Felix Salten
Fünfzehn Hasen
Felix Salten

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Alle Hasen waren jetzt draußen auf den Feldern.

Der Schnee war hartgefroren und knirschte im Walde. Knisterte im Gezweig der Bäume, wenn ein Eichhörnchen einmal turnte oder ein Vogel von Ast zu Ast sprang.

Das trieb den Hasen dauerndes Erschrecken in die Glieder. Beständig hatten sie Angst, daß ein Räuber herangeschlichen käme.

Draußen auf den Feldern lagen sie in den Fluren und Mulden, hörten schon, was von weitem kommen wollte, brauchten nur die Löffel hochzuschnellen oder sich in die Hinterbeine zu erheben, und dann sahen sie auch die Gefahr, die drohte, schon von weitem. Manchmal, für eine Mittagsstunde, genossen sie das sanfte Streicheln einer blassen Sonne. Ja, diese Sonne konnte hie und da auch tüchtig wärmen. Dann wurden die Hasen wieder zuversichtlicher, scharrten in der Scholle nach ein bißchen Nahrung. Doch bald vergingen solche angenehme Stunden. Der Frost umklammerte sie noch fester.

Hops und Plana saßen mitten im Felde.

Der Wald ragte fern herüber und zog mit der schwarzweißen Wand seiner Bäume und Büsche eine flache Bogenlinie halb um die große, schneebedeckte Fläche. Auf der andern, offenen Seite wurden die Dächer des Dorfes sichtbar, überragt vom Kirchturm. Die Hasen wußten nicht recht, was diese Gebilde zu bedeuten hatten, und achteten kaum darauf.

Plana zuckte es über den Rücken, sie war ungeduldig. »Ob es wieder so werden kann wie einst?« seufzte sie.

Hops regte die Schnurrhaare. »Wie denn?«

»Nun«, Plana schwärmte, »nun, alles grün . . . heiß die Tage, warm die Nächte . . . Gesang auf den Bäumen . . . und überall lauter gute Dinge . . . köstliche Dinge . . . mehr als man braucht . . . viel, viel mehr . . . Ob es je wieder so wird?«

Hops richtete sich auf. »Ich glaube, es wird wieder bald so! Schon bald!«

Plana schloß die Augen, von Erinnerung überwältigt. »Ach, das war eine glückliche Zeit!«

»Ja«, bekräftigte Hops, »das war's. Und jetzt ist harte Zeit. Sie haben's doch vorausgesagt!«

»Wer?«

»Nun, die Alten.«

»Aber . . .« Plana hatte auch das bißchen Zuversicht verloren, »aber daß die glückliche Zeit wiederkommt, haben sie nicht gesagt, die Alten . . .«

Auch Hops ließ die Löffel hängen. Allein er wollte etwas Tröstliches sagen und murmelte: »Doch! Doch! Wir müssen eben ausharren!«

»Weißt du noch«, fragte Plana, »weißt du noch, wie herrlich es hier draußen war, hier auf den Feldern?«

»Denk jetzt nicht daran«, mahnte Hops. »Das macht einen nur traurig.«

Plana wischte sich mit der Vorderpfote übers Gesicht: »Man kann sich's ohnehin nicht mehr vorstellen.«

Hops richtete sich jählings auf, seine Löffel flogen hoch, die Schnurrhaare bebten.

Geduckt fragte Plana: »Was gibt's?«

Hops blieb in seiner Stellung. »Ich weiß nicht«, sagte er, »aber irgend etwas ist los.«

»Gefahr?« forschte Plana.

Hops, immer noch aufrecht, wiederholte: »Ich weiß es nicht . . . so viele Hasen sind unterwegs . . .«

»Bekannte? Siehst du Bekannte?« Plana war neugierig, doch sie regte sich nicht.

»Nein. Lauter Fremde.« Hops wurde erregt. »Merkwürdig, wie sie hin und her rennen . . .«

»Die kümmern uns nicht«, meinte Plana, doch auch sie war in Erregung geraten.

Hops hielt weiter Ausschau. »Sie sind auch so weit weg«, erklärte er und wollte gern ruhiger werden, »so weit . . . da läßt sich's kaum unterscheiden, ob man einen von ihnen kennt.«

»Leg dich nieder«, bat Plana. Sein Beobachten stürzte sie in Sorgen. Auch sehnte sie sich nach Ruhe. »Leg dich doch nieder!«

Gerade wollte Hops ihr gehorchen.

Da surrte plötzlich eine Kette Rebhühner daher, schwirrte nah am Boden, und man hörte ihr leises Warnen: »Rettet euch!«

Schon waren sie davon.

