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Der Königssohn

In meinem Chronikbuch »Bertrade« habe ich einiges von jenem französischen König erzählt, den seine Zeitgenossen, zwar nicht das gemeine Volk und die Bürger, aber die Großen des Reiches den »schlimmen Lutz« nannten, dem aber der Papst zu Rom, und er mußte wohl wissen warum, den Titel des Rex christianissimus, des Allerchristlichsten Königs verliehen hat, denn erst von Ludwig dem Elften her schreibt sich dieser Titel.

Wie aber dieser König gestorben ist, dem das Königtum und Volk von Frankreich wahrlich nicht wenig verdanken, so unerhört unmenschlich, ja teuflisch er durch manche seiner Charakteräußerungen wirken mochte, das will ich nun heut, wenn man mir Gehör schenken mag, gern, wie man zu sagen pflegt, zum besten geben, wenn es auch sonst nicht gerade vom Besten sein sollte.

Unter unaufhörlichen Plackereien mit den selbstherrischen Großen des Königreichs, unter unzähligen gefahrvollen Kämpfen mit inneren und äußeren Feinden, bezeichnet durch blutgedüngte Felder und Hunderte zerbrochener Burgen und zerstörter Städte, unter unermüdlicher und ins kleinste gehender Arbeit an den mannigfaltigsten Reformen der Verwaltung und sonstiger Pflege der Staatswohlfahrt, unter unsagbaren Ausschweifungen auch und rohen Vergnügungen der schmutzigsten Art in der Gesellschaft gemeinsten und verworfensten Gesindels: unter all dem war der Tiger alt geworden. Seine Lunge begann zu eitern, er hustete bedenklich, unter Auswurf von Blut und noch Schlimmerem, und wenn sein Arzt Coctier auch nur verstohlen die Achsel zuckte, der ewig mißtrauische König merkte es doch.

Da bekam er es mit der Angst und er lag häufiger als je auf den Knien vor dem Bilde Unserer Lieben Frau von Embrun, die er als seine besondere Beschützerin verehrte. Sogar zum Kriegsobersten seiner Armee hatte er sie förmlich ernannt und zeichnete alle militärischen Erlasse und Verordnungen und Anstellungspatente prokuratorisch in ihrem Namen.

Einen verkleinerten bleiernen Abguß von ihrem Bild hatte er sich auf sein altes abgetragenes Hütchen geheftet, so daß er dieses nur vor sich auf einen Stuhl zu legen brauchte, um überall den Altar zur Hand zu haben, vor dem er sich auf die Knie werfen konnte. Ja, er trug sogar eine ganze Anzahl ähnlicher Bildchen auf seinem Hütchen, und wie er dieses drehte, stand ihm immer eine andere Muttergottes vor seinen Augen, zu der er beten konnte, wie etwa Unsere Liebe Frau von Cléry oder Unsere Liebe Frau vom Schnee zu St. Esprit und andere. Aber sein höchstes Vertrauen setzte er doch in die göttliche Frau von Embrun, für die er die zärtlichsten Schmeichelworte zu finden wußte, wie sonst nur ein Verliebter für seine geliebte Herrin.

Aber das Husten und das Stechen in der Brust hörte über all seinem Beten nicht auf, so daß er sich entschloß, wenn es ihm auch in seinem jetzigen Zustand recht schwer fallen mochte, noch einmal, wie er schon oft getan, die Fahrt nach den fernen Hochalpen anzutreten, wo sich über der wildrauschenden Durance das hohe Münster Unserer Lieben Frau von Embrun erhob, in welchem er schon in frühen Jahren Kanonikus geworden war. Seinem persönlichen Andrängen konnte die Heilige gewiß nicht widerstehen.

Wie einer seiner ärmsten Untertanen gekleidet, das Pilgermäntelchen mit den symbolischen Muscheln bedeckt, so begab er sich auf die Wallfahrt, und nur drei Personen folgten ihm, vor allen der unvermeidliche Tristan L'Hermit, sein Henker und Scharfrichter und liebster Freund, dann sein Arzt Coctier und endlich der Mönch Jehan Le Loncheur, sein Beichtvater; denn drei Dinge fürchtete dieser König: die Menschen, den Tod und das ewige Gericht.

Seine Gottesfurcht war freilich von eigentümlicher Beschaffenheit. Wenn eine ruchlose Tat ihm das Gewissen bedrückte, so glaubte er sich durch eine Pilgerfahrt, durch Kirchenbauten, Klostergründungen, Schenkungen an die Geistlichkeit und ähnliche Werke so billig als möglich loszukaufen und mit Gott handelseinig zu werden, selbst wenn er auch dabei nicht ganz ehrlich verfuhr, und von den angebotenen Leistungen oder Zahlungen nachträglich ein gut Teil wieder abzwackte.

Wenn er auf diese Weise und nicht ohne kleine Überlistungen des lieben Gottes zum eigenen pekuniären Vorteil einen Handel ins reine gebracht hatte, schlug er vergnügt ein Schnippchen und dachte nicht weiter daran.

Nur eine Handlung seines Lebens reckte sich immer wieder gespenstisch vor ihm auf, in schlaflosen Nächten, sein unmenschlich grausames Verfahren gegen Jakob von Armagnac, Herzog von Nemours.

Zwar beschuldigte er diesen Großen vielleicht nicht mit Unrecht der Felonie, der Empörung gegen seinen Oberherrn und König, aber die Art, wie er den Empörer dann bestraft hat, einst der innigste Freund seiner Knabenjahre, konnte nun doch mit den Regeln der christlichen Barmherzigkeit nicht recht in Übereinstimmung gebracht werden. Besonders von dem, was er den Kindern des Unseligen getan hatte, konnte man sagen, es sei der Ausfluß gewesen einer unmenschlichen Grausamkeit. Als man den Herzog auf das Blutgerüst führte, in der Stadt Paris auf dem Greveplatz, da wo der Fluß vorbeifließt, auf dasselbe Gerüst, wo noch der scheußliche Kopf und Rumpf eines gemeinen Raubmörders im Blute lag: da hatte man schon vorher die beiden unerwachsenen Söhne des Verurteilten ebenfalls dahingebracht, barhäuptig und in weiße Gewänder gekleidet. Und in dem Augenblick, da oben der Vater sein Haupt auf den schmierigen Block legte, stießen zwei scheußliche Henkersknechte die Kinder unter das schmachvolle Gerüst, daß das Blut ihres Vaters niederrann auf ihre unschuldigen blonden Häupter.

Wenn ihn aber auch diese wenig anmutige Erinnerung nun öfter heimsuchte in bösen schlaflosen Nächten, daß er angstvoll das Bild Seiner Lieben Frau von Embrun den blutigen Gespenstern beschwörend entgegenstreckte, so hinderte ihn das doch nicht, den ältesten Sohn jenes Herzogs noch immer in den unterirdischen Gewölben seines Schlosses Plessis-les-Tours in strenger Gefangenschaft zu halten.

