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VII

Sie bekamen zum Gottesdienst an jenem Sonntag schönes Wetter. Die Heuschreckenpest hatte zwar eingesetzt, aber vorläufig war es nur die Brut aus dem Erdboden; noch waren Luft und Wolken rein. – Heute wehte es aus Südwest; es war angenehm warm; die Luft schmiegte sich ans Gesicht wie ein feiner, leichter Seidenschleier. Die Sonne flimmerte hinter der grünblauen Luft eines hochgewölbten Himmels. Und auf der Prärie hatte heute früh die Wiesenlerche gejubelt; denn Lerchen wie auch Rotkehlchen hatten bereits im zweiten Sommer ihren Weg heraus gefunden.

Zeitig begannen die Leute sich vor Per Hansens Gamme zu versammeln. Die meisten kamen zu Fuß; die Weiterabwohnenden polterten in einem Leiterwagen heran, der, je länger er humpelte, immer voller wurde. Alles war Leben und Munterkeit; es hatte gar nicht den Anschein, als sei man auf dem Weg zur Kirche.

Der alte Aslak Tjöme, des Sam Solum Nachbar, rollte seine Frau in einer Schubkarre an. Sie hatte sich auf dem Glatteise im Frühling die Hüfte gebrochen und konnte noch immer nicht gehen. – »Und das ist schlimm,« sagte der Aslak; »denn ich habe nicht mehr Hilfe in der Wirtschaft, als ich nötig brauche!« Heute wollte er die Frau dem Pastor vorstellen, denn er habe – ja, er hatte also eine ganz leise Hoffnung, daß sie schneller genesen werde, wenn erst die Pfarrershand auf ihr gelegen habe – schaden konnte es jedenfalls nichts! – Ein köstlicher Aufzug waren die beiden! Die Vorüberkommenden lachten und erboten sich, die Frau ein Stück des Weges zu karren. – »O nein, dank' schön!« meinte der Aslak. »Jetzt werde ich gut alleine mit ihr fertig, – es ist, Gott bessere es, nicht immer so gewesen!« – Und dann lachte sich das Ehepaar zu, während er stehenblieb, um zu verpusten. – –

Der Pastor war gestern abend gekommen und diesmal bei dem Per Hansen abgestiegen. Sie waren heute zeitig aufgestanden, hatten eilig das Frühmahl genossen und sich sogleich daran gemacht, die Stube herzurichten. Die war bereits gestern gescheuert und geputzt gewesen. Große und kleine Feldblumensträuße hingen unter der Stubendecke und standen überall herum, in Tassen und Töpfen, wo sich irgendein Plätzchen fand; aber es machte den Eindruck, als habe ein Kind das alles im Spielen besorgt. Eine kalte Hand griff dem Pastor ans Herz, als er es sah.

Der Tisch war hinausgeschafft, die große Lade stand schräge vor der einen Ecke, ganz wie er es bestimmt. Der Per Hansen hatte aus vielen Fußbänken einen langen niedrigen Schemel vor der Lade zusammengestellt; zwei von Sörines Decken verhüllten ihn; über die Lade war ein weißleinenes Tuch gebreitet. Der Pastor setzte Kelch und Teller darauf, erbat sich auch wieder die Leuchter, versah sie mit Lichten und stellte sie daneben. Der Herd wurde mit einem andern Tuch verhangen. Gestern abend hatten die Buben einen ganzen Zuber voll Weidenlaub gezupft; den brachten sie jetzt herein und bestreuten den Boden mit Grün.

Der Pastor hielt Umschau: Es war hübsch hier drin geworden. Er hatte seit seiner Ankunft noch nicht viel gesprochen. Jetzt sagte er: »Ich gehe in die andere Gamme hinüber und ziehe mich zum Gottesdienst um; ich bleibe dort, bis es Zeit ist anzufangen, und möchte ungern gestört werden.« Und im Hinausgehen setzte er, an seine Wirtsleute gewandt, hinzu: »Gott gebe euch beiden ein fröhliches Abendmahl!«

Der Pastor legte sich in der Gästehütte den Ornat an. Die Lippen bewegten sich; Schweißperlen hingen an den Schläfen. Er setzte sich auf das Bett und stützte den Kopf in die Hand. Er sah jetzt so winzig und armselig aus; die Kraft, die er sich für diese Stunde so innig gewünscht, schien auszubleiben. Als er endlich die Bücher aus dem Reisesack nahm, zitterten ihm die Hände. Das Gesicht war blaß und müde.