Von der andern Seite brauste eine zweite Kette Rebhühner heran, stieg hoch in die Luft. Und auch sie warnten: »Rettet euch!«

Hops und Plana waren auf den Beinen, als hätte man sie emporgerissen. Verwirrt standen sie da, verwirrt drehten sie sich im Kreise. Jetzt sahen sie: das ganze weite Feld war lebendig geworden. Es wimmelte von Hasen, die ratlos durcheinanderliefen.

»Was sollen wir tun? Was sollen wir tun?« jammerte Plana.

»Ich versteh' das Ganze nicht!« stammelte Hops.

Auf einmal rannte die Mutter vorbei. In wilder Flucht.

»Mutter!« rief Hops. »Mutter!«

Die alte Häsin knickte zusammen und überschlug sich beinahe. Dann saß sie und atmete schwer.

»Mutter«, Hops flehte sie an, »wohin?«

»Fort«, keuchte sie, »fort!« und blieb sitzen. Ihre Flanken bebten.

Der starke, alte Fosco kam angaloppiert und setzte sich zur Mutter.

»Furchtbar!« Er keuchte. »Furchtbar!«

»Was denn?« Hops und Plana fragten das gleichzeitig.

»Das Schlimmste, das es gibt. Das Allerschlimmste«, erklärte er.

»Flucht! Flucht!« forderte Hops, der seine Entschlossenheit zusammenraffte.

»Unmöglich!« erwiderte Fosco in trostlosem Tone.

Die Mutter wendete sich und wendete sich, schnellte die Löffel hoch, ließ sie fallen. Sie schwieg, und ihr Schweigen war letzte Verzweiflung.

Ununterbrochen rannten Hasen über das Feld. Ihre dunklen, hinpfeilenden Leiber zogen kreuz und quer verworrene Striche über die weiße Fläche.

Iwner und Mamp kamen angestürmt. Nella und Olva gesellten sich dazu. Ein paar Fremde machten bei der Gruppe halt.

Mamp versuchte zu scherzen. »Die ganze Sippe ist toll geworden . . . und wie mir scheint, ich selbst ebenfalls . . .«

Fosco wies ihn zurecht: »Jetzt hat der Spaß ein Ende!«

Da krachte der Donner los, knallte und knatterte, wie zur Bestätigung von Foscos Worten.

Obwohl der Donner weit entfernt war und sein Schall nur schwach herüberdrang, begannen alle Hasen zu zittern.

Sie sahen von weitem das Mündungsfeuer vieler Gewehre blitzen, sie hörten dann das Krachen, das die Luft zerfetzte.

Hops drehte sich zur entgegengesetzten Seite. »Komm, Plana!« sagte er dumpf. »Komm! Dorthin!«

»Bleibt!« befahl Fosco.

Und im selben Augenblick zuckten die Mündungsfeuer auch auf jener Seite, knallte und prasselte auch dort drüben der Donner.

Jetzt erkannten die Hasen, daß sie umstellt waren. Denn von überallher schmetterte und donnerte ihnen die Gefahr entgegen, überall blitzten die raschen Flämmchen, die dem Donner vorausfuhren.

Eilig hasteten Lugea, Klipps und Sitzer herbei. Lugea begann sogleich: »Ich bin außer mir! Was ich mitgemacht habe! Was ich gesehen habe! Wie soll ich euch das schildern . . .«

Fosco unterbrach sie barsch: »Schildere nichts und plappere nicht!«

Lugea wollte beleidigt sein, wollte etwas Boshaftes antworten, doch sie merkte, daß sie wenig Anklang damit gefunden hätte. Und sie verstummte.

Fosco erteilte Ratschläge, Verhaltungsmaßregeln. Niemand hatte den Alten jemals in solcher Aufregung gesehen, und alle bewunderten ihn, wie er sich faßte, wie er sich beherrschte.

»Wir müssen durch den Donner«, sagte er, und seine Stimme war beinahe ruhig; nur ein leises Vibrieren hörte man darin. »Mitten durch den Donner müssen wir.« Er hielt inne, denn er konnte nicht weiterreden. Nach ein paar Sekunden setzte er hinzu: »Warten! Warten! Es hat keinen Sinn, sich jetzt schon zu ermüden! Wenn der Augenblick da ist, dann heißt es rennen mit allen Kräften, rennen wie der Wind . . . nicht nah beisammen . . . jeder für sich!«

Hops flüsterte Plana zu: »Das hat Trumer auch immer gesagt, jeder für sich.«

»Ganz nah am Donner müssen wir vorbei«, sagte Fosco, »nur Schnelligkeit, nur List kann retten!«

Die Mutter richtete sich auf und blickte im Kreise umher. »Viele von uns sterben jetzt«, sagte sie mühsam. »Viele von uns werden heute sterben . . . bevor wir flüchten . . . will ich euch Lebewohl sagen . . .«

Ohne Unterlaß rasselte, ratterte, schrie Er mit Seinen geheimnisvollen Donnerarmen und rückte immer näher.

