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3.

Jan Traberg schlug die Augen auf. Er war wie in einer Wiege – Wellen hoch – Wellen tal –.

Es war ihm sonderbar zumute und er hatte nicht den Willen, sich um Dinge zu bekümmern, die ihn angingen. So wiegte er auf und ab wie ein Kind. Die Sonne war durchgekommen und schien ihm auf die Nase.

Das Boot war kräftig und hielt den Zugwind ab. So fing etwas in seinem Innern langsam zu tauen an. Zuerst regte es sich in der Herzgegend, dann zog er den Atem kräftiger an. Schließlich dehnte sich der starre Arm. Die Finger versuchten sich. Eine Fingerspitze kribbelte und ganz zuletzt weinte er ein wenig. Warum sollte ein Mensch mitten im Ozean nicht weinen? Es ist ja soviel Wasser darinnen und die Menschen sind ja so trocken.

Jan Traberg setzte sich auf. Eine Welle war mit derbem Kippschlag von der Seite gekommen. Schließlich war das zu viel. Wenn man schon einmal nicht untergehen konnte, mußte man doch auf die vernünftigste Art am Leben bleiben.

Er setzte sich auf die Ruderbank, zog die schwerfälligen Stangen in die Dollen, dachte nach und fand, daß seine Lage doch um nichts besser geworden sei.

Darin täuschte er sich. Er fand in seiner Tasche Speck und Brot. Er sah auch noch einen Holzkasten im Boot, der ihm zeigte, daß Menschen irgendwie sorgend für ihn tätig gewesen waren.

Seit wann waren Menschen für ihn besorgt? Es war lange her. Er war zu müde, um darüber nachzudenken. Eine neue Seitenwelle brachte ihn zur Besinnung. Er fing kräftig an zu kauen und ruderte ohne Kompaß nach der Richtung, in der er die Küste vermutete. So ging es eine Reihe von Stunden.

Die körperliche Arbeit machte ihm Behagen.

Ein dunstiger Landstreifen legte sich ganz niedrig über den Horizont, schwer wie eine Barre, an der man erst hinauf müßte. Das Meer war ganz glatt. Vielleicht gab es später einen Sturm. Jedenfalls war es glatt.

Wie sollte er sich nun, so fiel es Jan Traberg an, ausweisen, wenn er an Land ging. Was besaß er? Woher hatte er das Boot? Wer hatte es ihm gegeben? Auf dem Meere gefunden konnte er es auch nicht haben. Es war unmöglich, in diesem Schwalle sachlicher und nüchterner Erwägung zu bestehen. Fast kam ihm die Lust an, das Boot wieder in die ungeheure Weite zu wenden, ein neues Spiel mit dem Zufall aufzunehmen.

Dann überlegte er wieder, daß es besser sei, keine Papiere zu besitzen. Als er dies zu Ende gedacht hatte, griff er in seine Brusttasche und zog unter starker seelischer Erschütterung einen fremden Paß hervor, der mit Stempeln und Beglaubigungen in vollster Ordnung war. Der dänische Konsul bestätigte in diesem Passe, daß der Holländer Jan van Kerken längere Zeit in Dänemark sich aufgehalten habe, der Eintrag eines Schiffes mit unleserlichem Namen bestätigte, daß er zu Sportzwecken mit dem Boote, in dem er sich befinde, den Ozean befahren habe. Signalement, besondere Kennzeichen, das Paßbild, wenn auch ganz schlecht, doch sein eigenes Bild, alles war in guter Ordnung. Wie ein fadenscheiniger, häßlicher Mantel fiel die alte Haut Jan Trabergs herunter, des Menschen, der eine gute Kinderstube genossen, respektable Vorfahren besessen und niemals das Zeug gehabt hatte, sich auch nur einen Heller praktisch zu verdienen.

Noch eine Entdeckung stand ihm bevor. Der Paß hatte ein Futteral. Als er dieses ebenfalls aus seiner Rocktasche zog, waren darin zwanzig gute holländische Gulden.