Er hätte jetzt seines ganzen Glaubens bedurft, und als er nach ihm griff, faßte er ins Leere. Nein, es war kein Glaube da; er fühlte es selbst. – –

Er erhob sich mühselig und ging hinüber.

Die Wohngamme war gedrängt voll; die Älteren hatten sich vorn ihren Platz gesucht, darunter auch Aslak Tjöme mit der Frau; der Per Hansen saß mit der Beret auf der vordersten Bank vor der großen Lade. Der Pastor sah die beiden, ging hin und sagte ruhig zum Per Hansen:

»Bei Beginn des Abendmahls tretet ihr beiden zuerst vor, und sobald ihr fertig seid, geht ihr hinaus; es wird hier drin zu stickig.« Dann ging er unter den Besuchern herum und trug die Abendmahlsgäste ein; und allmählich wurde es still.

Das Thema der Beichtpredigt war ›die Herrlichkeit des Herrn‹. Es war ihm gekommen, als er das letztemal von hier fortfuhr, und es hatte ihm sogleich sehr gefallen. Vor ihm saßen heute Menschen, die seit Jahr und Tag nicht Gelegenheit gehabt hatten, ihre Sünde vor den Altar zu tragen und ihre Bürde abzustellen; unter ihnen war ein verwirrtes Gemüt, zu dem er sich jetzt Eingang verschaffen mußte. Er hatte voriges Mal deutlich zu erkennen gemeint, daß sie, um zu ruhiger Klarheit zu kommen, vor allem der Freude benötige, der zuverlässigen, ruhigen Freude, die da glaubt, daß das Dasein gut ist, weil der Herr selber es lenkt. – Vielleicht, daß der Herr das Gelingen gab, wofern er jetzt den Glauben aufbrachte!

Er bat die Leute, während der Beichtpredigt sitzenzubleiben und begann.

Nun aber begab es sich an jenem Tage, daß sich, als er anfangen wollte, die rechten Worte nicht einstellten, und die da kamen, waren ohne innere Kraft; er hörte sich reden und glaubte einen Fremden zu vernehmen. Er begriff es nicht: hier stand er vor einer solchen Gemeinde und unter so eigenen Umständen. Und er hatte das herrlichste Thema gefunden, das ein Diener am Worte zu finden vermochte, und war besser vorbereitet, als er sich besann, je zu einer Beichtpredigt vorbereitet gewesen zu sein. Und dann blieben die rechten Worte aus! – – Da wollte er von der Herrlichkeit des Herrn zeugen, und er stammelte wie ein Kind!

– Ich muß mir Zeit lassen, dachte er, dann geht es besser, und das Rechte kommt mir in den Sinn; ich brauche auch nicht so laut zu sprechen, die Leute verstehen mich, wenn ich es ihnen nur einfach und klar vorbringe! –

Und er mühte sich um die Worte und die Bilder; das Gesicht brannte ihm; der Schweiß perlte in großen Tropfen. Aber es half nichts.

Wenn ich mich jetzt nicht zusammennehme, bleibe ich stecken, dachte er; aus diesem Gestottere wird nie und nimmer eine Predigt! – Und er sprach langsam und machte nach jedem Satz eine Pause, so daß es sich wie eine Art Unterhaltung anhörte, wie eine Beweisführung gegen jemanden, mit dem er nicht recht zufrieden war. – Der Pastor, der sich so sehr gefreut hatte, heute an dieser Stelle von des Herrn Herrlichkeit zu zeugen, brachte nichts Besseres fertig, als ein ärmliches Geplauder!

Aber er mußte fortfahren; er hatte die Leute gebeten, sitzenzubleiben; sie erwarteten folglich eine lange Rede, – er konnte doch nicht geradezu Skandal anrichten!

