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Das Alibi als Verräter

Es war im Jahre 184*, als die Bevölkerung der Landeshauptstadt L. durch einen mit beispielloser Verwegenheit im Weichbilde derselben, in einer der belebtesten Straßen, bei hellem Tage verübten Raubmord in fieberhafte Aufregung versetzt wurde. Die Haushälterin eines Domherrn war in dessen Wohnung in seiner Abwesenheit erstochen und die Summe von zwanzigtausend Gulden in barem Gelde geraubt worden. Man hatte die Ermordete noch vormittags um halb zwölf auf dem Markte gesehen, und um ein Viertel nach ein Uhr war dieselbe von dem zurückkehrenden Domherrn in ihrem Blute liegend tot gefunden worden. Dieser machte sofort persönlich die Anzeige bei der Polizei, wußte jedoch nicht den geringsten Anhaltspunkt für die Nachforschungen derselben anzugeben. Der Polizeidirektor traf also auf gut Glück mit äußerster Energie und Raschheit seine Maßregeln, alle halbwegs gefährlichen Individuen in L., denen man ein solches Verbrechen zutrauen konnte, wurden in den nächsten Stunden angehalten, Haussuchungen in allen verdächtigen Häusern sowie die genauesten Erhebungen am Tatorte fanden statt, alle Bewohner der umliegenden Straßen wurden einvernommen, aber trotzdem alle Kräfte, alle Organe der Polizei tätig waren, war nicht die geringste Spur der Täter zu entdecken, ja nicht einmal irgendein noch so unbedeutender Verdacht lag vor.

So stand denn die Angelegenheit wahrhaft trostlos, als sich die Beamten der Polizei abends um ihren Chef versammelten und ihm von den Ergebnissen ihres Eifers und ihrer Bemühungen Bericht erstatteten.

Endlich, als man sich eingestehen mußte, daß man einem ungeheuren Verbrechen vollkommen ratlos gegenüberstand, daß die Ehre der sonst von der Bevölkerung von L. als Sicherheitsbehörde so hoch geachteten Polizei ernstlich gefährdet war, bat ein jüdischer Revisor in seiner klugen, aber bescheidenen Weise den Polizeidirektor, ihn anzuhören.

Unsere Leser werden fragen, was ist ein Revisor?

Wir werden diese Frage am besten beantworten, wenn wir zuerst sagen, was ein Revisor nicht ist oder eigentlich war, denn er gehörte zu den vormärzlichen Typen, welche die Bewegung von 1848 mit manchem anderen für immer wegschwemmte.

Der Revisor war also kein eigentlicher Polizeibeamter und kein geheimer Polizeiagent, er war aus der Bevölkerung, und zwar in L. vorzüglich aus der jüdischen, für Polizeizwecke engagiert, er arbeitete jedoch nicht im Büro, sondern tat sein Bestes außer demselben als ein, wenn auch unbewußter, aber folgsamer Adept Meister Goethes, dessen Spruch: »Greift nur hinein ins volle Menschenleben, und wo ihr's packt, da ist's interessant« er polizeilich anzuwenden schien, denn kein anderer im Amte konnte mit ihm an Lokalkenntnis und an Vertrautheit mit den gefährlichen Klassen, ihren Gewohnheiten und Sitten wetteifern.

Es war also ein jüdischer Revisor K., der brauchbarste, bewährteste unter den Revisoren in L., welcher jetzt das Wort ergreift.

»Nehmen Sie nicht ungütig, Herr Gubernialrat«, begann er in seinem deutsch-jüdischen Jargon, »ich habe einen Gedanken. Sie werden sagen vielleicht, der K. ist ein Narr, gut, aber vielleicht ist es auch zu was gut. Der frühere Landesadvokat S. hat vor einem Monat etwa einen Menschen in seinen Dienst genommen, der kurz vorher aus dem Kriminal gekommen ist und wiederholt wegen verwegener Einbruchsdiebstähle gestraft war. Ich habe damals dem Herrn Baron P., er wird sich noch meiner Worte erinnern, ich habe ihm gesagt, aus der Verbindung dieser beiden Menschen muß etwas Furchtbares hervorgehen. Nehmen Sie nicht ungütig, Herr Gubernialrat, aber Gott soll mich strafen, wenn diese zwei nicht die Mörder sind.«

Es fragt sich nur, wer war der Mann, den der jüdische Revisor aus so tiefer, innerer Überzeugung eines so furchtbaren Verbrechens anklagte.

Es war ein wohlhabender, ein hochgebildeter Mann, Doktor der Rechte und der Philosophie, Ritter von S., gewesener Landesadvokat. Er war seiner Stellung wegen Mißbrauchs der Amtsgewalt entsetzt worden, aber von hier bis zum planmäßigen Raubmorde war ein großer Schritt.

