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Sechstes Kapitel.
Karls Jugendgeschichte

Die Frau von Waldheim veranstaltete nun in dem Schlosse eine kleine Freudenmahlzeit. Emilie deckte den Tisch mit dem feinsten blendend weißen Tafeltuche und zwei helle Wachskerzen auf silbernen Leuchtern spiegelten sich in dem glänzend reinen Tischgeräthe. Karl mußte zwischen seiner Muller und Schwester Platz nehmen, und Rosalie und Christine mußten auch mitspeisen. »Denn,« sprach die Frau von Wachheim, »ohne Euch und Euer Lämmchen hätte ich ja meinen lieben Sohn Karl nicht gefunden!« Karl, der von der Reise hungerig geworden, ließ sich das Abendessen sehr wohl schmecken. Seine Mutter und Schwester aber konnten vor Freude fast nicht essen, und sahen ihn nur immer an. Sie fragten ihn bald dieses, bald jenes. Allein erst nach Tische baten sie ihn, seine Geschichte im Zusammenhange zu erzählen, was er denn auch sehr gerne that.

»Meine Kindheit und meine Jugendjahre,« sprach er, »brachte ich, von dem Abende an, da ich aus dem Flusse gezogen wurde, beständig bei einem sehr ehrwürdigen Pfarrer, Namens Engelhard, jenseits des Rheins zu. Ich würde von den Schicksalen meiner ersten Kindheit und von meinen lieben Aeltern wohl kaum mehr etwas wissen, wenn er das Wenige, was ich damals – in einem so zarten Alter ihm sagen konnte – mir nicht öfters wiederholt hätte. Selbst unsers Schiffbruches erinnere ich mich jetzt nur mehr dunkel. Allein der gute Pfarrer, der nicht weit von jener Unglücksstätte wohnt und sich nach Allem, was mich betraf, genau erkundigt hatte, beschrieb mir jenen fürchterlichen Abend und die darauf folgende Schreckensnacht sehr oft. Der Krieg hatte mit Allem, was er Schreckliches haben kann, sich gleich einem verheerenden Gewitter, ganz in jene Gegend gezogen. Zwei Dörfer standen im Brande, und die hoch auflodernden Feuerflammen erhellten mit ihrem rothen Glanze weit umher die Gegend, rötheten die Wolken des Himmels, und strahlten schauerlich aus dem Flusse wieder. Die geschlagene Armee rettete sich über den Fluß. Die Sieger drangen ihr auf dem Fuße nach. Man glaubte ein furchtbares Hochgewitter zu hören, so laut donnerten die Kanonen, und man vernahm bereits das kleine Gewehrfeuer sehr deutlich. Ganze Familien, Väter, Mütter und Kinder, hatten theils zu Fuß, theils zu Wagen sich geflüchtet, und wußten nun, als sie an den Fluß kamen, nicht mehr weiter. Das Gedränge und die Verwirrung war unbeschreiblich. Auch der gute Pfarrer hatte das Haus voll Geflüchteter, und war unermüdet beschäftiget, sie zu trösten und zu bewirthen. Da wurde auf einmal sehr stark an die Hausthüre geklopft. Er öffnete sie – und ein Soldat mit einem kleinen, weinenden Knäblein auf dem Arme stand vor der Thür. Dieses Knäblein war ich!«

»Um Gottes willen, Herr Pfarrer,« rief der edle Krieger, »erbarmen Sie sich dieses armen Kindes, und nehmen Sie es zu sich. Ich riß es dort aus dem Fluß. Ich weiß es nirgends unterzubringen. Dieses nasse Päcklein hier enthält die Kleider des Kindes und einiges Andere. Nehmen Sie! – ich muß augenblicklich weiter.« Der gutherzige Pfarrer nahm mich liebreich in seine Arme, und der Soldat stürzte fort, indem er noch rief: »Gott wird es Ihnen vergelten! Leben Sie wohl!«