*

An den Ufern des Flusses Cher, kurz bevor dieser sich bei der Stadt Tours in die breithinwellende Loire ergießt, am Rand eines uralten Waldes, erhob sich jene seltsame königliche Residenz, die mit ihren drei hohen Schutzmauern, eine höher als die andere, von dicken runden Türmen flankiert und mit tiefen Wassergräben zwischen sich, eher einem fürchterlichen Gefängnis glich als der Wohnung eines großen und reichen Königs. Denn auch der Kern des Ganzen, das eigentliche innere Schloß mit seinem gewaltigen quadratischen Turm in der Mitte, zeigte nur schwarze Mauern, an denen nirgendwo ein Fenster (diese öffneten sich alle nach den eingeschlossenen Höfen) von einem lebendigen Innern sprach, wie das Auge des Körpers von der innewohnenden Seele.

War dieses Schloß überhaupt ein Haus des Lebens, oder war es eine Festung des Todes? Auf der weiten Terrasse vor der äußeren Schutzmauer stand einsam ein uralter halbverdorrter Eichbaum, der seine kahlen Äste nach allen Seiten hin gespenstisch in die Luft streckte. Kahle Äste, aber doch nicht eigentlich kahl. Sie trugen sogar, wie es schien, ein seltsames kohlschwarzes Blattwerk. Unzählige Raben waren das, und wenn sie nicht still hockten und verdauten, umkreisten sie tote Menschenleiber und hackten ihnen die Augen aus dem Kopf und die Eingeweide aus dem Bauch. Denn der alte Eichbaum diente als Galgen und stand nie leer von armen Gehenkten.

Keine lichten Fenster, wie gesagt, zeigte das ungeheure Schloß; auch die zahlreichen schmalen Scharten, sehr unregelmäßig verteilt, wiesen kaum darauf hin, daß das finstere Mauerwerk atembedürftige Wesen umschließen mochte, vielleicht Wesen mit warmem Pulsschlag und lichtdurstigen, lichtfrohen Augen.

Ein solches war dennoch, von einem andern jetzt abgesehen, der Königssohn Karl, der recht wie ein Märchenprinz sich dazu verdammt sah, in einem der schwarzen Türme seine jugendlichen Tage einsam und verlassen hinzuträumen. Das zärtliche Mutterauge, in dessen warmem Strahl seine Seele sich hätte wärmen können, war längst für ihn erloschen. Auch keine leichte schwesterliche Hand gab es für ihn, die er in Freundschaft ergreifen konnte. Er hatte zwei viel ältere Stiefschwestern, die lebten mit ihren Männern, und außerdem haßten sie giftig den späten Nachkömmling, der ihnen die eigene Aussicht auf den Thron versperrte. Und zum Vater hatte er Ludwig den Elften, womit alles gesagt ist.

Zwar Vater Bonifaz, sein Mentor, war eine goldige Seele, aber der gute Priester, viel zu alt, um einem dreizehnjährigen Knaben ein Kamerad und Gespiele zu sein, vermochte nur sehr unzulänglich die Gemütsbedürfnisse des Königskindes zu befriedigen. Und ein gebleichter Greis war auch der Kämmerer des Prinzen, der etwas zitterige Robert Leriche, dem Königssohn zwar mit Leib und Seele ergeben, aber wortkarg und fast stumm bei seinen dienstlichen Verrichtungen. Nur dessen kurze dickliche Frau, mit dem märchenhaften Namen Rotrude, bedeutete für den Königssohn etwas mehr als eine Dienerin. Denn sie wußte, ob sie gleich nicht lesen konnte und ungeachtet ihres grauborstigen Bartwuchses um Lippen und Kinn, wundersame Märchen, wie die Historie von den vier Haimonskindern und ihrem Roß Bayard und noch viele andere alte Rittergeschichten, die sie dem phantasievollen Knaben immer wieder von neuem erzählen mußte, wie auch die von dem gräulichen Riesen Ogre oder Humigour, auch Croquemitaine genannt, der lebendige Kinder fraß und vor dem doch der kleine Däumling sich und seine Geschwister durch besondere Klugheit zu erretten wußte.

Diese Geschichten fand der phantasiebegabte Königssohn tausendmal unterhaltender als den ganzen Inhalt des Rosier du Guerrier; denn dieses Werk Ludwigs des Elften, von dem König selber für seinen Sohn und also recht eigentlich in usum Delphini verfaßt (dieser Tausendsassa von einem König schriftstellerte nämlich auch), war wirklich trotz seines lieblichen Titels und seiner kunstreichen Initialen in Blau und Rot mit Blumenranken und Figuren auf den gelben Pergamentblättern bei weitem nicht so lustig wie die Hundert Neuen Novellen, von demselben königlichen Verfasser, aber gar nicht in usum Delphini gedacht (wer sie kennt, wird davon überzeugt sein) und darum dem Königssohn keineswegs zugänglich. Außer dem genannten Rosier oder Rosenkranz – er hatte mehr Dornen als Rosen – stand von Büchern dem Knaben Karl nur noch ein lateinisches Evangelium zur Verfügung. Das hatte noch schönere Initialen in Rot und Blau und Gold mit noch schöneren Blumenranken und Figuren, und wenn er aus jenem die Sprache seines Volkes und die Kunst und Wissenschaft der Kriegführung lernen sollte, so aus diesem das Christentum und die Sprache der Kirche.

Aber beide Bücher, trotz ihrer farbig verzierten Initialen, langweilten auf die Dauer den gefangenen Königssohn; denn die Reit- und Fechtübungen bei seinem schottischen Waffenmeister in der großen gotischen Halle, dem einzigen lauten und lärmigen Ort des ungeheuren Schlosses, weil da die schottische Leibwache des Königs ihr Wesen trieb, dauerten eben doch, wegen der schwächlichen Gesundheit des Prinzen, täglich nur eine streng gemessene Stunde oder sechzig Minuten, und ihrer mehr als tausend hat der Tag, sagt der Dichter. Also, daß es nicht nur die dicken Mauern waren und die dicke Luft seines Turmgemachs, die den jungen Königssohn blaß und kränklich machten, die Langeweile tat auch ihr Teil dazu und die totenhafte Stille, die in diesen Obergeschossen des Schlosses herrschte, zu denen nicht der leiseste Laut hinaufdrang von den Waffenübungen und Saufgelagen der dreihundert bärbeißigen Bergschotten, denen die Sicherheit des königlichen Hauses und der königlichen Person anvertraut war.

Für sein Leben gern hätte Karl einmal den Meister Galeotti Marti de Martivalle besucht, den Astrologen des Königs, der den Turm auf der Mittagsseite des Schlosses bewohnte, den selten jemand zu Gesicht bekam, von dem aber die wunderlichsten Gerüchte umgingen und durch die alte Rotrude auch dem Königssohn zu Ohren kamen.