War dieser Schritt dem Manne mit den drei Diplomen, in dessen Salon sich nach wie vor dem Verluste seiner Advokatur ein erlesener Kreis von Männern aus allen Ständen versammelte, zuzumuten?

Der Polizeidirektor berief auf der Stelle den Polizeibeamten Baron P., auf den sich K. berufen hatte, und teilte ihm den Verdacht des Revisors mit.

»Sie haben mit S. studiert«, schloß er. »Sie haben noch in letzter Zeit mit ihm freundschaftlich verkehrt, Sie müssen S. kennen, ich frage Sie, auf Ehre und Gewissen, trauen Sie ihm ein solches Verbrechen zu?«

Baron P., welcher totenbleich geworden war, besann sich kurze Zeit.

»Ich frage Sie noch einmal«, sagte sein Chef, »ist S. einer solchen Tat fähig?«

»Ja«, gab Baron P. endlich zur Antwort.

Dies genügte dem Polizeidirektor, nun hatten die Nachforschungen eine bestimmte Richtung gewonnen und wurden sofort auf der von dem Revisor angedeuteten Fährte fortgesetzt. Noch in derselben Nacht kam Baron P. mit der Meldung, daß S. wenige Tage vor dem Morde seinen Bruder, einen jungen Theologen von noch nicht zwanzig Jahren, in auffallender Weise mitten in der Studienzeit aus dem Priesterseminar heraus und zu sich genommen hatte. Gegen Morgen hatte der Revisor K. bereits mehr als zehn Zeugen einvernommen, welche alle eidlich zu Protokoll gaben, daß sie den Bruder des Doktors S. und auch diesen selbst in den letzten Tagen häufig in der Straße, und zwar in der Nähe des Hauses, in welchem der Mord begangen worden war, gesehen hatten, und endlich fand sich sogar eine Frau, welche den Seminaristen während der Zeit, in welcher der Mord begangen worden sein mußte, vor dem Hause, in dem der Domherr wohnte, hatte auf und ab gehen sehen.

Nun konnte man S. vorladen. Er erschien mit seinem in L. wohlbekannten ewig lächelnden, kalten Antlitz, und als ihm das Alibi abverlangt wurde, erklärte er, ohne das geringste Zeichen von Verlegenheit oder Erregung, um die Zeit, über die er sich zu rechtfertigen hatte, nämlich von halb zwölf bis halb ein Uhr, in dem Bade im J.garten gewesen zu sein. Der Polizeidirektor fuhr selbst auf der Stelle hin und nahm zuerst die Besitzer des Bades ins Verhör. Beide – Mann und Frau – bestätigten, daß Dr. S. um die in Frage stehende Zeit wirklich in ihrer Anstalt anwesend war, daß er ein Bad genommen und dann im Garten noch längere Zeit promeniert habe. Dasselbe bezeugte die Dienerschaft. Schon schien das Alibi zugunsten des Dr. S. festgestellt, da sagte ein alter Badewärter plötzlich: »Es ist eine heilige Sache um einen Eid, Herr Gubernialrat, und da muß ich schon sagen, daß es mir doch schwer sein wird, zu beschwören, ob der Herr Dr. S. wirklich um halb zwölf Uhr, wie er sagt, schon bei uns hier war.«

»Wie?« fragte der Polizeichef.

»Ja, es ist eine eigene Sache«, fuhr der ehrliche Alte fort, »als der Herr Dr. S. gestern im Fiaker bei uns ankam, sah er unsere Uhr an und zog dann die seine aus der Tasche. ›Was habt ihr da für eine Uhr‹, sagte er, ›die geht ja um eine volle halbe Stunde voraus, es ist ja erst halb zwölf, siehst du, und bei euch ist es schon zwölf Uhr vorüber.‹«

»Mehr brauche ich nicht zu wissen«, sagte hierauf der Polizeichef.

S. hatte an dem Tage des Mordes, ehe derselbe noch entdeckt war, bereits an sein Alibi gedacht, die erste Indizie gegen ihn war gegeben.

Eine halbe Stunde später wurden Dr. Ritter v. S., dessen Bruder, der Theologe, und der Bediente des ersteren von dem Polizeidirektor verhaftet und dem Strafgerichte übergeben.

Nun begann die Untersuchung. Bei den ersten Verhören zeigten sich Dr. S. und sein Bedienter sehr zuversichtlich, sie leugneten hartnäckig, und der erstere beantwortete sogar die Fragen des Untersuchungsrichters in impertinent spöttischer Weise, an dem jungen Theologen dagegen war eine auffallende Trauer und Zerknirschung zu bemerken, doch legte auch er kein Geständnis ab.