Schon sah die kleine Schar, wie fern am Rande des Feldes Er in hundert Gestalten auftauchte. Rings im Kreis war Er bei Er. Doch nicht alle hatten Donnerarme. Dazwischen waren je fünf oder sechs andere, die bloß Stöcke schwenkten.

Die kleine Schar sah nun auch schon, wie viele Hasen unter dem Krachen der Schüsse kopfstanden, sich überkugelten, den weißen Bauch zeigten, verzappelten, bis sie ohne Regung dalagen.

Ab und zu erblickten sie außerhalb des Kreises Hunde, die zu gestürzten Hasen hinsprangen. Diese Gefallenen wollten sich aufrappeln und sich fortschleppen. Da wurden sie erwischt, in den Rachen genommen, und dann klang zu den verschreckten Hasen erschütternd der jämmerliche Todesschrei der Armen herüber.

Fosco saß steif aufgerichtet, hatte die Löffel hochgeworfen, und in seinem Leib bebte die Bereitschaft zur Flucht.

Hops hielt sich bei Plana und blieb stumm.

Alle Hasen zitterten, wie sie hier beisammensaßen, in tödlicher Angst und in heißem Erwarten des Rennens.

Mamp, der Fröhliche, verlor zuerst die Nerven. Sein Gesicht verfiel von Minute zu Minute. Er wurde unruhig, lief kopflos hin und her. Plötzlich begann er zu galoppieren, geradeaus auf den Ring zu, den Er enger und enger schloß.

Fosco rief ihm nach: »Nicht entlang der Feuerkette!«

Aber Mamp hörte ihn nicht. Er hörte ja nicht einmal auf sich selbst, er hatte alle seine Kniffe und Künste vergessen. Er war rasend vor Qual, vor Angst, rasend vor Begierde, zu entwischen. In der Nähe des Donners, der ihn betäubend umbrüllte, schwanden ihm Bewußtsein und Ziel. Ohne zu sehen, rannte er längs der Schußkette, rannte getrieben von der dumpf wühlenden Hoffnung, irgendwo werde es nicht krachen.

Viermal überschlug sich Mamp. Sein blutiger Kopf färbte den Schnee rot. Entstellt und tot lag er eine Sekunde auf dem Rücken und rollte dann leicht zur Seite.

Seine Kameraden schauten zu, und Grauen faßte sie.

»Er hat's überstanden«, sagte die Mutter traurig, »jetzt sind wir an der Reihe.«

Lugea war nicht mehr zu halten. Sie riß Klipps und die völlig verzagte Nella mit sich. Ganz nah beisammen stürmten sie vorwärts.

»Auseinander!« gebot ihnen Fosco. »Auseinander!«

»Schweig, alter Narr!« antwortete Lugea noch. Gleich darauf aber stand sie kopf, fiel mit einer rührend sanften Gebärde, die gar nicht zu ihr paßte, um und regte sich nimmer.

Klipps roulierte, weich, elastisch, als vollführte er ein Kunststück. Er hob den Kopf wieder und kroch mühselig auf dem Bauch weiter. Niemand beachtete ihn.

Nella stürzte, wie vom Blitz erschlagen. Wie eine geklatschte Fliege blieb sie an der Stelle, an der sie getroffen und sogleich gestorben war.

Nun aber begab sich etwas Sonderbares.

Ein Hund erschien mitten im Kreise und rannte die feuerspeiende Kette entlang. Er befand sich in höchster Gefahr.

Der Donner verstummte, wo der Hund erschien.

Überall, wohin der Hund kam, brach Er in Schreien, Schimpfen, Fluchen aus.

Hops, der an Foscos Lehren voll Inbrunst hing, hatte seinen klaren Kopf und seine feste Entschlußkraft wiedergewonnen. Er nahm die Gelegenheit wahr, er begriff, daß es weniger gefährlich war, sich dicht bei jenem Hunde zu halten.

»Komm, Plana!« flüsterte er, wandte sich zur Mutter und flüsterte: »Komm jetzt, Mutter!«

Und er rannte. »Lebwohl, meine Plana«, dachte er dabei, »lebwohl, liebe Mutter.« Aber er sagte das nicht. Er rief Plana zu: »Dicht an den Hund! An den Hund!«

Plana folgte ihm sogleich.

Die Mutter zögerte.

»Soll ich . . .?« fragte sie Fosco.