Danach war dieser Italiener, der zuvor dem König Matthias Corvin von Ungarn gedient hatte, durch Aufwendung einer fabelhaften Summe von Ludwig für sich gewonnen worden, welcher den geheimnisvollen Fremdling nicht anders anredete als mit den ehrfurchtsvollen Worten »mein Vater«, wogegen Galeotti oder Galeotto dem König die Ehre antat, ihn seinen Bruder zu nennen.

Schier Unglaubliches erzählte man sich von seiner äußeren Erscheinung. Der Mann mit dem langen schwarzen Bart war größer und dicker als je ein Mensch gesehen worden. Seinen Talar von scharlachrotem genuesischen Samt mit goldenen Agraffen und königlichem Hermelinbesatz umspannte ein breiter Gürtel aus Pergament mit den zwölf Zeichen des Tierkreises in der Farbe des Zinnobers. Das silberne Astrolabium, das er auf der Mitte seines gewaltigen runden Tisches immer vor sich hatte, galt für ein Geschenk des Kaisers, und seinen Aronstab aus schwarzem Ebenholz, reich mit Gold eingelegt, rühmte er sich von dem regierenden Papst Sixtus IV. eigenhändig empfangen zu haben, nachdem es diesem gelungen, den großen Sterndeuter, Alchimisten und Nekromanten aus den Kerkern des heiligen Offiziums, will sagen, der hochnotpeinlichen römischen Inquisition zu befreien.

Und also mag man sich vorstellen, wie diese unsichtbare und von allen Schauern des Geheimnisses umwobene Persönlichkeit die Phantasie des Königssohns aufregte, der fast außer aller Wirklichkeit lebte und dem darum das Phantastische wie zur zweiten Natur geworden war. Ein Besuch bei dem Astrologen hätte ihn vielleicht ernüchtert, aber der Vater Bonifaz, der an das Geschenk und die Freundschaft des Papstes nicht glaubte und der Galeotti für einen Gesellen und Verbündeten des höllischen Satans hielt, verwies dem Prinzen streng seine sündhafte Lüsternheit. Und doch mußte gerade er es sein, der seinem Zögling, gleichsam zum Ersatz dafür, nun eine vielleicht nicht gerade sündhafte, aber doch viel gefährlichere Abenteuerlichkeit und Lüsternheit in die Seele pflanzte, wie sich in folgendem zeigen wird.

Außer seiner offenkundigen Gesellschafterin, der dicken Rotrude nämlich, empfing der Prinz täglich und äußerst heimlich den Besuch einer anderen Freundin, in nichts der alten Schaffnerin ähnlich, eines zarten Fräuleins, das dem Königssohn zwar keine Rittermären und dergleichen erzählte, mit der er aber dafür ganz wunderbare Märchen höchsteigen erlebte, so daß er darüber die gute Rotrude mit dem borstigen Bart um Lippe und Kinn ein wenig undankbar vernachlässigte, womit er sich zwar als echter Königssohn auswies, die Alte aber nicht wenig unglücklich machte.

Noch andere vernachlässigte er darüber. Zwei Freunde hatte der Königssohn noch außer den bereits genannten. Der eine war der etwas zwerghafte und auch ein wenig buckelige königliche Barbier, genannt Meister Olivier le Daim, mächtiger an diesem ungewöhnlichen Königshofe als irgendein anderer, Meister Tristan nicht ausgenommen, der es aber liebte, die größte Demut und Bescheidenheit an den Tag zu legen und gegen jedermann den Harmlosen und Dienstwilligen zu spielen, sogar gegenüber dem Königssohn, den er oft besuchte und mit seinen Spaßen nicht schlecht unterhielt.

Seit einiger Zeit aber wurde ihm der Zutritt verweigert, denn der Prinz glaubte bemerkt zu haben, daß die Kateraugen des Meister Olivier seiner geheimen Freundin nur geringes Vertrauen einflößten. Und noch schlimmer erging es dem Falken des Prinzen, genannt Goldklaue. Auch dieser doch so königliche Vogel fand wenig Gnade vor den Augen der heimlichen Prinzessin und wurde darum in einen dunklen Nebenraum verbannt, wo er blind und krank wurde vor finsterem Elend.

Wer aber war die geheimnisvolle junge Freundin des Prinzen?

Eine Maus war es, hinter der Tapete war sie eines Tages hervorgekommen, zuerst noch ganz ängstlich und mit großer Schüchternheit, immer wieder zögernd, ob sie es wage und ob der Herr Königssohn es auch nicht übelnähme, wenn sie sich bei ihm zum Frühstück einlade. Dieser frühstückte nämlich gern mit allerlei mürbem Gebäck, und sehr nachlässig war er auch im Essen, wie alle einsamen Träumer, so daß immer der Boden zu seinen Füßen voll lag der leckeren Brosamen, und man kann sich denken, wie die dem Mäuslein in die Augen und in die Nase stachen, daß es an seinem ganzen kleinen Körper nur so zitterte vor Begierde.

Lange übersah der Prinz, wie hohe Herren sind, die graziöse Besucherin, die aber diese Unaufmerksamkeit nicht allzu übel aufnahm. Einmal mußte aber doch sein Blick auf sie fallen, und da freute er sich sehr der neuen Gesellschaft. Die Kleine war bereits an ihn gewöhnt, sie hatte schon gar keine Angst mehr vor ihm, und also wurden sie bald ein paar gute Kameraden. Denn Mademoiselle Fifi, so nannte sie der Königssohn, war wirklich ein allerliebstes Persönchen, das ihm nicht nur in kurzer Zeit aus der Hand aß mit schelmischem Blinzeln der schwarzen Äuglein und wollüstigem Zittern ihrer seidenen Schnurrhaare; auch an der hochsteilen Lehne seines rotausgeschlagenen Stuhles mit den reichen Skulpturen kletterte sie gern mit anmutiger Gewandtheit empor, und manchmal auch an seinen etwas dünnen Beinen mit den hohen weißen Strümpfen und dem Komisol von himmelblauem Atlas, und setzte sich ihm auf die Schulter und flüsterte ihm süße Dinge ins Ohr, die er jedoch nicht verstand, denn er war leider kein Sonntagskind trotz seiner Prinzlichkeit.

Daß sie aber süße Dinge lispelte, daran zweifelte er nicht in seinem gläubigen Gemüt, und auch daran nicht, daß er es mit gar keiner gemeinen Maus zu tun habe – wozu wäre er denn sonst ein Königssohn gewesen –, sondern vielmehr mit einer guten Fee, die ihn in dieser Gestalt besuchte, oder noch besser mit einer Prinzessin, die eine böse Fee in eine Maus verwandelt hatte, und in diesem schönen Glauben und Besitz eines so wunderbaren Geheimnisses fühlte sich der junge Königssohn zum erstenmal als ein glücklicher Mensch.