»Des Herrn Herrlichkeit – ja, wie ist es nun mit der? Die ist gewiß zu wunderbar, als daß Menschen sie in Worte fassen könnten.« – Ist der Gedanke etwa der Rede wert? dachte er, sobald ihm die Worte aus dem Munde waren, – das ist ja bloß ein Schwadern um heilige Begriffe! –

Der Pastor begann, alle die seit Wochen sorgfältig zurechtgelegten Beispiele aus der Bibel herzuzählen, die alle die wunderbar erhabene Herrlichkeit des Herrn erweisen sollten:

Adam und Eva im Paradiese. – Und Abraham und Sarah, als sie die Verheißung sich auf so merkwürdige Weise erfüllen sahen. – Jakob, der mit dem Herrn rang wie ein Mann mit dem andern. – Und der Mann Gottes auf dem Sinai, als er von Angesicht zu Angesicht mit dem Gewaltigen Zwiesprache hielt. Und Jonas und alle die andern.

Der Pastor schleppte sich durch das ganze Alte Testament und arbeitete sich noch weit in das Neue hinein. – Was habe wohl die Jüngerschar erfahren, als sie mit ihm zu Tische saß und er selber das Brot brach und den Kelch reichte? –

Der Pastor machte eine Pause und trocknete sich die Stirn. Mit jedem Bilde war es ihm klarer geworden: die Leute da vor dir, das sind Menschen aus Sogn und Voss; der Bauer und die Bäuerin hier im Hause sind Fischerwirte aus Nordland! Niemals im Leben begreifen diese Menschen etwas von jenem fremden Volk, das vor langen, langen Zeiten in einem fernen Lande gelebt hat! Das nicht die mindeste Ahnung von den Bedrängnissen hier in Dakota Territory gehabt hat! – Er hätte seine Not hinausschreien mögen: er, ein erfahrener alter Priester, hatte sich jetzt bereits durch die ganze Bibel durchgepredigt, ohne die Herrlichkeit des Herrn zu finden! – – – Das geht um alles in der Welt nicht an, dachte er, und fuhr dann langsam mit der Predigt fort, wie einer, der im lauten Selbstgespräch nach Gedanken und Ausdruck sucht.

Seine Augen wanderten währenddessen ratlos umher. Sie hefteten sich von ungefähr an eine Fliege, die durch den Raum summte; auf einer Bank in der Nähe saß eine junge Frau mit drei kleinen Kindern, – ein junges, frisches Weib, kräftig und sonnengebräunt, – gewiß jene, die Tönset'n getraut hatte. Das größte lehnte sich an sie, das zweite hatte das Köpfchen auf ihren Schenkel gelegt; es schlief anscheinend, er sah von ihm nur die Locken; das kleinste hielt sie auf dem Schoß. Es war lange unruhig gewesen; da hatte die Mutter aufgeknöpft und es an die Brust gelegt. Die Fliege summte, beschrieb plötzlich einen entschlossenen Bogen und setzte sich dem trinkenden Säugling auf das Näschen; die Hand der Mutter hob sich und verscheuchte sie immer wieder, und immer strich sie dabei so lieb über das Gesichtlein.

Der Pastor konnte das Bild nicht aus den Augen lassen. Da hatte er sich leer geredet von allem Großen und Schönen, was er wußte, und doch nichts Treffendes gefunden. Und jetzt fing er von dem Bilde an, das sich ihm lebendig bot. Ja, das heißt, er sagte nichts von dem braunen, frischen Weib, das da vor ihm auf die Fliege aufpaßte und viel zu beschäftigt war, um ihm zuzuhören – nein, er fing an von Mutter und Kind zu sprechen. Und jetzt tat er, was er noch nie in einer Beichtrede getan – er erzählte eine Geschichte. Und es war eine sentimentale Geschichte, und der Pastor verachtete jede Sentimentalität in Predigten.

