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Nur die Toten kehren nicht wieder

Der erste Maitag 1767 täuschte die Erwartungen der Bewohner von Moskau in keiner Weise. Dieser anmutigste der russischen Festtage wird Jahr für Jahr durch eine allgemeine Ausfahrt nach einem nur wenige Werst entfernten Gehölze gefeiert; da aber nur zu oft ein neu eintretender Frost oder Regen die Freude verdirbt, wird schon mehrere Tage vorher ängstlich nach jedem Wölkchen ausgelugt. Nur diesmal war es ein richtiger Maitag, die Bäume grünten, und die Gebüsche zeigten die ersten Blüten; aller Orten tönte munterer Vogelgesang, und ein blauer Himmel überspannte die alte Zarenstadt.

In dem Hause des reichen Kaufherrn Peter Paulowitsch Samsonow war eine kleine, aber dafür um so lautere Gesellschaft versammelt, um an der Fahrt teilzunehmen. Das Haus lag in der breitesten Straße von Kilai-gorod, hatte eine hölzerne, weiß getünchte Freitreppe, einen marmorierten Balken, ein Dach, aus dem eine kleine vergoldete Kuppel hervorsprang, und in dem anliegenden Gärtchen einen chinesischen Pavillon. In dem großen Prunkzimmer nahmen die Herren Süßigkeiten und Thee und warteten auf die Frauen, welche noch mit ihrem Anzüge beschäftigt waren. Es waren vier Männer da, der Hausherr Samsonow, ein großer, feister, behäbiger Kaufmann vom alten Schlage, in russischer Tracht, seidenem Kaftan, breitem Gurt das runde Gesicht von einem runden Barte eingerahmt, der Bruder seiner Frau, Herr Jamrojewitsch, Schreiber in der Reichskanzlei, ein kleines, dürres Männchen in zimtfarbenem Frack, weißer Halsbinde, gelbseidener Weste, taubengrauen Kniehosen, Strümpfen und Schuhen, mit gepudertem Kopf, zwei dicken Locken an den Schläfen und einem Zöpfchen, das dem gestutzten Schwänzchen eines Hündchens ähnlich sah. Ferner Iwan Sergiewitsch Babunin, der Schwiegersohn Samsonows, der Gatte seiner ältesten Tochter Feodora, ein junger Mann in russischer Tracht, mit von Blattern zerrissenem Gesicht, dessen Geschäft und Arbeit einzig und allein darin bestand, eine Anzahl schöner Häuser in Moskau zu besitzen; endlich ein junger Offizier, der Kapitän Apostol Tschoglokow. Der letztere hatte den Vorteil, in seiner knappen, reichgeschmückten Uniform seine hohe kräftige Gestalt in günstigster Weise zeigen zu können. Der Puder, welcher sein Haar vollkommen weiß machte, stach wirksam von dem gebräunten Gesicht ab, dessen Züge edel und dessen dunkelblaue Augen feurig und schwärmerisch zugleich waren.

Herr Jamrojewitsch hatte an diesem Tage ganz besonderes Unglück. Er spielte gern den in alle Mysterien der Politik eingeweihten Staatsmann, obwohl seine Thätigkeit für das Wohl des Vaterlandes beinahe ausschließlich darin bestand, die Federn zu schneiden, mit denen die Minister unterzeichneten. Jedesmal, wenn er etwas erlauscht hatte, gab er sich die Miene des Unterrichteten, aber Unergründlichen, machte gerne halbe Anspielungen und drehte seine Tabatiere vornehm zwischen dem Daumen und Zeigefinger der rechten Hand, bis er endlich die Neugier aller erregt hatte, dann, wenn man ihn mit Fragen bestürmte, erglänzte sein sonst lederfarbenes Gesicht purpurn, gleich der aufgehenden Scheibe des Mondes, und endlich begann er mit leiser Stimme zu erzählen, was er wußte, und durch abgebrochene Worte, durch Räuspern, Blasen, Spucken, Husten zu ergänzen, was er nicht wußte. Heute hatte er aber Unglück. Er war feierlich eingetreten, ohne daß es jemand bemerkt hatte, saß mit einem in wichtige Falten gelegten Gesicht schweigend da, ohne daß jemand davon Aufhebens machte und hatte dann bereits zum fünften male die vielsagenden Worte hingeworfen: »Ihre Majestät die Kaiserin wird heute an der Ausfahrt teilnehmen,« ohne daß einer der Anwesenden eine Frage daran geknüpft hätte.

Eben nahm er einen neuen Anlauf, drehte seine Tabatiere rasch wie eine Wetterfahne im Sturme zwischen den Fingern und murmelte: »Die Kaiserin – weshalb mag sie nach Moskau gekommen sein?« als die Frauen eintraten und wieder niemand seine mysteriösen Worte beachtete.