Und wer wüßte nicht, daß das Glück so gern zu kühnen Taten fortreißt oder, wenn diese untunlich, die Seele wenigstens mit kühnen Träumen erfüllt. Seiner heimlichen Prinzessin ein wunderbares Königreich zu erobern schien ihm das Geringste, was er tun konnte, und das bedeutete nicht einmal einen allzu phantastischen Gedanken, er ruhte sogar auf einer strammen Säule, auf der Säule, die die Politiker oder andere politischen Leute das historische Recht nennen. Karl hatte in der Wiege auch den Titel eines Herzogs von Anjou und damit den Anspruch auf das erledigte Königreich Neapel erhalten, dessen letzter angiovinischer König noch auf dem Totenbett den jungen Karl zu seinem Nachfolger bestimmt haben sollte, wenigstens war es dem Königssohn von seiner Amme so erzählt worden. Neapel aber, das deuchte ihn ein Königreich, wie er es brauchte für seine verzauberte Prinzessin, ein Königreich, wo alle Straßen und Plätze voll Musik waren, wo es keine Häuser und Hütten gab, sondern nur Paläste aus weißem leuchtenden Marmor, und wo alle Bäume und Gebüsche voll goldener Pomeranzen hingen.

Ja, dieses Königreich wollte er erobern, seiner Prinzessin zur Morgengabe!

Der arme und ein wenig kranke Karl hatte von der Herrgottswelt nichts gelesen als den Rosenkranz des Kriegers und das Evangelium und wußte nichts von einem gewissen anderen bleichen Königssohn, namens Konradin, der dieses nämliche Königreich ebenfalls als sein Erbe betrachtet und ausgezogen war, um es zu erobern, aber dabei seinen Kopf verloren, nicht etwa nur bildlich, sondern blutig auf dem Block von Henkershand und auf Befehl gerade eines Angioviners und Urahnen des Königssohnes von Plessis-les-Tours. Karl wußte davon nichts, aber auch wenn er es gewußt hätte, würde es ihn doch nicht in seinem Traum und Vorsatz irre gemacht haben, auf welchem Gebiet die Kühnheit keine Kunst ist, ja nicht einmal in seinem wirklichen Tun, wie es die Zukunft gezeigt hat.

Seine einstweiligen Träume und Vorsätze aber erzählte er eines Tages seiner Prinzessin Maus. Er nannte sie aber nicht so. Er nannte sie nicht einmal mehr Mademoiselle Fifi, er nannte sie jetzt Madame la Princesse. Sie saß in seiner hohlen Hand, und er streichelte zärtlich ihr braunes Fellchen, dabei ganz vertieft in seine Träumereien, und wie es schien, die Maus nicht weniger, und so merkten beide nicht, daß Vater Bonifaz, der auf Filzsohlen ging, unvermutet in das Gemach getreten war.

Erst als der strenge Mentor nahe vor ihnen stand, erschraken sie beide. Die Maus machte einen Sprung auf den Boden und verschwand hinter ihrer Tapete, der Königssohn aber sah den etwas gebeugten Greis mit den spärlichen weißen Locken zaghaft an wie ein Schulknabe, den der Lehrer über einer Allotria ertappt hat, und in seiner Verlegenheit kratzte er sich sogar sehr unprinzlich hinter den Ohren, wo ihm das schwarze, über der blassen Stirn kurzgeschnittene Haar in langen Strähnen herunterfloß.

Der betagte Priester aber, sichtlich erschöpft nach seinem mühsamen Erklimmen der steilen Schneckentreppe in dem prinzlichen Turm, ließ sich in einen Sessel sinken und sagte wie in tiefem Sinnen oder Erstaunen wiederholt rätselhafte Worte vor sich hin: »Wundersame Parallele!«

Der bleichgesichtige Karl grübelte umsonst darüber nach, was diese geheimnisvollen Worte bedeuten mochten. Er faßte sich endlich ein Herz und wagte eine Frage. Aber der ehrwürdige Priester schüttelte sein Haupt mit den spärlichen weißen Locken und schwieg. Da bat der Königssohn inständiger, er setzte sich dem Mentor sanft auf die Knie, schwer war er nicht, und streichelte zärtlich das greise Faltengesicht. Der gute Priester konnte auf die Länge nicht widerstehen.

»Ich sollte vielleicht nicht reden,« begann er zögernd, »aber da ich nun einmal die Neugierde Eurer Gnaden so unvorsichtig aufgeregt habe, so wird mir kein anderer Ausweg bleiben, als sie nun auch zu befriedigen. Euer Gnaden wissen, daß sich unter den Gefangenen des Königs, Gott schütze ihn, auch der junge Heinrich von Armagnac befindet, der sechzehnjährige Herzog von Nemours. Ihr kennt auch, hoher Prinz, die tiefe Frömmigkeit der königlichen Majestät, der nicht nur ihr eigenes, sondern auch das Seelenheil seiner Untergebenen mehr als alles am Herzen liegt. So ist es denn der Wille und Befehl des Königs, daß alle seine Gefangenen jeden letzten Tag der Woche nach abgelegter Beichte den hochheiligen Leib des Herrn empfangen. Der Herzog von Nemours aber ist der Seelsorge meiner eigenen geringen Person anvertraut. Ich sehe ihn also jeden Samstag, und denken Euer Gnaden nur, der junge Nemours erhält in seinem Kerker einen ähnlichen Besuch und wird getröstet durch eine ähnliche Kameradschaft wie Ihr selber. Nur ist es bei ihm eine weiße Maus, wahrlich weiß wie Schnee, die von seinem schwarzen Brote ißt und von seinem Wasserkrug trinkt und mit der er redet wie mit einem menschlichen Wesen ...«

Hier unterbrach sich der Priester in seiner Rede, er sah, daß der Königssohn ihn erst traurig und dann mit unguten Augen zornig anblickte. Da aber Karl in kaltem Schweigen verharrte, nahm er noch einmal das Wort.

»Warum blicken Eure Gnaden so bös?« fragte er. »Ich hätte Euch die Sache besser doch nicht erzählen sollen. Aber da es nun geschehen ist, bitte ich Eure Gnaden inständig, keiner Seele etwas zu verraten, denn außer mir weiß niemand davon, und wenn der Gevatter Tristan dem Ding auf die Spur käme, er würde sicher die weiße Maus umbringen lassen, denn das ist so einer, der keinem Menschen die leiseste Wohltat gönnt.«

So der priesterliche Mentor. Das Gesicht seines prinzlichen Zöglings hatte er richtig gedeutet. Karl war über die weiße Maus des gefangenen Heinrichs von Armagnac erst traurig und dann zornig geworden.

Ein wenig eifersüchtig war er schon immer gewesen auf diesen Vetter Heinrich, der sich die Freiheit genommen, drei Jahre älter zu sein als er. Wirklich, darin lag etwas Beleidigendes, daß ein abgesetzter Herzog, der doch länger Knabe zu bleiben hat als ein Königssohn, schon drei Jahre älter sein wollte. Und nun hatte er auch noch eine vornehmere Freundin. Zu Karl, dem Königssohn, kam eine gewöhnliche braune, und zu Vetter Heinrich kam eine weiße Maus. Der Prinz fand das empörend.

