Joseph Roth
Reise in Rußland
Joseph Roth

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XI. Rußland geht nach Amerika

Frankfurter Zeitung, 23. 11. 1926

Wer in den Ländern der westlichen Welt den Blick nach dem Osten erhebt, um den roten Feuerschein einer geistigen Revolution zu betrachten, der muß sich schon die Mühe nehmen, ihn selbst an den Horizont zu malen. Viele tun es. Sie sind weniger Revolutionäre als Romantiker der Revolution. Indessen ist die russische Revolution schon längst in das Stadium einer gewissen Stabilität gekommen. Der illuminierte laute Feiertag ist ausgeklungen. Der nüchterne, graue, mühselige Wochentag hat angefangen. Im Westen aber wartet ein großer Teil der geistigen Elite auf das bekannte Licht vom Osten. Die Stagnation europäischen geistigen Lebens, die Brutalität politischer Reaktion, die korrupte Atmosphäre, in der das Geld gemacht und ausgegeben wird, die Hypokrisie der Offiziellen, der falsche Glanz der Autoritäten, die Tyrannei der Anciennität: das alles zwingt die Freien und die Jungen, von Rußland mehr zu erwarten, als die Revolution geben kann. Wie groß ist ihr Irrtum! Sie mögen herkommen und durch trübe, graue Straßen wandern; überladene Menschen sprechen, die ewig zwischen einer Konferenz und einem notdürftigen Einkauf auf Rabatt und Ratenzahlung im Staatlichen Warenhaus stehn; in Wohnungen sitzen, um die fortwährend Prozesse in Mietämtern schweben und deren Insassen seit Jahren in einem Provisorium leben wie in einem Wartesaal; den emsigen, millionenarmigen Apparat dieses Riesenstaates sehn – in einer unaufhörlichen, verwirrenden und manchmal verwirrten und zwecklosen Bewegung – sie mögen das alles sehn und dann noch glauben, daß hier Zeit und Raum ist für geistige »Probleme« und Ekstase. Die Brandfackeln der Revolution sind ausgelöscht. Sie zündet wieder die ordentlichen, guten und braven Laternen an.

Neu war das rote und grandiose Schauspiel der aktiven Revolution. Jetzt aber, oh Genossen, ist die Zeit der nützlichen, disziplinierten Mäßigkeit ausgebrochen. Dieses Rußland hat keine Genies nötig und schon gar nicht Literaten. Es braucht Volksschullehrer dringender als kühne Theoretiker, es braucht eher Ingenieure als Erfinder, mehr Konstruktionen als Gedanken, mehr tagespolitische Tendenz als weltanschauliche, das heißt: mehr Agitation als Tendenz, es braucht Fabriken und keine Dichter, es braucht für die breiten Massen eine populäre körperliche Hygiene und eine geistige, die man »Aufklärung« nennt, es braucht Lesebücher und keine Werke. Literarische und Kultur-»Probleme« sind hier Luxus. Zweifel sind verdächtig. Feine differenzierte Nuancen sehn heißt hier: eine bürgerliche Ideologie haben. Selbstironie, Abzeichen und Blüte adeligen Geistes ist kleinbürgerlich. Die Revolution war ein verschwenderischer Aufwand der Geschichte, um die geistige Physiognomie der russischen Masse jener der westeuropäischen wenigstens ähnlich zu machen. Auf materiellen, politischen und sozialen Gebieten war sie eine Revolution. Auf geistigem und geistig-moralischem war sie nur ein quantitativ gewaltiger Fortschritt. Wenn bei uns eine alte und, wie man sagt: müde Kultur durch Girls, Fascismus, flache Romantik pathologisch banal wird, so wird hier eine eben erst geweckte, brutal kräftige Welt gesund banal. Unserer dekadenten Banalität steht gegenüber die neurussische, frische, rotbackige Banalität.

Wie ist das möglich? – höre ich fragen. Wir lesen ja hier die letzten, noch druckfeuchten Übersetzungen jüngster russischer Autoren? Wir lesen ja Romanow, Sejfullina, Babel! Ja, alle diese Bücher, bei uns neu, sind hier schon alt. Nicht alle jungen und begabten Autoren sind Revolutionäre mit »Disziplin«, wie man sie braucht, wenige sind Kommunisten, manche sind mit der Zensur nicht einverstanden. Und alle Schriftsteller holen ihre Stoffe aus der großen Zeit der ersten Revolutionsjahre oder aus der großen Zeit des großen Sterbens und der übermenschlichen Hungerleiden. Alle guten Filme wie »Potemkin«, »Mjat«, »Wjeter« (über die ich noch sprechen werde) behandeln revolutionäre Episoden längst oder jüngst vergangener Heldenzeiten. Aber diesen Alltag von heute, diesen grauen kleinen täglichen Kampf mit Millionen grauer kleiner Sorgen – wer wagt ihn zu beschreiben, wer kann ihn beschreiben? Die Zeit der Heldentaten ist vorbei: das ist jetzt die Zeit der fleißigen Büro-Arbeiten. Die Zeit der Epopöen ist vorbei: das ist jetzt die Zeit der Statistiken.