Der antwortete: »Vielleicht ist es klug . . . ich kann dir keinen Rat mehr geben.«

Hops und Plana sausten beinahe zwischen die Beine des Hundes. Sie erkannten ihn nicht, sie waren zu sehr in irrsinniger Hast.

Sie hörten, wie ein Er schrie: »Jago! Hier herein! Verdammter Ausreißer! Jago! Jago!«

Aber sie verstanden nichts davon. Das Brüllen erschreckte sie, denn sie waren ganz nah.

Und sie brachen durch. Sie waren schon im Freien und rasten dem Walde zu.

Jago heulte auf unter Peitschenhieben, wälzte sich am Boden und wurde getreten.

Die beiden Flüchtlinge vernahmen diese gepeinigte Stimme. »Erbarmen!« hörten sie, »Erbarmen! Ich bin alt! Ich bete dich an! Erbarmen!«

Das fuhr ihnen noch in die hochgeschnellten Löffel, als sie das schützende Dickicht erreichten. Atemlos blieben sie sitzen. Das Herz pochte ihnen gegen die Rippen, schlug ihnen bis in den Mund, der schmerzhaft trocken war, hämmerte ihnen an die Schläfen, darin ein tiefes Summen sich drehte. Doch Hops und Plana schauten einander an und waren glücklich. – »Der Arme«, sagte Plana endlich.

Dann krachte der Donner wieder, krachte und knatterte ärger als vorher.

Hops besann sich. »Wo ist die Mutter?« fragte er.

»Deine Mutter?« antwortete Plana bang. »Ich hab' sie nicht gesehen.«

»Sie war doch hinter uns . . .«, sagte Hops bekümmert.

»Davon weiß ich nichts«, gestand Plana.

Hops fuhr auf und jubelte: »Da kommt sie!«

Richtig, die Mutter fegte heran und ließ eine kleine Wolke Schneestaub hinter sich. Als sie im Dickicht anlangte, machte sie kurz halt. »Du bist gerettet, mein teurer Sohn!« sagte sie mit keuchender Stimme. »Ich freu' mich! Ich freu' mich!« Und sofort hastete sie weiter.

»Mutter«, bat Hops, »ruh dich ein wenig aus! Nur ein bißchen!«

Schon im Laufen antwortete sie: »Unmöglich! Laß mich allein sein! Wir sehen uns wieder!« Und sie war fort.

Hops und Plana fanden nachher rote Blutstropfen auf dem Wege der Mutter.

Draußen hatte sich der Kreis inzwischen enger zusammengezogen. Die weniger gefährlichen Zweibeinigen, die nur Stöcke trugen, waren ausgeschieden. Nur die mit den Donnerarmen waren geblieben. Die wüteten nun furchtbar unter den Hasen.

Ganz zuletzt, als der Kessel schon klein und ein Verweilen darin unbedingt tödlich war, entstob ihm ein großer, alter Hase. Es krachte hinter ihm drein, Schnee spritzte auf durch den einschlagenden Schrothagel. Doch der große, alte Hase erreichte unverletzt den Wald. Das war Fosco. – – –

Der Abend begann trübselig zu dämmern. Bald senkte sich die Nacht herab, die nicht ganz dunkel werden konnte, weil der Schnee zu stark leuchtete.

Da und dort klang dünn, schwach und ergreifend der letzte Schrei eines verwundeten Hasen, der still in seinen Schmerzen gelegen hatte, und der nun umgebracht wurde. Fuchs und Iltis hielten Nachlese.

Tief im Walde saßen Hops und Plana bei Fosco.

Hops erzählte bekümmert von der Mutter.

»Wo ist sie?« klagte er. »Was mag mit ihr sein?«

Fosco tröstete: »Laß sie . . . Glaub mir, es ist nicht schlimm mit ihr.«

Hops ließ es keine Ruhe. »Wenn aber einer von unseren Feinden sie überfällt?«

»Keiner findet sie«, versicherte Fosco, »keiner! Deine Mutter ist so klug! Sehr klug! Sogar mir würde es schwerfallen, sie zu finden.«

Plana lenkte ab: »Wie bist du entkommen, Fosco?«

Er antwortete: »Das . . . weiß ich selbst nicht.«

»Ein furchtbarer Tag war das«, seufzte Plana.

Hops stimmte ihr aus vollem Herzen zu: »Ein schrecklicher . . . ein unvergeßbar schrecklicher Tag!«

Fosco schwieg eine Weile. Dann sagte er leise und nachdenklich: »Des Hasen Leben währet sieben Jahre, wenn es hoch geht, acht Jahre. Und wenn es schön gewesen, dann ist es Erschrecken und Flucht gewesen . . . Seid fröhlich, weil ihr lebt, Kinder!«

 


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