Den ganzen Tag und auch noch, als er schon in seinem prinzlichen Bette lag, hatte er die weiße Maus vor Augen und kam nicht davon los mit seinen Gedanken. Er hatte noch nie eine weiße Maus gesehen und auch immer geglaubt, daß es das nur gäbe im Reiche der Feen und anderer Märchenwelten. Sie war auch gewiß eine Fee oder verzauberte Prinzessin, aber seine eigene, das unansehnliche braune Ding, war doch wohl nur eine gewöhnliche Maus.

Immer heftiger entbrannte in ihm die Eifersucht, und zum erstenmal in seinem Leben konnte er die ganze Nacht keinen Schlaf in die Augen bekommen: Gegen Morgen aber faßte er einen Entschluß. Diese weiße Maus mußte er sehen, koste es, was es wolle.

*

Leicht fiel die Sache nicht. Die Gefangenen von Plessis-les-Tours, das wußte Karl nur zu gut, wurden peinlicher behütet und bewacht, als Gefangene in der Welt je behütet und bewacht worden sind. Karl dachte zuerst an seinen Kämmerer Robert le Riche, den er sich mit Leib und Seele ergeben wußte. Aber der war ein alter Diener des Königs und diesem wahrscheinlich doch noch mehr ergeben als dem Sohn. Auch lag in der Wortkargheit des Alten schon etwas Abweisendes. Nein, Karl fand nicht den Mut, sich ihm zu offenbaren.

Noch weniger wagte er es, den strengen Mentor in seinen abenteuerlichen Wunsch einzuweihen, denn abenteuerlich war in der Tat sein Gelüst, sogar mehr als er selber ahnte. Der Versuch mit Vater Bonifaz hätte ihm keine kleine Rüge eingetragen, und diese Art Konfekt stand ihm nicht nach dem Gaumen. Er seufzte.

»Ach Gott,« sagte er sich, »man muß König sein, um etwas zu bedeuten; ein Königsohn zu sein, das ist noch gar nichts.«

In seiner Not fiel ihm die gute Rotrude ein. Das könnte gehen, dachte er.

Wenigstens fühlte die gute Schaffnerin sich wirklich nicht wenig geschmeichelt, als sie merkte, daß der Königssohn von neuem sich ihrer Freundschaft bedürftig zeigte. Auch ging ihr Karl gehörig um den Bart – die Redensart ist ja bei ihr nicht unangebracht – und wandte seine ganze schmeichlerische Liebenswürdigkeit auf, das Märchenmütterlein damit einzusalben. Sie erschrak freilich sehr, als sie erfuhr, was man von ihr verlangte. Aber Karl tat alles, um der guten alten Freundin – seine neue, die braune Maus, war ihm etwas gleichgültig geworden – ihre Bedenken auszureden.

»Höre, was ich sage,« flüsterte er, »Meister Gorgias und du seid Gevattersleute, ich weiß, daß er viel auf dich hält. Sage nicht nein, süßes Mütterchen. Er wird dir gewiß einen kleinen Liebesdienst nicht abschlagen.«

»Kleinen Liebesdienst,« rief die Schaffnerin entsetzt, »ist das ein kleiner Dienst, wo es uns um den Hals geht. Eure Gnaden wissen, die königliche Majestät ist schrecklich, wenn es sich um die Übertretung ihrer Befehle handelt.«

»Es wird dem herzigen Peter nicht um den Hals gehen«, versetzte der Königssohn, indem er in den Ton seiner Stimme soviel Zuversicht als möglich zu legen suchte. »Der König ist sehr krank, mehr als ihr alle wißt. Sag' das dem Peter Gorgias von mir aus, und auch noch das, daß ich einen Brief erhalten habe von meinem Schwager Ludwig von Orléans. Danach hat sich die Krankheit des Königs auf der Reise noch bedenklich verschlimmert, mein Schwager glaubt nicht, daß der König überhaupt in der Lage sei, wieder hierher zurückzukehren. Du weißt, er wird längst zurückerwartet. So mag es seine Gründe haben, daß er noch immer ausbleibt.«

Diese Rede des Königssohnes stimmte mit der Wahrheit nicht ganz überein, doch wie sollte eine arme alte Schaffnerin auf den Gedanken kommen, daß ein so schöner Königssohn und süßer Prinz einer Lüge fähig sei. Und natürlich hätte Karl sonst gewiß nicht gelogen, aber hier, wo es sich um die weiße Maus handelte ...

Kurz, es gelang dem Prinzen wirklich, die Alte für seine Pläne zu gewinnen.

*

König Ludwig, obwohl er das Weib als solches, bei Gott, nichts weniger als verschmäht hat in seinem langen Leben, hegte eine bodenlose Verachtung für die moralische Seite der Frau. Zu ernsten Dingen ist die Frau nicht zu gebrauchen, an diesen Satz glaubte er fester als an das Evangelium und seine Heiligen, und niemand wird die Stärke dieses Glaubens bei ihm in Zweifel ziehen. Er handelte auch diesem Satz gemäß. Kaum daß er mit seinen Töchtern zeitweilig eine Ausnahme gemacht hat.

Seit langer Zeit duldete er auf Plessig-les-Tours nichts Weibliches, die Rotrude aber hielt er wegen ihres Alters und ein wenig vielleicht auch wegen ihres Bartes offenbar für gar kein Weib. Sie aber verriet ihn nun, woraus man ersieht, daß ein Grundsatz zu gar nichts nützt, wenn man auch nur im geringsten von ihm abweicht. Nicht nur die Rotrude verriet ihren König, auch den Kerkerknecht, den herzigen Peter Gorgias, wie der Prinz sich ausdrückte, überredete sie, und Gott mag wissen, wie sie das bei diesem furchtbaren Kerl anfing.

Wie sie es aber auch angefangen hat, und den Ausschlag mag wohl die Überzeugung gegeben haben, daß die königliche Majestät wirklich kränker sei, als die Welt wisse, daß Unsere Liebe Frau von Embrun zwar viel vermag, aber doch wohl nichts an der Tatsache ändern kann, wonach auch ein König sterblich ist, und daß vielleicht gar, wer konnte es wissen, der kleine Prinz bereits die königliche Krone, wenn auch noch unsichtbar, auf seinem Kindskopf trug, wo dann eine Unbotmäßigkeit zu bösen Häusern führen konnte; mit einem Wort: die Alte wußte mit ihren Gründen durchzudringen, und der schöne Peter mit den baumdicken Säbelbeinen und der entsetzlichen Narbe quer über das ganze Gesicht kam wirklich in der folgenden Nacht und führte den Prinzen auf nur ihm bekannten Stiegen und Schlupfwegen hinunter nach den unterirdischen Verliesen, zu denen er allein die Schlüssel am Gürtel trug.