»Der würdige Geistliche brachte nun wohl so viel aus mir heraus: mein Vaters ein Offizier, sey im Kriege umgekommen, und meine Mutter sey mit mir und meinem kleinen Schwesterchen auf ihrer Fahrt über den Rhein verunglückt. Er unterließ nicht, nachzuforschen, ob meine Mutter und Schwester dem schauerlichen Tode des Ertrinkens nicht etwa noch entgangen sehen. Er begab sich, so bald es möglich war, in die benachbarten Orte, und fragte überall nach ihr. Er traf auch einige Menschen, die auf eben dem Schiffe gewesen, und gerettet worden. Sie sprachen mit Achtung und Mitleid von der tiefbetrübten Offizierswittwe; allein alle sagten einmüthig, sie sey mit ihrem kleinern Kinde sicher ertrunken. Die Gewalt des Stromes habe bloß einige wenige Menschen, die sich auf dem untergegangenen Schiffe befunden hatten, an das Ufer, von dem sie hergekommen, zurück geworfen. Es sey gar nicht wahrscheinlich, daß irgend eine Seele das andere Ufer erreicht habe. Der edle Pfarrer hielt es indeß doch für möglich. Allein er konnte sobald keine Erkundigungen einziehen. Die Verbindung zwischen den beiden Rheinufern war, des Krieges wegen, lange Zeit aufgehoben. Und nachher, als man wieder Nachrichten von dem andern Ufer des Flusses erhalten konnte, stimmten alle darin überein, nirgends habe man eine solche Frau gesehen, wie die beschriebene Offizierswittwe, und sie sey also ganz gewiß todt.

Der menschenfreundliche Pfarrer behielt mich nun bei sich, um mich zu erziehen. Er war ein sehr liebevoller, schon etwas betagter Mann, und ein wahrer Kinderfreund. Die Tage meiner Kindheit hätten wohl nicht glücklicher seyn können. Er war immer heiter und freundlich, und wußte mich mit einem Wink zu leiten. Denn sein ganzes Betragen war, bei aller Freundlichkeit, immer so ernst und würdig, daß ich eine große Ehrfurcht gegen ihn fühlte, und um Alles in der Welt es nicht gewagt hätte, mich gegen ihn im geringsten widerspänstig zu zeigen.

Seine erste Angelegenheit war es, mich in der Religion zu unterrichten; was er sagte, war alles so klar und herzlich, daß ich Gott und meinen Erlöser von Herzen lieb gewann. Er lehrte mich lesen und schreiben, und da er besondere Fähigkeiten an mir zu entdecken glaubte, so gab er mir Unterricht in der lateinischen Sprache. Er las mit mir lateinische Bücher, und wußte immer die schönsten Stellen auszuwählen, die meinem Alter angemessen waren. Was ich gelesen hatte, mußte ich dann schriftlich ins Deutsche übertragen. Ich bekam so mehrere Bücher, von meiner Hand rein und deutlich geschrieben, zusammen, die er alle sehr schön binden ließ. Ich hatte dabei ungemeine Freude, und erwarb mir eine Fertigkeit, jedes lateinische Buch zu verstehen, wenn nur sonst der Inhalt meine Fassungskraft nicht überstieg. In der Folge gab er mir auch Unterricht im Griechischen.

Sein kleines freundliches Pfarrhaus war von einem schönen Gemüsegarten und einem großen Baumgarten umgeben. Wenn wir nun eine Stunde gelesen hatten, arbeiteten wir allemal eine Zeit im Garten. Denn er baute ihn selbst, und ich mußte ihm dabei helfen. Diese Arbeit diente uns zur Erholung vom Studiren. Im Winter oder an Regentagen brachte er seine Nebenstunden mit Zeichnen zu, worin er es sehr weit gebracht hatte. Er verstand seine Zeichnungen mit Tuschfarben so schön und lieblich auszumalen, daß Kenner sie den vollendetsten Kunstwerken der Art an die Seite setzten. Auch ich hatte große Lust am Zeichnen und Malen. Er gestattete es mir aber allemal nur als eine Belohnung meines besondern Fleißes im Studiren, und unter seiner vortrefflichen Anleitung machte ich auch in dieser Kunst gute Fortschritte. So verfloß mir jeder Tag unter nützlichen und angenehmen Beschäftigungen; ich war immer so fröhlich und vergnügt, als je ein Kind in dem väterlichen Hause es seyn kann.

Der gute Pfarrer hatte indeß auch Manches zu leiden. Er mußte die Trübsalen des Krieges hart empfinden. Einquartierungen und Lieferungen kosteten ihm sehr viel, und zwei bis dreimal ward sein Pfarrhaus ganz ausgeplündert. Er würde dieses wenig geachtet haben, wenn es ihm nicht um mich gewesen wäre. Er hatte mich öfters versichert, er werde mich studiren lassen. Obwohl die Erträgnisse seiner Pfarrei nicht sehr bedeutend waren, so hatte er bei seiner mäßigen Lebensart doch so viel zurück gelegt, daß er die Kosten des Studirens hätte bestreiten können. Allein nun war es ihm unmöglich; er selbst war durch den Krieg in dürftige Umstände gerathen.