Einst sei eine norwegische Frau nach Neuyork gekommen. Neun Kinder habe sie mitgehabt. Neuyork sei eine große Stadt; und es sei für eine Frau mit neun Kindern keineswegs einfach, sich da durchzufinden, – zumal für eine Fremde, die der Sprache nicht mächtig ist. »Als nun die Frau in das Gewimmel und den Riesenverkehr hineingerät, bekommt es die Arme mit der Angst. Aber sie ist darauf vorbereitet, daß einer Mutter mit neun Kindern so mancherlei zustoßen kann. Um ihren Gürtel hat sie sich ein langes Seil gewickelt; das rollt sie jetzt ab, seilt alle neun Kinder gut an und bindet sich selbst das eine Ende um den Gürtel. Solcherart begibt sich Kari jetzt auf die Wanderung durch die Straßen der Großstadt, bis sie sich unter vielerlei Unbill und großem Gelächter der Zuschauer zu guter Letzt doch zurechtfindet, wohlbehalten mit allen neun Kindern! – Das also vermag die Mutterliebe!«

Die Sprechweise des Pastors war schlichter geworden, hatte mehr Herzenseinfalt bekommen; sie wurde zu einem Plaudern über Dinge des Werktags – fand er selber. Die Leute folgten ihm aufmerksam; die Frau vor ihm hörte auf, die Fliege zu verscheuchen; er hätte sie am liebsten gebeten, doch nur ja damit fortzufahren. Denn jetzt stand die Erinnerung an seine eigene Mutter so klar vor ihm, wie sie sich als Pionierin erst in Illinois, später in Minnesota abgerackert und geschunden hatte. Er war bewegt, die Worte kamen leichter, und schließlich strömten sie ihm zu ohne Spur von Mühe.

»Wenn aber schon zwischen einem armen Pionierweib und einem ganz gewöhnlichen Kinde ein so inniges Verhältnis bestehen kann, wie muß dann erst das vollkommene Verhältnis sein zwischen den Menschenkindern und ihm, der Quelle aller Liebe und alles Waltens für jegliches Leben? Die Zuneigung zwischen Mutter und Kind ist zwar nur ein matter Abglanz; aber sie ist doch, trotz allem, was sich als irdische Hülle um sie gelegt haben mag, Odem von seinem Odem!

Wenn nicht ihr Mütter des Herrn Herrlichkeit gesehen habt, dann gibt es keinen Pastor, der sie euch zu zeigen vermöchte! – Tretet jetzt zum Altar des Herrn und kostet seine Güte! Kommt mit allem Gram und aller Sünde! Tragt alle Sorgen und Kümmernisse heran! Die ewige Liebe ist selber zugegen. Er ist bereit, eure Bürde auf sich zu nehmen, wie die Mutter das Kind an ihrer Brust behütet. – Kommt und sehet die Herrlichkeit des Herrn!« –

Der Pastor schloß, sah auf die Uhr und runzelte die Brauen. Was war denn das? Nach der Uhr hätte er fünf Viertelstunden lang gesprochen? Nicht möglich!

Die Leute kamen und knieten vor des Per Hansens großer Lade nieder und erhielten eine Zusicherung, so gut, daß man sie kaum glauben wollte, die man aber willig hinnahm, und sie lieh den Augen Glanz.

Der Sündenerlaß beanspruchte viel Zeit; der Pastor sah wieder auf die Uhr, und sein Sinn ward bitter: Nicht nur die Beichtrede hatte er verdorben, sondern jetzt säumte er obendrein so lange, daß er hinterher nicht mehr predigen konnte! –

Er ließ an dem Tage die Predigt ausfallen und schloß mit einer angelegentlichen Ermahnung an die Abendmahlsgäste, sich heimzubegeben und den Rest des Tages still zu verbringen. Sie sollten sich heute nicht mehr mit Plaudern vor der Kirchtür aufhalten! In vier Wochen komme er wieder, und dann beabsichtige er die Frage einer Kirchengemeinde mit ihnen zu überlegen. –

Der Pastor blieb nicht zu Tisch; er trank einen Napf Milch, setzte sich in den Cart und fuhr seines Weges.

Der Cart humpelte, der Gaul trottete, der Pastor saß in tiefster Betrübnis. – So schlecht habe ich gewiß noch nie meines Amtes gewaltet! dachte er.


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