Die letzte Schneckentreppe, die sie hinunterstiegen, Peter Gorgias mit der Pechfackel voran und der Königssohn hinterdrein, war so schmierig von den Ausschwitzungen der uralten Steine, daß Karl Mühe hatte, nicht auszuglitschen und Arme und Beine zu brechen. Seine empfindlichen Sinne, die die Sinne waren eines Prinzen und fast eines Kindes, kam ein Grauen an, aber seine Romantikerphantasie fühlte sich befriedigt. Und altklug, wie er auch war trotz etwas beschränkten Verstandes, dachte er: »Es ist doch gut, daß ich mir's zu unternehmen getraute, denn ich werde einmal König sein, und ein König muß alles gesehen haben.«

Zu unterst an der Treppe schloß der Kerkerknecht mit drei verschiedenen Schlüsseln drei verschiedene Schlösser auf unter heftig ächzendem Geknarre der rostigen Riegel und drückte dann mit Hilfe seiner stämmigen Schultern eine schwere Tür zurück, worauf er weiter dem Prinzen in einem feuchten Gang mit seiner Pechfackel voranleuchtete, die aber öfter vollständig zu erlöschen drohte, bald von dem nassen Schmutz, der von der Decke tropfte, bald von den Flügelschlägen gespenstischer Fledermäuse, die in großer Zahl über ihren Köpfen hin und her huschten.

Ein erhöhtes Grausen überlief den Prinzen, und fröstelnd zog er seinen Mantel enger um sich. Sie kamen an mehreren schwer beschlagenen Türen vorbei mit winzigen, aber fest verschlossenen Klappenöffnungen, und bei einer derselben hielt Gorgias an. Diese Tür versperrte ausnahmsweise ein einfaches Schloß. Gorgias öffnete sie mit Hilfe eines gewaltigen Schlüssels, trat in einen finsteren Raum, steckte seine Leuchte innen an einen eisernen Fackelhalter der Mauerwand und trat dann mit einer Verbeugung gegen den Prinzen auf eine ziemliche Entfernung in den Gang zurück. Da er dem »jungen König« einmal gefällig sein wollte, mochte er gern noch ein Übriges an Höflichkeit dreingeben.

Karl machte zögernd einige Schritte vorwärts bei dem flackernden Licht der Pechfackel, und da faßte ihn ein solches Entsetzen, daß ihm die Knie zitterten.

Er sah nicht, wie er es erwartet, einen einfach angeketteten Gefangenen vor sich, sondern er stand vor einem Käfig aus schweren Eisenbarren, so schmal und so niedrig, daß sich ein Mensch darin weder ausstrecken noch aufrecht halten konnte. Hinter diesen Eisenstäben auf einem Schemel saß ein hohlwangiger, zum Skelett abgemagerter Knabe mit ungekämmtem, struppigem Haar. Wirklich noch ganz kinderhaft sah er aus, der sechzehnjährige Herzog von Nemours. Die Kerkerluft und Kerkerkost in Verbindung mit dem Mangel an jeder Art Bewegung hatte seine Entwicklung vollständig zurückgehalten, und doch mußte ihm eine geradezu wunderbare Lebenskraft innewohnen, die nach fünf langen Jahren diesem Zustand noch immer Widerstand zu leisten vermochte.

Trotz seines Entsetzens durchfuhr das Gehirn des kindischen Karl doch der befriedigende Gedanke: »Er ist ja gar nicht älter als ich.«

Unter dem Geräusch von bewegten Ketten erhob sich der Herzog, in seine starren Augen trat ein freundliches Licht.

»Bist du der Engel der Barmherzigkeit?« redete er den Prinzen an.

»Ich bin Karl«, antwortete dieser.

»Du bist der Sohn des Königs,« sprach Heinrich von Armagnac mit bereits wieder verfinsterten Blicken, »so bist du gekommen, wie auch dein liebreicher Vater manchmal hierherkommt, um sich eine teuflische Schadenfreude zu geben. Und ich konnte den Sohn Ludwigs für einen Engel der Barmherzigkeit halten, den Sohn des Königs, der meinen Vater geschlachtet hat.«

Er hielt inne. Er sah, wie dem Königssohn große Tropfen in die Augen traten.

»Ich bin gekommen,« versetzte Karl, »weil ich mir die Ehre geben wollte, sowohl meinen Vetter Heinrich als auch seine weiße Freundin kennenzulernen, auf die ich, daß ich's nur gestehe, nicht wenig eifersüchtig bin.«

Der junge Herzog von Nemours fuhr erschreckt zusammen. »Von meiner süßen Blancheflor redest du,« sprach er, »von meiner lieben Freundin und Schwester. Wie kommst du dazu? Ich glaubte, das sei ein Geheimnis für jedermann. O Gott, nun ist sie verloren. Du wirst sie dem Meister Tristan verraten. Der wird sie an ein Kreuz heften und mir die Gemarterte zum Hohn vor meinem Käfig aufhängen. Aber nein, du hast so sanfte Augen, du hast einen lieben Kinderblick, du wirst das nicht tun, du wirst mich nicht meines einzigen Trostes berauben wollen. Sieh sie nur an, wie schön sie ist, und wie verständig sie aus ihren schwarzen Augen blickt, fast wie ein Mensch.«

Der junge Herzog griff bei diesen Worten in seinen Busen und hielt nun in seiner Hand streichelnd die weiße Maus, die sich bei Annäherung des Gorgias unter seine Kleider versteckt hatte.

»Sieh sie an,« sagte er wieder, »du müßtest ein Unmensch sein, um sie zu verraten oder sie gar jenem unmenschlichen Henker auszuliefern.«

Karl hatte Mühe, ein lautes Aufjauchzen zu unterdrücken. Er hatte schon befürchtet, sie gar nicht zu sehen, er hatte sogar schon an ihrer Existenz gezweifelt. Und nun sah er sie ganz nahe vor seinen leibhaftigen Augen.

»Beruhige dich, Vetter Nemours,« sprach er, »ich werde die Dame Blancheflor nicht verraten, um so weniger, als ich wahrhaftig selber sterblich in sie verliebt bin, so sehr verliebt, daß ich dich zum Zweikampf fordern möchte um sie, wenn du ein freier Mann wärest.«

»Leider bin ich es nicht«, seufzte Heinrich, und sein Auge blickte in tiefster, trostlosester Traurigkeit.

»Du sollst es werden!« rief Karl, »sobald ich König bin, will ich dich mit eigener Hand herausführen aus deinem Marterkäfig, darauf gebe ich dir mein Ehrenwort. Gestern war ich ja sehr zornig auf dich, als mir Vater Bonifaz das erste Wort sagte von deiner weißen Freundin, denn mein Stolz glaubte es nicht ertragen zu können, daß mich, den Königssohn, nur eine gemeine braune Maus besucht, dich aber, meinen zukünftigen Untertan, eine weiße, die doch etwas viel Vornehmeres ist. Seitdem ich dich jedoch gesehen habe, hat sich dieser Groll in mir gelegt, und ich muß dich lieben. Ach schon um der Dame Blancheflor willen muß ich dich lieben. Aber das hindert nicht, daß wir miteinander eine Lanze brechen um diese Dame, sobald du frei sein wirst, so ist es ritterlich.«

Der junge Herzog mußte lächeln bei all seinem tiefen Elend.

