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44. Bald wird es schneien

Clyde (Baffinland).

Die stolze Flagge der Hudson's Bay Company flatterte in Clyde vor einem trüben Himmel, der so schwer war von Schnee, daß dessen Last ihn tief herunterzog auf den großen Fjord. Der Himmel schien sich auf die Kuppen der großen Berge stützen zu müssen, die den schmalen Wasserarm einfassen.

Unter dem wehenden roten Tuch sah man auf ein paar elende Eskimohütten, keine sauberen Tupeks aus Fellen oder Leinwand, sondern Buden aus Brettern, Lehm und Fellen, wie die Eskimos sie überall dort errichten, wo sie seßhaft geworden sind. Die Behausungen seßhafter Eskimos sind immer grauenhaft schmutzig, und diese selbst ihren noch freischweifenden Stammesgenossen in jeder Hinsicht unterlegen. Die Eskimos von Clyde aber waren das Verdreckteste und Verkommendste, das wir auf der ganzen Reise gesehen haben. Sie gehörten zu dem Hudson's-Bay-Company-Posten. Was aber der Verwalter des Postens mit den verkommenen und verkrüppelten alten Männern und Weibern anfangen sollte, war mir schleierhaft. Während des Ausladens lungerten sie nur herum, und im Falle von Not und Gefahr bedeuteten sie für den einsamen weißen Mann höchstens eine Belastung.

Der Verwalter der Kompanie war neben den paar alten Eskimos der einzige Mensch in Clyde, der einzige weiße Mann. Sein Haus stand auf der andern Seite des Flaggenmastes, das heißt, wie immer waren es drei: Wohngebäude, Laden und Magazin, um im Falle einer Feuersbrunst die Gefahr zu verringern und um den Bewohnern des Postens in jedem Fall eine Zuflucht und einen Rest von Vorräten zu sichern.

Der Verwalter von Clyde sitzt allein auf seinem Posten. Er war es bis zu unserer Ankunft ein volles Jahr, oder genau gesprochen, dreizehn Monate. Allein, unter dem Himmel, der 300 Tage im Jahr so trüb und lastend ist wie heute, allein in einem Lande, in dem keine 30 Tage frostfrei sind. In den langen Wochen, wo keine Eskimos kommen, ihre Felle einzutauschen, hat er kein menschliches Wesen, mit dem er ein paar Worte, wenn auch in einer fremden Sprache wechseln könnte, außer den blöden, verkommenen Alten.

Tag für Tag geht in dem langen dunklen Winter dahin, wie aus einem Sack kommend, wie wieder in einem Sack verschwindend. Aufstehen, Ofen heizen, Essen kochen, allenfalls Vorräte und Waren ordnend und Bücher führend. So geht es Tag für Tag dahin, oder was als Tag gilt, während der langen Dämmerungszeit, die nicht Tag noch Nacht kennt. Man ist froh für jede Tätigkeit, die sich ergibt, und braucht doch seine ganze Energie, um sich zu dieser Tätigkeit zu zwingen, um nicht einfach liegenzubleiben, nachdem man Feuerung nachgelegt hat, ein paar Konservenbüchsen zu öffnen und zu leeren und im übrigen zu schlafen und zu vergessen suchen, wie grenzenlos öde und einsam das Leben ist.

Freilich, das Radio ist da, das in die nächtliche Eiswüste allen Klang und Glanz der Welt herbeizaubert, die man hinter sich gelassen hat. Wie über einen Abgrund ruft diese aus dem Apparat zum Greifen nahe und dennoch unerreichbar. Das Gefühl der Einsamkeit und Verlassenheit wird nur noch größer, noch lastender.

Mitunter klingen, wenn nicht die Stimmen, so doch die Worte der nächsten Angehörigen und Freunde aus dem Kasten. Pittsburg hat einen besonderen arktischen Nachrichtendienst eingerichtet. Jeden Sonnabend, nachts um 11 Uhr, übermittelt die Radiostation von Pittsburg Nachrichten und Briefe, die an sie zur Weiterleitung an die Männer in der Arktis und Antarktis gesandt wurden.