Jan van Kerken hatte jetzt alles, was er brauchte: Eine Vergangenheit, die ihn nunmehr unbehelligt ließ, eine geordnete Möglichkeit, an den Behörden vorbeizukommen und die Sicherheit, falls ihn die Mittel verließen, als ehrsamer Walzbruder im Loch zu sitzen, ohne sich standesgemäß schämen zu müssen. Er besaß runde zwanzig Gulden, und wenn er das Boot verkaufte, noch ein Bedeutendes mehr.

Da gab es dem alten Jan Traberg zum letzten Mal in seiner alten Haut einen Ruck. Er setzte sich auf den Boden des Bootes und ließ sich treiben, zumal die Fahrt doch gegen Land ging.

Der neue Jan van Kerken schwur, sich von nichts mehr anfechten zu lassen. Er hat das Recht, gewalttätig zu denken, das Recht, ungepflegt mit den zehn Fingern aus dem Proviantkasten zu fressen und zu schlingen, ohne sich Vorwürfe zu machen.

Jan Traberg war ins Meer gegangen als ein Aesthet, der sich schämte. Jan van Kerken kam vom Meere als ein Mensch, der den Einsatz gab.

Aus solchen Verwandlungen des Ozeans ruderte er mit kräftigen Schlägen wie ein alter Seemann, der sein Lebtag nichts anderes gesehen hatte, an Land, nahm in dem nächsten Dorfe Quartier, meldete sich bei der Polizei und saß mit geordneten Mahlzeiten und geordnetem Gehirn in der Sonne.

*

Zwanzig Gulden und der Erlös aus einem verkauften Boote sind kein Vermögen. Jan van Kerken hatte noch einmal die alte Haut Jan Trabergs entdeckt, einen ästhetischen Aufsatz über Tulpenzucht geschrieben und ihn von allen Blättern, an die er ihn sandte, zurückerhalten.

Jan van Kerken vertrug sich auf die Dauer mit diesem Traberg nicht mehr. So setzte er sich mit dem Reste seines Geldes auf die Eisenbahn, schaute vom hohen Damm, mäßig schnell vorbeirollend, am Sonntag vormittag auf die friedlichen Bewohner von Aalst, wie sie mit ihren weißen Hauben, schwarzen Röcken und noch schwärzeren Bratenröcken aus der Kirche durch saubere Gassen und weiße Häuser stelzten, prüfte mit der Nase den Ostwind, zog das Fenster wieder zu, rollte gemächlich durch den fruchtbaren belgischen Dreck und war auch nicht zum Aussteigen zu bewegen, als die hohle pathetische Kuppel des Brüsseler Justizpalastes ihn mit einer römischen Geste lockte. Das war ja altes Latein.

In Herbesthal und Köln begann das Neue. Man war Holländer und hatte als solcher immer edelmütig an Deutschland gehandelt. Man zog daraus die Konsequenzen und half. Dieser Gedanke war in ihm zunächst unklar aus irgend einem Gefühl heraus aufgetaucht: sich nützlich zu machen oder seine Pflicht zu tun.

Es war sonderbar, wenn er seine Lage überdachte.

Da stand er nun am Rheinstrom, der es eilig hatte, nach Holland zu kommen. Eingemummelt zwischen den riesenhaften gotischen Himmelsweisern des Kölner Doms, dem lärmenden Hafenleben, der hämmernden Industrie und dem Vielerlei der ein- und abgehenden Züge, strömte er talwärts.

Diese Züge riefen nachts. Genau wie beim Meere fing es an.

Die Puffer der Wagen, die die ganze Nacht durch neben seinem Schlafgemach in der Höhe seines Mietshauses rangiert wurden, klinkerten, kuschelten und bludderten fortwährend wie Kielwasser an einem Boote. Dazwischen ging das Pfeifen der Eisenbahnen, das schwere Aufprallen der Wagen auf den Prellbock, das Ablassen vom Bremsberg, und hielt wach. Dann kamen die Güterzüge hinaus und herein und pfiffen ein wenig mit verhaltener Freude, daß sie da seien und fort müßten. Dann kamen die lauteren Nahzüge, die es eilig hatten, dann donnerten die ausgelasteten Schnellzüge mit Fauchen und Dröhnen, donnerten im Zehnmeterstoß auf den Schienen: Auf! Los! Fertig! Fort!, donnerten: Tat! Wag's!


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