»Die Worte Euer Gnaden,« sagte er, »riechen nicht nach Ludwig dem Elften. Der hat so in seinem Leben nicht gesprochen. Er hat in seinem Vokabularium das Wort Ritterlichkeit dick ausgestrichen.«

Und beide Knaben kamen ins Plaudern, während die Dame Blancheflor auf der Achsel des jungen Herzogs ein Biskuit knusperte, das ihr der Königssohn galant überreicht hatte.

»Und was wird Euer Gnaden erste Sorge in der Regierung sein?« fragte der Herzog von Nemours.

»Dich der Freiheit wiederzugeben, Vetter Nemours.«

»Gut,« versetzte der unglückliche Armagnac, den man zwar einen kleinen Zipfel seiner Freiheit sehen ließ, aber Gott mochte wissen, in welcher unmenschlichen Ferne, »gut, aber dann?«

»Aber dann?« fragte Karl dagegen in etwas kindischem Eifer. »Du bist sonderbar, Vetter Heinrich, hast du denn nicht den Rosenkranz des Kriegers gelesen? Selbstverständlich werde ich einen ruhmreichen Krieg führen. Du weißt, daß mir durch den Tod des letzten Anjou das Königreich Neapel, das jetzt die Aragonier widerrechtlich besetzt halten, erb- und eigentümlich zugehört. Das ist ein Königreich, wo alle Straßen und Plätze voll Musik sind, wo es keine Hütten und Häuser gibt, sondern nur Paläste aus weißleuchtendem Marmor, und wo alle Bäume und Gebüsche voll goldener Pomeranzen hängen. Dieses Königreich werde ich mir erobern.« Denn Karl hatte das Versprechen nicht vergessen, das er der Mademoiselle Fifi gegeben, und wenn ihm auch dieses Persönchen, weil eben nur eine gemeine braune Maus und keine weiße, bereits recht gleichgültig geworden, so wußte er doch auch, was ein gegebenes Ritterwort zu bedeuten hat.

»Und an die Handhabung von Gerechtigkeit und Menschlichkeit in Ihrem Reich denken Eure Gnaden nicht?« fragte Heinrich von Armagnac wieder.

»Ob ich daran denke,« erwiderte Karl, »dem Gevatter Tristan werde ich Befehl geben, als in letzter Betätigung seines Amtes, sich unverzüglich selber aufzuhängen, und alle anderen Henker des Reiches werde ich ebenfalls abschaffen durch ein königliches Dekret. Und« – das sagte er mit einer artigen Verbeugung gegen die Dame Blancheflor – »abschaffen auch werde ich im Reich alle Kater und Katzen.«

Er mußte selber lachen über seinen Einfall. Aber ein seltsames Echo antwortete ihm aus dem Dunkel heraus. Es war auch ein Lachen, aber ein viel gröberes und rauheres. Der Prinz und der Herzog erstarrten in jähem Schreck.

*

Die beiden kinderhaften Jünglinge hatten, ach, keine Ahnung von den neuesten Ereignissen im Schloß. König Ludwig war von seiner Pilgerfahrt zurückgekehrt. Schon kurz nach Einbruch der Abenddämmerung war er, wie aus dem Boden gewachsen, plötzlich im Schloß aufgetaucht. Solche Überraschungen liebte er. Auch noch jetzt wollte er seine Ankunft geheim halten, und außer der verschwiegenen schottischen Wache bekam ihn niemand zu Gesicht. Er fühlte sich sehr erschöpft und ließ sich von seinen Gevattern Tristan und Olivier und seinem Arzt Coctier zu Bette bringen.

Später, längst nach Mitternacht, war er dann aufgewacht und verlangte – nicht etwa seinen Sohn – sondern den Gorgias zu sehen, und als dieser Kerkerknecht dann in seiner Behausung bei den Gefängnissen nicht gefunden wurde, geriet der König in eine furchtbare Aufregung, die ihm einen so heftigen Hustenanfall zuzog, daß selbst der Gevatter Tristan erbleichte.

»Man bringe mir meinen Sohn«, befahl der König mit matter Stimme. Aber auch den Königssohn fand man nicht in seinen Gemächern, sein Bett aber unberührt.

Bei dieser Nachricht erhob sich der König stracks von seinem Lager, man mußte ihn ankleiden, und dann winkte er seinen Getreuen, ihm zu folgen. Sein sprichwörtlich gewordenes Mißtrauen hatte sich in ihm wie zu einem sechsten Sinn, zum schärfsten von allen, ausgebildet, der ihn zwar manchmal falsch, aber meistens, wie einen Jagdhund sein Geruch, richtig leitete.

Heute jedenfalls tat er's. Denn das rauh lachende Echo, das dem kindlichen Lachen des Königssohns vor dem Käfig des Herzogs von Nemours aus dem Dunkel hervor geantwortet hatte, war kein anderes gewesen als das des Königs.

Dann stand er plötzlich wie ein Gespenst vor dem zitternden Königssohn und dem auf seinem Schemel in Ketten klirrend zurückgesunkenen Herzog von Nemours. Tristan L'Hermit, Olivier le Daim, der Arzt Coctier und zwei Kriegsleute mit aufgestemmter Hellebarde und umhängender Armbrust hielten sich hinter ihm, Tristan mit blutigem Schwert – der hatte vorher den Gorgias, ohne weiteres Federlesen, in Stücke gehauen.

»Wie, mein schönes Herrlein,« knirschte der König zwischen den wenigen Zahnstumpen hervor, »wie, du läßt dir beifallen, zu meinen Lebzeiten nach meiner Krone zu schielen? Du fühlst sie vielleicht schon leibhaftig auf deinem Kindskopf. Willst du nicht einmal danach greifen? Ein halsbrecherisches Spiel, das du da spieltest. ›Wenn ich König sein werde‹ und immer wieder ›wenn ich König sein werde‹, Corpus Christi, du wirst es niemals sein, hörst du, niemals; deinen Degen, Karl der Kronenräuber!«

An Widerstand war da nicht zu denken, und am wenigsten dachte der kleine Karl daran. Er wies aber dennoch mit einer selbstbewußten Gebärde den Meister Tristan, der sich ihm genähert hatte, hinweg, und überreichte seinen Degen einem der schottischen Hauptleute, der ein Edelmann war, worauf die beiden Kriegsmänner ihn als ihren Gefangenen abführten.

König Ludwig warf einen einzigen giftigen Blick auf den zusammengesunkenen Herzog von Nemours und näherte dann seinen Mund dem Ohr des Scharfrichters.

