Zunächst freilich mußte er sich schleunigst selbst besorgen; denn wie es schien, hatten die Herero es im Grunde doch weniger auf seinen Wein, als auf ihn selbst abgesehen. Von allen Seiten sausten die Kugeln herüber, so daß er von Glück sagen konnte, als er, ohne verwundet zu sein, die Deckung wieder erreicht hatte.

Die Stimmung aber ließ man sich durch diesen Zwischenfall nicht verderben, obwohl der Distriktschef es nun verbot, den Hof unter dem Feuer des Feindes wieder ohne besonderen Befehl zu betreten.

Endlich, es war inzwischen elf Uhr geworden, ließ sich von Süden her stärkeres Schießen vernehmen, und gleich darauf erkannte man auch deutlich das langgezogene Geknatter des Maschinengewehrs.

»Sie sind da! Jetzt geht's los!« ging es durch die Reihen. Fester umklammerte ein jeder seine Büchse, und alle erwarteten mit Ungeduld das Zeichen zum Angriff.

Doch noch hielt der Distriktschef die Zeit zum Ausfall nicht für gekommen. Zunächst mußte unter allen Umständen die Feste gesichert werden. Erst wenn die Verstärkung so nahe herangekommen war, daß man mit ihr Fühlung gewinnen konnte, ohne die Verbindung mit der Station zu verlieren, konnte daran gedacht werden, die bloße Verteidigung aufzugeben und zum Angriff überzugehen.

Waren die Windhuker soweit heran, dann freilich durfte man sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, den Rebellen gleich gehörig auf den Leib zu rücken, um sie von Anfang an von der Übermacht der deutschen Waffen zu überzeugen und sie womöglich durch einen ersten kräftigen Schlag so einzuschüchtern, daß der Aufstand im Keime erstickt wurde.

So dachte sich in dieser Stunde des ersten Kampfes der junge Offizier die Entwicklung.

Leider sollte es anders kommen.

Er hatte, wie so viele, die Herero unterschätzt.

Wohl waren sie nicht sonderlich kriegstüchtig – sie schossen nicht gut, und von der Feuerdisziplin der Witbois zum Beispiel hatten sie keine Ahnung; sie waren auch nicht tapfer, und für gewöhnlich konnte man leicht mit einigen deutschen Reitern eine ganze Werft im Zaume halten. Aber was ihnen an persönlichem Mut und militärischer Schulung abging, das ersetzten sie durch Hinterlist und große Schlauheit. Zudem kannten sie genau das Gelände, das ihnen so außerordentliche Vorteile, den Deutschen aber oft unüberwindliche Hindernisse bot, und vor allem geboten sie über eine Übermacht, die selbst dann hätte gefährlich werden müssen, wenn sie auch nicht so viele Feuerwaffen und so gute Pferde zur Verfügung gehabt hätten.

Die Wirkung dieser Übermacht zeigte sich schon in diesem ersten Kampfe, und wenn der Oberleutnant erwartet hatte, daß die Windhuker Schutztruppenabteilung nur auf dem Kampfplatze zu erscheinen brauchte, um die Kaffern zu Paaren zu treiben und im Sturm nach der bedrohten Feste durchzudringen, so wurde er bitter enttäuscht.

»Kinder, die Sache klappt nicht!« meinte Sergeant Schauseil, und leider hatte er recht.

Schon über eine Stunde hörte man das Geknatter des Maschinengewehrs, aber immer aus derselben Entfernung. Schon über eine Stunde wogte nun da drüben der Kampf, aber die Deutschen schienen noch um keinen Schritt breit näher gekommen zu sein.

»Jetzt kommen sie! Sie schießen schon von da drüben!« hieß es wohl zuweilen, wenn das Geschieße aus einer anderen Richtung herüberklang, und zuweilen erkannte man dazwischen auch ein bekanntes Signal. »Aha! Avancieren!«

Aber immer kehrte der Gefechtslärm nach kurzer Zeit an dieselbe Stelle zurück, an der die Abteilung durch eine überlegene und nicht zu umgehende Stellung des Feindes festgehalten zu werden schien.