Da tönt plötzlich zwischen Surren und Summen und verwehten Tonfetzen der eigene Name aus dem Apparat, und dann folgt ein Gruß der Mutter, der Geliebten, des Bruders. Freilich, mitunter reißt die Mitteilung mitten im Satz ab. Oder der angstvoll Lauschende hört lediglich seinen Namen und dann nichts mehr, bis er schließlich enttäuscht abstellt. Europa sendet wunderbar klar in die Arktis, aber gerade von den amerikanischen Stationen ist der Empfang oft schlecht.

Dann ist es, als ob man einen Liebesbrief auf offenem Markt hinausschreien würde, und der, für den er bestimmt ist, ihn inmitten einer gleichgültig oder spöttisch lauschenden Menge anhören muß. Die Briefe der Verwandten und Freunde werden ja in den Äther hinausgerufen und mindestens alle im hohen Norden hören alles, müssen es hören, wenn sie die für sie bestimmte Botschaft nicht versäumen wollen.

So hörte das im Eise von Ellesmere für zwei Jahre abgeschnittene Detachement der Mounted Police gleichzeitig die Familienbriefe, die Byrd in die Antarktis nachgesandt wurden, an den entgegengesetzten Pol der Erde. Der Verwalter von Clyde hörte sie und hört gleichzeitig alles, was seinen Kollegen auf den andern Posten übermittelt wird, und den Konstablern der Mounted Police und den Missionaren auf Southampton Island und Ponds Inlet.

So entsteht eine große Familie in der Arktis, in der jeder von jedem alles weiß. Wenn sich dann zwei Menschen treffen, die sich nie gesehen haben, ist ihnen, als ob sie sich schon viele Jahre genau kennten, so genau sind sie über die Familienverhältnisse und persönlichen Beziehungen des andern unterrichtet. Auf diese Weise steht unmittelbar neben der grenzenlosesten Einsamkeit, neben einem unvorstellbaren Alleinsein, gleichzeitig eine fast schamlose Öffentlichkeit und Preisgabe der innersten Beziehungen. –

Ich bin den Fjord hinaufgewandert, bis er schmal wird und in einem Fluß endet, der sich in einer, zwischen Felsen sumpfigen Tundra verliert. Ich bin die Klippen hinaufgeklettert, um zu sehen, wo der Himmel aufsitzt, der so voll Schnee ist, daß er bald bersten muß.

Ein schneeschwerer Himmel lastet über dem Fjord

Aber der Himmel weicht vor mir zurück, wie ich höher klettere, und ich vermag vom Gipfel weit über ein Land zu sehen, das Fels und Sumpf ist, die in wallenden Nebel und ziehenden Dunst gekleidet sind. So weit das Auge blickt, kein Anzeichen eines lebenden Wesens. Doch, etwas Schwarzes zieht mit schwerem Flügelschlag über mich hinweg, ein einsamer Rabe, der sich unheimlich groß vom schneeschweren Himmel abhebt.

Die Nietzscheschen Verse, die so schwer von Trauer sind, kommen mir in den Sinn:

Die Raben schreien, und ziehen schwirren Flugs zur Stadt,
Bald wird es schneien, weh dem, der keine Heimat hat.

Hier schreien nicht einmal die Raben in diesem Land des Schweigens, geschweige denn, daß hier eine Stadt wäre, zu der sie ziehen könnten. Aber der Himmel wird immer weißer und düsterer. Die »Nascopie« unten auf dem schwarzen Wasser ist schon nicht mehr zu sehen. Ein Frösteln überkommt mich. Ich schicke mich an, die Geröllhalden und Felsenhänge wieder hinunterzusteigen. Wie ich unten anlange, schneit es in schweren Flocken.


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