Voran schritt Frau Eudoxia Samsonow, eine Vierzigerin, die gewiß einmal sehr hübsch, frisch und zart, jetzt aber wie die meisten Russinnen dieses Alters entsetzlich dick war und mit Mühe in ihrem Fett zu atmen schien. Sie sah in ihren reichen altrussischen Kleidern wie ein aufgeputztes Schlittenpferd aus. Ihr folgte die verheiratete Tochter Feodora Babunin, dann kamen die beiden unverheirateten, Elisabetha und Basja, alle drei hübsch, weiß und rot, mit unverkennbarer Anlage zur Üppigkeit, und festlich geschmückt. Ganz zuletzt trat rasch und stolz ein junges Mädchen von kaum sechzehn Jahren, mittelgroß, schlank, mit reichem dunklen Haar und feurigen Augen in das Zimmer, es war die jüngste Tochter und die schönste, Mascha, von allen die Zigeunerin genannt. Ihr erster Blick traf den hübschen Offizier, der sich erhoben hatte und nach einer tiefen Verbeugung im Stile der Menuette gegen die anderen Frauen auf sie zuging und ihre Hand küßte. Nach russischer Sitte beugte sich die schöne Mascha lebhaft zu ihm hin, und ihre frischen Lippen berührten seine Stirne.

Niemand sah etwas auffälliges in dieser Begrüßung, um so weniger, als Tschoglokow für den begünstigten Bewerber der schönen Kaufmannstochter galt. Mascha hatte ihre reine Stirne mit einer Stirnbinde, Perlen auf rotem Samt, gekrönt, welche ihr Haupt gleich einem Heiligenschein umstrahlte, und trug einen neuen roten Scharafan mit roter goldgestickter Seide.

Herr Jamrojewitsch hielt diese Gelegenheit, die sich seiner staatsmännischen Beredtsamkeit darbot, fest und sprach, diesmal mit einer Stimme, die niemand überhören konnte: »Mascha, Du siehst heute wahrhaftig wie die Zarewna selbst aus, ja, ja, nun, Du wirst sie sehen, Ihr alle werdet sie sehen, sie fährt heute aus. Wie mancher wird sich etwas dabei denken, etwa: Wie kommt es, daß unser Mütterchen Katharina II. eben jetzt in Moskau ist und nicht anderswo?«

In der That war es diesmal dem zimtfarbenen Schreiber gelungen, die Aufmerksamkeit aller zu erregen. »Ja, wie kommt es, daß die Kaiserin eben jetzt in Moskau ist?« sagte Samsonow, und ähnlich erklangen zu gleicher Zeit die Fragen aller anderen, mit Ausnahme des Kapitäns, dessen Stirne sich finster runzelte.

»Allerdings,« erwiderte Jamrojewitsch langsam, die Tabatiere verharrte dabei gleichfalls in diplomatischer Ruhe, »wer reden dürfte, aber so – es giebt Geheimnisse – Staatsrücksichten –«

»Nun, wir wollen also nicht in Euch dringen,« fiel Babunin ein, »sondern an unsere Ausfahrt denken.«

»Dringt immerhin in mich,« antwortete der Schreiber mit großer Würde, »ich werde nichts verraten, das ist so unsere Art in der Reichskanzlei.«

Man ging die Treppe hinab und nahm in zwei schönen Wagen Platz, in dem einen saß der Kaufherr, seine Frau, der Kapitän und Mascha, in dem zweiten die drei anderen Töchter mit Babunin. Man fuhr durch die Straßen des altertümlichen Moskau zwischen Steinpalästen und hölzernen Häusern, bis die Wagen die prächtige Allee riesiger Fichten erreichten, welche auf dem ganzen Wege von mehreren Werst die Fahrenden begleiten und hier ihren Platz in der langen Reihe der verschiedenartigsten Fuhrwerke einnahmen. Das ganze reiche und wohlhabende Moskau schien auf der Wanderung, doch auch der kleine verarmte Adel durfte und wollte an diesem Tage nicht fehlen. So sah man denn zwischen den prachtvollen, mit feurigen Racepferden bespannten Equipagen der Großen, in denen Damen mit hohen Toupets und weit gebauschten Roben saßen und die sicher unaufhörlich in Bewegung waren, deren Kutschböcke und Tritte mit goldstrotzenden Dienern besetzt waren, andere von Schindmähren gezogen, deren Geschirr mit Stricken zusammengebunden war, während die Livree der Lakaien Risse zeigten. Hier neumodische Glaswagen, dort alte Kutschen, Archennoahs auf Rädern, bei jedem Schritte ächzend. Zwischen den beiden Reihen von Wagen, die ausfuhren oder zurückkehrten, sah man elegante Herren, Offiziere und Soldaten, welche die Ordnung aufrecht erhielten, auf raschen Pferden hin und hersprengen, während rechts und links tausende von Bauern festlich gekleidet, dem Schauspiel zusahen.

Mehr als zweitausend Kutschen waren in Bewegung, und tausende von Menschen füllten das Gehölz, als die Gesellschaft dort ankam. Baumgruppen wechselten mit großen Wiesen und blühenden Gebüschen ab, die Wohlgeruch versendeten. An geeigneten Stellen waren geräumige Zelte aufgeschlagen, in denen die Großen Erfrischungen nahmen und ihre Freunde bewirteten.