»Soll man's jlauben!« schalt Sergeant Schauseil. »Nich die blasse Ahnung von Exerzierreglement haben sie, und dabei so 'ne Rackers!«

Dabei war das Feuer, das die Herero fortgesetzt auf die Feste richteten, aber keineswegs schwächer geworden. Im Gegenteil: sie knallten nun erst recht darauf los, und ärgerlich brummte Schauseil nochmals: »Wenn ich bloß wüßte, wo die Kerls die Munition alle her haben!«

Vermutlich wollten sie durch die Schießerei ihre Übermacht so recht erkennbar machen, oder die Besatzung der Station von einem Ausfall zurückschrecken. Jedenfalls deutete nichts darauf hin, daß sie ihre Belagerungstruppen geschwächt hatten, um den Windhukern mehr Leute entgegenwerfen zu können. Sie waren offenbar so stark, daß sie nach beiden Richtungen hin ausreichende Kräfte zur Verfügung hatten. Die ganze Nacht hindurch waren, wie die Patrouillen gemeldet hatten, von allen Seiten neue Banden herangekommen, so daß Samuel jetzt bereits über fünf- bis sechshundert Mann verfügen mochte.

Aber trotzdem schien es dem jungen Offizier unbegreiflich, daß die Verstärkungsabteilung nicht vorwärts kommen konnte. Er brannte vor Eifer, nun ebenfalls in das Gefecht einzugreifen, um dadurch eine raschere Entscheidung herbeizuführen, und mehrmals war er nahe daran, den Befehl zum Ausfall zu erteilen. Aber die Erfahrungen, die er in diesem Lande schon gesammelt hatte, hielten ihn doch zurück, sich in ein Abenteuer zu stürzen, dessen Ausgang verhängnisvoll werden konnte. Seine erste Aufgabe war, die Station zu halten, und die wollte er erfüllen, koste es, was es wolle!

Er versuchte nun, sich mit den draußen kämpfenden Kameraden zu verständigen.

»Fragen Sie durch Flaggensignale an, ob wir einen Ausfall wagen sollen, Rössing!« befahl er, und der brave Telegraphist kletterte nun, der Kugeln ungeachtet, die von allen Seiten um ihn herumflogen, auf das Dach des Hauptgebäudes und winkte mit seinen Signalflaggen.

Aber es kam keine Antwort. Offenbar verdeckten die großen Akazien, die nach Süden zu den Ort umgaben, die Aussicht, und so mußte auch dieser Versuch aufgegeben werden.

Nun entschloß sich der Distriktschef endlich, wenigstens eine Patrouille hinauszusenden, um so eine Verbindung mit dem Verstärkungskommando zu suchen.

»Unteroffizier Lerse!« rief er.

Lerse trat vor: »Herr Oberleutnant?«

»Unteroffizier, nehmen Sie sich drei ortskundige Leute und versuchen Sie sich durchzuschlagen. Ich werde Ihnen eine Meldung mitgeben, die unter allen Umständen in den Besitz des Herrn Gouverneurs gelangen muß. Der Auftrag ist schwierig und nicht ohne Gefahr. Aber ich habe das Vertrauen, Sie sind der rechte Mann dafür, und vor allem möchte ich Ihnen Gelegenheit geben hinaus zu kommen. Denn, wie mir scheint, werden wir hier längere Zeit festsitzen. Glauben Sie, daß Sie den Auftrag ausführen können?«

»Zu Befehl, Herr Oberleutnant!« antwortete Herr Lerse voll freudiger Zuversicht.

»Ich danke Ihnen. Dann machen Sie sich fertig. Ich werde sogleich die Meldung aufsetzen.«

»Hinaus!« jubelte es in Herrn Lerse. »Hoffnung, nach Marienhof zu kommen!« Er hätte in der Feste seine Pflicht voll getan. Aber der Gedanke, daß er nun vielleicht doch noch den Seinen würde Hilfe bringen können, befreite ihn von einer furchtbaren Last, und freudig bereitete er nun alles zum Abmarsch vor.


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