Sowohl die Idee als auch der Aufbau des neuen Staates, der im Namen dieser Idee begonnen hat, zwingen die Individualität, sich als einen Faktor der Masse zu betrachten. Aber während man als Faktor einer geistig sehr hoch stehenden Masse wahrscheinlich nicht unbedingt Kompromisse zu schließen braucht und allen treu bleibt, wenn man sich selbst treu ist, muß der geistige Mensch im heutigen Rußland sich opfern, wenn er dienen will. Er opfert sich nicht der Idee – was ja kein Opfer wäre – sondern dem Alltag. Ein breiter Wirkungskreis ist ihm gesichert, wenn er in die Breite gehen will statt in die Tiefe. Der schöpferische Mensch, ein Revolutionär nicht aus Zwang wie der Proletarier, sondern aus freiem Willen oder aus Berufung, bleibt immer revolutionär – – auch nach siegreichen Revolutionen. Er wird gewiß das hohe Glück genießen, in einem Staat zu leben, der alle frei machen will. Aber die materielle Freiheit ist nur eine der primärsten Vorbedingungen für seine Existenz. Es gibt keine Gesellschaftsform, die der natürlichen Aristokratie des Geistes auf die Dauer die geistige Herrschaft streitig machen könnte. Der schöpferische Aristokrat braucht keinen Titel und keinen Thron. Aber seine Gesetze diktiert ihm die Geschichte und nicht die Zensur.

Im heutigen Rußland muß man leider den Durchschnitt züchten. Man meidet die Gipfel, man baut breite Heerstraßen. Es ist allgemeine Mobilisierung. Ein zuverlässiger Marxist ist mehr wert als ein kühner Revolutionär. Ein Ziegelstein ist nützlicher als ein Turm. Traktoren! Traktoren! Traktoren! – ruft es im ganzen Land. Zivilisation! Maschinen! ABC-Bücher! Radio! Darwin! – man verachtet »Amerika«, das heißt den seelenlosen großen Kapitalismus, das Land, in dem Gold Gott ist. Aber man bewundert »Amerika«, das heißt den Fortschritt, das elektrische Bügeleisen, die Hygiene und die Wasserleitung. Man will die vollkommene Produktionstechnik. Aber die unmittelbare Folge dieser Bestrebungen ist eine unbewußte Anpassung an das geistige Amerika. Und das ist die geistige Leere. Die großen Kulturleistungen Europas, das klassische Altertum, die römische Kirche, die Renaissance und der Humanismus, ein großer Teil der Aufklärung und die ganze christliche Romantik – sie alle sind bürgerlich. Die alten Kulturleistungen Rußlands: der Mystizismus, die religiöse Kunst, die Poesie der Slawophilie, die Romantik des Bauerntums, die gesellschaftliche Kultur des Hofes, Turgenjew und Dostojewski: sie alle sind selbstverständlich reaktionär. Woher also geistige Grundlagen für eine neue Welt nehmen? Was bleibt übrig? – Amerika! Die frische, ahnungslose, gymnastisch-hygienische rationale Geistigkeit Amerikas – ohne die Hypokrisie der protestantischen Sektiererei: aber dafür mit der Scheuklappenfrömmigkeit des strengen Kommunismus.

 

Die literarischen Zeitschriften haben heute in Rußland eine unwahrscheinlich hohe Auflage. Aber darunter leidet ihre Qualität. Jeder Halbgebildete kann sie lesen. Aber der Anspruchsvolle kann sie nicht lesen. Der Stil, dessen sich die meisten russischen jungen Tendenz-Schriftsteller bedienen, ist ein Allgemeinstil, jedem erreichbar, seine Bestandteile liegen wie Bleibuchstaben in Setzkästen. Es ist eine primitive Sprache, unfähig, Nuancen und Stimmungen haargenau wiederzugeben, jedem verständlich, aber auch jedem zur Verfügung, eine Montur für Tatsachen, Prinzipien, Agitation. Das neue Theater (von dem ich noch sprechen werde) hat eine unglaubliche technische Vollkommenheit erreicht – in der Kunst, Effekte zu erzielen. Dafür geht die Feinheit des Schauspielers verloren. Nicht die Atmosphäre der Bühne ist suggestiv, sondern das technische Mittel. Die neue revolutionäre Malerei beschränkt sich auf Metaphern, die nicht die Kraft haben, Symbole zu werden. Viele, tausend, Millionen Kräfte sind befreit. Einmal werden sie wahrscheinlich ein Licht anzünden, das heller sein wird als das Feuer der Revolution. Aber heute noch nicht, in zwanzig Jahren noch nicht. Vorläufig bleibt immer noch die geistige Physiognomie Europas interessanter – wenn auch ihre politische und soziale Physiognomie schauderhaft ist. –


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