Nach einigen Tagen bat er jedoch um die Gunst, mit dem Direktor des Priesterseminars, seinem »teuren Lehrer«, wie er ihn nannte, einem allgemein hochgeachteten, würdigen Priester, ohne Zeugen, vertraulich sprechen zu dürfen. Da man von dieser Unterredung eine heilsame Wirkung auf das Gemüt und Gewissen des Angeklagten erwartete, nahm das Gericht keinen Anstand, ihm dieselbe zu gewähren. Und wirklich, nachdem der Seminardirektor mehr als zwei Stunden bei seinem ehemaligen Schüler geweilt hatte, verließ er denselben mit feuchten Augen, und der junge Theologe, den man in Tränen gebadet fand, verlangte, sofort mit dem Untersuchungsrichter zu sprechen, und legte vor demselben ein vollständiges, reumütiges Geständnis der Tat ab.

Liebe zu seinem Bruder hatte ihn bestimmt, an derselben teilzunehmen. Er war erst wenige Tage vor dem Morde in den teuflischen Plan eingeweiht worden. Seine Aufgabe war es, vor dem Hause Wache zu halten, während der Bediente die Haushälterin mit einem Messer ermordete, das Geld raubte und es dem Dr. S., welcher, obwohl der eigentliche Urheber der Tat, in einiger Entfernung von dem Tatorte weilte, einhändigte.

In der Nacht vergruben die drei gemeinschaftlich das Geld unter einer Brücke in der Nähe von L.

Augenblicklich begab sich eine gerichtliche Kommission an Ort und Stelle und fand wirklich die geraubten zwanzigtausend Gulden beinahe vollständig.

Ein Zufall wollte, daß gerade zu der Zeit, wo der junge Theologe sein Geständnis ablegte, der eigentliche Mörder, der Bediente, gleichfalls im Verhöre war. Plötzlich erschien der Polizeidirektor im Verhörzimmer und fragte: »Leugnet er noch immer?«

»Ja«, sagte der Untersuchungsrichter.

»Nun, ich werde dich aber doch hängen sehen«, rief der Polizeidirektor dem Mörder zu, »der Bruder, der Seminarist, hat bereits alles gestanden.«

Der Untersuchungsrichter erschrak im ersten Augenblicke über diese ungesetzliche Intervention, denn er glaubte nichts anderes, als daß der Polizeidirektor eine unerlaubte List anwende, um dem Angeklagten ein Geständnis zu erpressen; als er jedoch erfuhr, daß der Theologe wirklich die Tat bekannt habe, beruhigte er sich um so mehr, als der Mörder nach kurzem Besinnen einen Fluch und dann die dem niederen Manne in jener Zeit geläufigen Worte ausstieß: »So geht es einem, wenn man sich mit den Herren einläßt.«

Hierauf bekannte auch er seine Schuld.

Nur der eigentliche Anstifter, Dr. S., blieb unerschütterlich. Nicht einmal die Konfrontation mit seinen Mitschuldigen machte einen Eindruck auf ihn. Er blieb dabei, er sei unschuldig. »Ich fühle einen tiefen Schmerz um dich«, sagte er zu seinem Bruder, welcher ihn zum Geständnis zu bewegen suchte, »ich entsetze mich, daß du, ein gottgeweihter Mann, einer solchen blutigen Tat fähig warst, aber du vergrößerst deine Schuld durch eine beispiellose Undankbarkeit, indem du mich unschuldig anklagst, bin ich nicht dein Wohltäter, du Elender?« Da in jener Zeit zu einem Todesurteil das eigene Geständnis des Schuldigen notwendig war, so verfielen in der Regel die verhältnismäßig besser gearteten Verbrecher dem Galgen, während die eigentlich verworfenen, raffinierten den Kopf aus der Schlinge zu ziehen verstanden. So auch hier. Der Bediente, der die Haushälterin mit eigener Hand ermordet hatte, wurde zum Tode verurteilt und in L. gehenkt. Der Theologe, bei dem seine Jugend, die Verführung durch seinen Bruder, vor allem aber sein offenes Geständnis und seine tiefe Reue als Milderungsgründe erschienen, wurde zu lebenslänglichem Kerker verurteilt, starb jedoch bereits im ersten Jahre seiner Haft an gebrochenem Herzen.

Dr. S., der geistige Urheber der Tat, der eigentliche planmäßige Mörder, konnte nur zu zwanzig Jahren schweren Kerkers verurteilt werden.

Er überstand dieselben glücklich und kehrte, zwar gealtert, aber im vollständigen Besitze seiner Geisteskräfte und seiner Gesundheit aus der Haft zurück.

Wenn irgendein Kriminalfall die Mangelhaftigkeit der vormärzlichen Gesetzgebung schlagend zu illustrieren imstande ist, so ist es dieser, aber auch dem Polizeibeamten wie dem Psychologen bietet er viel Interessantes als ein eigentümlicher Beitrag zur Naturgeschichte der Menschen.


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