Er hatte indessen in Wien einen Jugendfreund, der dort in großem Ansehen stand, und unter dem Adel und den Gelehrten viele Freunde hatte. An diesen schrieb er, ob er einem armen Jünglinge, der eine entschiedene Anlage und Neigung zum Studiren habe, nicht Gelegenheit dazu verschaffen könnte? Es kam sogleich die erfreuliche Antwort, er wolle mich mit offenen Armen in sein Haus aufnehmen, und dann weiter für mich sorgen. Ich möchte mich aber, schrieb er, sogleich auf die Reise machen, indem diejenigen, die unter die Zahl der Studirenden wollen aufgenommen werden, schon zu Anfang des künftigen Monats eine vorläufige Prüfung bestehen müssen.

Ein Kaufmann, der meinen Pflegevater öfter besuchte, hatte eben eine Reise in die hiesige Gegend vor, und erbot sich, mich unentgeldlich mit zu nehmen. Da ich auf diese Art beinahe die Hälfte des Weges in einem bequemen Reisewagen zurücklegen konnte, so wurde dieses Anerbieten mit Freude angenommen.

Der Morgen, an dem ich von meinem guten Pflegevater Abschied nahm, wird mir ewig unvergeßlich seyn. Der gute Mann mit seinem frommen blassen Angesichte und seinen ehrwürdigen grauen Haaren, schloß mich in seine Arme und benetzte mein Angesicht mit Thränen. »Liebster Karl,« sprach er, »der Augenblick ist jetzt da, wo du hinaus mußt in die Welt. In unserm stillen abgelegenen Dorfe und in meinem Hause hier hast du, will's Gott, nichts als Gutes gesehen und gehört. In der großen Stadt, in die du jetzt kommst, wird es anders seyn. Du kommst zwar in das Haus eines guten Mannes und wirst auch in der Stadt viele gute Menschen kennen lernen; allein du wirst auch der bösen Beispiele genug sehen und mancherlei Böses hören. O Karl, vergiß meiner guten Ermahnungen nicht – laß dich nicht verführen – bleibe ein edler Jüngling!«

»Die väterlichen Ermahnungen,« sagte Karl, »die er mir mündlich zum Abschiede gegeben hat, überreichte er mir, damit ich keine derselben vergessen möge, auch schriftlich. Ich habe das Blatt hier in meiner Brieftasche aufbewahrt, und Sie können es gelegentlich lesen.« »O nein, nein,« riefen Alle, »wir möchten diese guten Lehren sogleich vernehmen!« Karl nahm das Blatt heraus und las:

»Geliebtester Sohn! Vor Allem bleibe dir unsere heilige Religion stets theuer. Sie ist der kostbarste Schatz, den wir hier auf Erden haben, und ein wahres Himmelbrod für unsern unsterblichen Geist. Wohne nicht nur dem öffentlichen Gottesdienste andächtig und ehrerbietig bei, sondern weihe auch deine stille Kammer zum Tempel der Andacht. Vergiß es nie, daß Gottes Auge dich überall sieht, und thue Alles wie vor seinem Angesichte. Ihm klage deine Noth und vertrau' auf Ihn. Verlaß Ihn nicht, und Er wird dich ewig nicht verlassen.

Du wirst mancherlei leichtsinnige Reden über Religion hören. Solche Reden verabscheue. Wer die Lehren der christlichen Religion befolgt, der erfährt es an seinem Herzen, daß sie von Gott sey. An diesem Prüfsteine, den ihr Stifter selbst angab, bewährt sie sich als lauteres Gold. Das hat sich mir durch eine Erfahrung von fast siebenzig Jahren bestätiget. Das ist ihr schönster Triumpf über alle Zweifel ihrer Freunde, die noch nicht ganz zur hellen Erkenntniß gekommen sind, und über alle Einwendungen ihrer verblendeten Feinde.

Thu' nie etwas Böses und handle nie gegen die Stimme deines Gewissens. Geselle dich nicht zu solchen Menschen, die über Unschuld und Schamhaftigkeit spotten und aus dem Laster eitlen Scherz machen; fliehe' sie als wären sie vom gelben Fieber angesteckt. Eine solche leichtfertige Denkart verleitete schon manchen schönen, blühenden Jüngling, die kurze Lust der Sünde zu genießen, machte ihn zum lebendigen Gerippe und stürzte ihn in ein frühes Grab. Bewahre dein Herz rein und unbefleckt, und du wirst die schöne Farbe deiner Wangen, das Feuer deiner Augen, die Ruhe deines Gewissens und die Heiterkeit des Geistes bewahren. Mein erster Blick, wenn ich dich je wiedersehe, wird mir sagen, ob du noch gut und unverdorben seyest.