»Nun, Herr Vetter, wo bleibt denn die Zarewna,« begann Babunin, nachdem man ausgestiegen und einige Zeit in dem glänzenden Gewühl umhergegangen war.

»Wir werden sie sehen, ich sage es Euch, und noch recht oft werden wir sie sehen, sie wird länger in Moskau verweilen, als man denkt, es sind wichtige Dinge im Zug; ja, wer reden dürfte,« seufzte der Schreiber und drehte die Tabatiere würdevoll zwischen den Fingern.

»Ob es dies ist oder jenes, was unser Mütterchen Katharina vorhat,« sagte Samsonow, »gewiß wird es zu unserem besten sein.«

Tschoglokow schoß einen seltsamen Blick auf ihn und biß sich in die Lippe fest, als zwinge er sich zu schweigen.

»Man darf nichts sagen,« fuhr der Schreiber fort, »am wenigsten urteilen, aber jeder muß es loben, eine solche Regierungshandlung, in einem Staate nämlich, wo es nur einen Herrn giebt und alle anderen Sklaven sind, eine unerhörte Großmut; die Engländer werden staunen; und was haben sie dann vor uns voraus? Nichts haben sie vor uns voraus, nicht das mindeste.«

»Wovon sprichst Du,« staunte Samsonow.

Die Tabatiere lief wie das Rad eines Scherenschleifers zwischen den Fingern des Schreibers. »Wovon ich spreche? Von einem Staatsgeheimnis. Vor vielen Monaten schon sind Ukase in die entferntesten Gegenden des Reiches geschickt worden. Damals war noch nicht Zeit davon zu reden, deshalb habe ich keinerlei Andeutung gewagt –« damals hatte er nämlich von der Sache nichts gewußt – »aber jetzt kann man – so im Familienkreise nämlich – und dergleichen – kann man es wagen – unsere große Monarchin – es wird dieser Tage ein Manifest erscheinen, das Abgeordnete aller Nationen Rußlands hierher nach Moskau beruft, um die neuen Gesetze zu beraten –«

»Seid Ihr von Sinnen?« schrie der Kapitän auf.

»Herr Offizier, ich habe das Manifest eigenhändig – abgeschrieben.«

»Also ein Parlament sollen wir erhalten wie in England?« sagte Babunin.

»Durch den freien Willen und die Gnade der Zarin,« fügte Samsonow hinzu, »ja, ja, es ist eine große, eine weise, herablassende Frau, unsere Herrin Katharina II. Viele Jahre möge sie leben und regieren, viele Jahre!«

Mit einem male entstand lebhafte Bewegung, ein Wogen und Drängen in den Menschenmassen.

»Die Kaiserin, von der Prinzessin Daschkow begleitet, es ist ihr goldener Wagen!« rief der Schreiber.

In einer Karosse aus vergoldetem Holz, deren Wände venetianisches Glas bildete, saßen zwei Frauen, die eine schön und majestätisch, mit einer Kosakenmütze auf dem gebieterischen Haupte, die andere kaum hübsch zu nennen, aber voll Grazie, Leben und Geist. Mascha hatte den Arm des Kapitäns gefaßt und führte ihn rasch bei Seite. »Du sollst sie nicht sehen,« sagte sie.

»Wen?«

»Die Kaiserin.«

»Weshalb, thörichtes Mädchen?« fragte Tschoglokow überrascht.

»Weil – ich weiß eigentlich selbst nicht weshalb –,« gab Mascha zur Antwort, »aber ich muß jedesmal zittern, wenn von Katharina die Rede ist, vielleicht ist es ein Vorgefühl, daß sie Dich mir entreißt. Sie wählt ihre Günstlinge unbekümmert um das Urteil der Welt, und Du – Du, weshalb solltest Du ihr nicht gefallen?«

»Bist Du ruhig, wenn ich Dir sage, daß Katharina mir nie gefährlich werden kann?«

»Wirklich? Sie ist doch sehr schön!«

»Aber ich hasse sie,« murmelte der Kapitän.

Mascha schien ihn nicht zu verstehen. »Was Du sagst,« stieß sie endlich hervor.

»Sie ist eine Tyrannin, sie hat ihren Gatten ermorden lassen,« fuhr Tschoglokow fort, »und belügt Europa mit dem Schein großer Handlungen, während sie ihr Volk barbarischer mißhandelt, als es je ein Nero oder Kaligula gewagt hat.«

»Ich verstehe Dich nicht,« sagte das Mädchen nach einer Weile, »aber es ist mir genug, daß Du sie nicht liebst.«

»Und dieses russische Parlament! Was ist das, was soll das sein?« fuhr der Kapitän fort, »eine erbärmliche Komödie, um ihre Lobredner im fernen Frankreich zu täuschen und zu neuen Panegyriken zu begeistern, uns kann sie nicht betrügen, denke daran, wie lächerlich das enden wird.«

»Nun sage mir aber,« rief Mascha plötzlich, »wenn Du sie so sehr hassest, warum ich mich vor Katharina so sehr fürchte, sag' mir das?«


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