Gevatter Tristan antwortete mit Grinsen: »Ja, es ist Zeit, ein Ende zu machen.«

Er schlug dabei mit der steilgerichteten Rechten auf seine flache Linke, und diese furchtbar deutliche Zeichensprache verstand nicht nur der König, sondern auch der junge Heinrich von Armagnac in seinem eisernen Käfig, wo ihn, nachdem sich Ludwig mit seinen sonderbaren Freunden unter einem heftigen Hustenanfall entfernt hatte, wieder eine vollkommene Stille in dicker Finsternis umgab.

Ein Strahl von Hoffnung war ihm für einen Augenblick gezeigt worden und hatte ihm lockende lichte Bilder des Lebens und der Freiheit vorgegaukelt, und seine junge gläubige Seele hatte sie schon für gewiß genommen. Aber dann war sie ihm umgetauscht worden in eine andere Gewißheit, die bleierne Gewißheit des nahen Todes. An Widerstand war auch da nicht zu denken, und dem Unglücklichen blieb nur eins, sich zu ergeben in den Willen Gottes, so entsetzlich es sein mochte, zu sterben, ohne gelebt zu haben.

Er hegte schon kaum mehr einen Wunsch, so bleiern lag es auf ihm. Oder wenn er einen hegte, so war es der, daß ihm die Todesqual verkürzt werden, daß der Henker so wenig als möglich auf sich warten lassen möchte.

Mancher wird es nicht glauben, daß man mit sehnsüchtiger Ungeduld auf seinen Henker warten kann, weil auch ein allerletzter, wenn auch noch so schwacher Schimmer der Hoffnung auch dann noch in einem Winkel der Seele zurückbleibt, wenn sie sich ganz in die fürchterliche Gewißheit ergeben zu haben glaubt. Aber wie dem auch sei, den Knaben Heinrich dünkte es bereits eine Ewigkeit der Qual, seitdem er horchend harrte. Er hatte anfänglich geglaubt, ein halbes Stündchen höchstens werde es dauern, nun kam es ihm vor, als ob schon viele Stunden darüber hingegangen waren. Hundertmal war er bei einem fernen Geräusch oder vermeintlichen Geräusch emporgeschreckt, es war aber jedesmal eine Täuschung gewesen. Und jetzt wieder – er lauschte. Sollte es abermals eine Halluzination sein?

Nein, die Geräusche verstärkten sich. Und das klang zu deutlich wie Tritte eine Treppe herunter mit klirrenden Sporen und aufschlagenden Degenscheiden. Sogar ein ferner Schein von Licht brach schon, wenn auch noch so schwach, durch die Dunkelheit. Aber nein, der Schein war schon gar nicht mehr schwach, er wurde stärker, und hörbar wurde vielfältiges Stimmengewirr.

War denn das gleich eine ganze Prozession von Scharfrichtern, was da hörbar immer näher kam in dem langen Gang? Und immer heller wurde es auch durch das enge Barrengitterchen der Kerkertür, und nun kreischte der Riegel im Schloß, die schwere Tür öffnete sich mit Ächzen, und sechs fackeltragende Pagen, farbig bestrumpft und in seidenen Kamisolen, gefolgt von vier Hellebardenträgern, traten ein und reihten sich beiderseits der Mauern.

Ein einzelner Mann aber, vielmehr ein zarter Jüngling, näherte sich den Käfigstangen des Gefangenen. Vor drei Stunden hieß er der Königssohn Karl, der vor den Blicken seines Vaters am liebsten in den Boden gesunken wäre. Nun ging er fest auftretenden Schrittes und stolz aufgerichteter Haltung und schien gut einen Kopf gewachsen, seit er sich König von Frankreich nannte, seit man seinen Vater, mehr an seiner Wut als an seinem Husten erstickt, auf die Bahre gestreckt hatte.

»Herzog von Nemours,« so sprach er jetzt, »du bist frei. Verzeihe meinem Vater und bete für seine arme Seele.«

»Hoch lebe König Karl!« rief, Hüte und Tücher schwenkend, eine mehr als zwanzig Köpfe starke Gefolgschaft vornehmer Herren und Damen mit Ludwig von Orléans und Heinrich von Bourbon, genannt Herr von Beaujeu, den beiden Schwägern Karls und ihren Gemahlinnen an der Spitze.

Man müßte sich wundern, wo all der Hofstaat herkam, wenn es nicht bekannt wäre, daß diese Herrschaften, wenn auch von König Ludwig nicht in seiner persönlichen Nähe gelitten, doch gezwungen waren, in der nahen Stadt Tours ihre Wohnung zu haben, um jeden Augenblick dem König zu Befehl zu stehen. Diesem Befehl waren sie in dieser Nacht zum letztenmal gefolgt, hatten aber den rufenden König dann nur noch als Leiche vorgefunden.

Außer seinem Hofstaat waren tüchtige Werkleute aus der Waffenschmiede der Burg mit dem König heruntergekommen. Diese machten sich jetzt an die Arbeit, im Nu sah man die Eisenstangen durchsägt, und dann führte Karl an eigener Hand den befreiten Herzog hinauf an das Licht des Tages. Merkwürdigerweise fragte er mit keinem Wort nach der weißen Maus. Er war eben jetzt König und wußte, was sich für einen König gehörte in seinem öffentlichen Auftreten.

*

So also verlief die erste Regierungshandlung Karls VIII. In diesem Punkt hat er seine Zusage unverbrüchlich eingelöst. Auch was das Versprechen anbelangt, das er der braunen Maus verpfändet hat, obwohl ihm diese nun ein wenig in Vergessenheit, ja sogar ein wenig in Geringschätzung geraten war, auch zu dessen Erfüllung machte er wenigstens einen großartig aussehenden Versuch.

Er zog, trotzdem ihm unterdessen das Schicksal jenes unglücklichen blonden Konradin nicht unbekannt geblieben, er zog wirklich nach Neapel, entging auch dem blutigen Ende jenes Königssohns aus Schwaben, mußte aber bald mit leerem Beutel und abgesägten Hosen, wie man zu sagen pflegt, wieder umkehren unter dem Spottgelächter der immer zum Lachen aufgelegten Italiener; denn es ist eben eine eigentümliche Sache mit Gelöbnissen, die man den Ausgeburten seiner eigenen Phantasie gemacht hat.

Und noch schlimmer stand es mit der Ausführung seines dritten Versprechens, obwohl dieses der weißen Maus und nicht einer gleichgültigen braunen gegeben war. Er konnte die Henker nicht hindern, auch weiterhin ihres Amtes zu walten, und noch weniger vermochte er die Kater und Katzen aus der Welt zu schaffen, was ihm großen Kummer bereitete, der seinen unbeträchtlichen Geist und schwachen, kränklichen Körper frühzeitig aufzehrte, so daß er bereits in dem zarten Alter von siebenundzwanzig Jahren in die Grube sank.

Er war eben kein starker König und ein ganz schwacher Philosoph und wußte nicht, daß das Böse ein wesentlicher Teil der Welt ist und vielleicht sogar ihrer Schönheit, und daß die Welt zu ändern auch die Macht eines Königs nicht hinreicht.


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