Sey unermüdet in den Arbeiten deines Berufes. Der Beruf eines Studirenden ist ein schöner, edler Beruf. Es sey nun, daß du Rechtsgelehrter, Arzt oder Gottesgelehrter werden wollest – allemal wird das zeitliche oder ewige Wohl deiner Mitmenschen dir anvertraut werden. Es wäre ja wohl schrecklich, wenn du es dir nicht Ernst seyn ließest, deiner Wissenschaft Meister zu werden, und wenn du einst, anstatt zum Glücke der Menschen beizutragen, aus Unfähigkeit und Unwissenheit nur Unheil stiften würdest. Die Studirjahre sind die Zeit der Saat; benütze diese köstliche Zeit, ehe sie entflieht – sonst ist an keine erfreuliche Ernte zu gedenken. Du hast es in unserm Dorfe gesehen, wie die Landleute sich plagen müssen, wie sie vor Tag aufstehen, Frost und Hitze dulden, und alle Kräfte aufbieten, nicht nur um sich zu ernähren, sondern, um auch die Abgaben zu bestreiten, die zur Unterhaltung der höhern und der gelehrten Stände nöthig sind. Arbeite also auch unermüdet, um für die guten Leute, die so vieles für uns thun, dereinst auch etwas thun können, und ihnen nicht zur unnützen Last, sondern zum Segen zu werden.

Erlaube dir aber auch zu rechter Zeit eine unschuldige Erholung. Nur laß den sinnlichen Vergnügungen keine Herrschaft über dein Herz. Wer sich von der Sinnlichkeit, von Spiel, Trunk, Tanz und dergleichen hinreißen läßt, der ist, wenn er auch eben nichts offenbar Böses thut, dennoch ein Sklave seiner Lust – und also ein schlechter Mensch. Der ungeordnete Hang zu sinnlichen Vergnügungen zerstört in unserm Herzen das Gefühl für alles wahrhaft Große, Schöne und Gute, und macht uns unfähig, edlere Vergnügungen zu genießen.

O mein liebster Sohn! Vielleicht ist es das letzte Mal, daß du mein Angesicht siehest. Ich bin bald siebenzig Jahre alt und nicht mehr fern vom Grabe. Erfahrung, Welt- und Menschen-Kenntniß wirst du mir nicht absprechen wollen. Und dann – was für einen Gewinn könnte ich davon haben, dir eine Unwahrheit zu sagen? Glaube mir also und bleibe gut. Denn sieh, wenn du gut bist, so bist du dir gut, und du wirst den Segen davon haben. Könntest du aber je böse werden, so wärest du dir böse, und dein wäre der Schaden, und dich träfe das Verderben. Liebster Karl – bleibe, o bleibe gut!«

Alle wurden von diesen schönen Lehren innig gerührt. Karl legte das Blatt wieder in seine Brieftasche, und erzählte weiter. »Der edle Mann,« sagte er, »gab mir nun den goldenen Ring mit den drei mir so theuren Buchstaben, und sprach aus gerührtem Herzen: »Nimm da die ganze Verlassenschaft deiner geliebten Aeltern! Bewahre diesen Ring wohl auf! Vielleicht kann er dich unter Gottes Leitung noch auf eine glückliche Entdeckung führen.«

Hierauf nahm der gute, liebevolle Greis die letzten zwei Goldstücke, die er noch hatte, aus seinem Pulte hervor. Ach, er hatte schon all seine Baarschaft darauf verwendet, mich wohlanständig zu kleiden, und mich mit dem nöthigen Reisegeld zu versehen! Er gab mir diese Goldstücke, die Sie hier sehen und sagte: »Nimm dieses Wenige noch, liebster Sohn, als einen Nothpfennig – und dann hier noch Etwas, das mehr werth ist, als alles Gold – das neue Testament! Mehr kann ich dir jetzt nicht geben. Allein lebe nur so, wie dieses göttliche Buch es uns lehrt, bleibe gottesfürchtig, edel und gut – dann bist du reich genug.«

Hierauf segnete er mich noch mit zitternden Händen und weinenden Augen, schloß mich noch einmal in seine Arme, sagte mir Lebewohl – und ich ging schluchzend und tief gerührt zur Thüre hinaus.«

Karl weinte, indem er dieses sagte, aufs neue; auch seiner Mutter und Schwester und den Uebrigen flossen die hellen Zähren über die Wangen. »Dieser Pfarrer,« sprach die Mutter, »ist ein wahrhaft edler Mann, und ein sehr würdiger Geistliche. Es ist etwas Großes, sich eines fremden armen Kindes so herzlich und thätig anzunehmen, so viele Jahre hindurch so viele Zeit, Mühe und Kosten aufzuwenden, und so zu sagen noch den letzten Heller hinzugeben, um es zu einem guten und glücklichen Menschen zu erziehen. Nur die christliche Religion kann das menschliche Herz so uneigennützig und wohlwollend machen, alle Menschen auf Erden wie seine nächsten Blutsverwandten mit Liebe zu umfassen.«

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