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Der Kosak

Der Fürstin Tola Meschtscherski nacherzählt

Die Lehmhütte hockt verdrießlich da, schier zerdrückt von der Last eines riesigen, struppigen Strohdachs; auf dem Strohdach wieder lastet ein riesiges, struppiges Storchennest.

Regungslos am Türpfosten lehnt eine Greisin; sie ist unermeßlich alt, lächerlich klein; der Vogelkörper zittert in einem verblichenen, matt ziegelroten Kittel. Ihre porzellanhellen Augen sehen voll Angst einem Kosaken zu, der sein Pferd sattelt.

Der junge Mann ist klein, aber stämmig; schwarz und glatt sein Haar, der Schnurrbart hängt lang und borstig; die grauen Augen, nach den Schläfen zu geschlitzt, verraten die Abkunft von Timur Lenk. Ein Riemen schließt den groben Rock des Kosaken, die Hosen stecken weit in Schaftstiefeln aus rötlichem Leder.

Er zieht mit den Zähnen die Gurten an und prüft noch einmal den Sattel: den Baum von lackiertem Holz, das Kissen mit den schillernden Borten; den mächtigen, gerollten Mantel darauf, zwei geschwollene Packsäcke, die Feldflasche. Langsam streift der Kosak seinem Gaul das Kopfgestell über – ein geknüpftes, nicht genähtes Kopfgestell, das mit grünlichen Türkisen geschmückt ist. Die Knute hängt mit dem Lasso am Steigbügel.

Das Pferd steht zu alldem still: das ukrainische Pferd mit Spinnenbeinen, kantiger Kruppe und einem Kopf, so fein wie der einer Hindin; die großen, schläfrigen Augen, die lässigen Bewegungen verraten nicht die Kraft, den Mut, die Ausdauer des Temperaments.

Marko Tinorka hält mit niedergeschlagenen Augen inne. Er ist fertig zur Reise. Der Hetman hat ihm einen Zettel geschickt: Marko habe einen gefallenen Kameraden zu ersetzen in dem Regiment, bei dem er von Geburt an eingeschrieben ist.

Die Alte, im stummen Schmerz einer passiven Natur, kann nicht weinen noch klagen; sie folgt mit ihren Blicken jeder Bewegung des Sohnes. Neben ihr kauert eine junge Bäuerin mit dem hohen Kopfputz der Neuvermählten und schluchzt in die Schürze, ihre aufgeregten Hände graben sich in den Rock.

Marko hat dieses sechzehnjährige Mädchen vor zwei Monaten geheiratet. Jetzt geht er – um einer unter Millionen zu werden, kein Wesen mehr, sondern eine Sache, Soldat. Er weiß, daß sein Weib, fast noch ein Kind, vom heutigen Tag an Witwe ist. Seine Abwesenheit wird ja lange, lange Jahre dauern. Die junge Frau wird der gefährlichen, unnatürlichen Einsamkeit ausgeliefert sein, der stillschweigenden Sitte des Landes, die sie zur Dirne macht. Nach einigen Minuten wird Marko heißen Abschied nehmen – einen Abschied für immer …

Bauern schreiben keine Briefe. Er fühlt sich schon als Toter für diese beiden; und gestern waren sie ihm noch Lebenshorizont. Das Herz schlägt ihm bleischwer.

In den Tränen, die er verhalten möchte, sieht er die Sonne groß, rot und golden untergehen; die Steppe grünt von Tau in funkelnden Topasen. Nebel wogt in der Dämmerung, die Lerchen schießen durch das Blau und schmettern ihre Rufe.

Gefühle verbergen können, ist zwei Gegensätzen der Zivilisation möglich: der Schweigsamkeit des primitiven, der Zurückhaltung des verfeinerten Menschen.

Marko bückt sich, um mit dem Ärmel Tränen abzuwischen, die ihm wider seinen Willen rinnen. In seiner Verlegenheit streichelt er den langen Schweif des Pferdes. Das Pferd wendet den Hals zurück, und aus seinen Augen scheint unbeschreibliche, menschliche Trauer zu blicken.

Das Steppenpferd ist der Gefährte, der Freund, das Kind des Hauses. Es teilt Schicksale, Arbeit und Mahlzeiten der ukrainischen Familie. Gleich ihr nährt es sich von gequetschten Maiskörnern und Roggenbrot; es arbeitet, eggt und zerstampft die Garben zur Zeit der Ernte. Und läuft dann im Bauernrennen mit. Wer weiß – ginge das Rennen über tausend Werst – ob es da im langen, taktmäßigen Galopp des Präriewolfes den Vollblutengländer nicht um Lunge und Leben brächte? Alljährlich um Weihnachten geht's in die Fremde. Der Borkschlitten folgt in langem Zug unzähligen andern leichten Schlitten; die Karawanen bringen gesalzene Fische, geräucherte Schweine, Mais und Hafer nach den fernen Städten – alle Erzeugnisse des Kaspischen Meeres und der gesegneten Steppen. Es ist ein merkwürdig ergreifendes Schauspiel, wie diese stummen Reihen dahinziehen, immer im selben schmalen Gleis, das von Hunderten von Pferden im Schnee ausgetreten ist, im gleichen, regelmäßigen Schritt, von einem innern Rhythmus bewegt. Huf setzt sich in die Spur des Hufes. Die Männer weißbereift; ihre hohen Pelzmützen stehen als Schutzdächer über ihren Brauen; so wandeln sie ernst, still wie im Traum – und ihre Stummelpfeifen rauchen. Hin und wieder stimmen sie ihre eintönigen Lieder an. In der sinkenden Nacht, in der Stille einer farblosen Einsamkeit gleitet die Schar von Pferden, Schlitten, Männern. Ihre Umrisse wachsen im Dampf der Nebel – ein Gespensterzug, die Inkarnation von Geschlechtern, die langsam, teilnahmslos durch die Zeitalter ziehen. Die schwärmende, leidende, leidenschaftliche Seele dieser Völker ist teilnahmlos: sie erwacht nur in drei Wirklichkeiten: im Krieg, in der Arbeit, in der Liebe.

Marko ruckt nach einigen Augenblicken des Schweigens den Kopf in heftiger Abwehr, geht auf seine Mutter zu, wirft sich vor ihr nieder und berührt mit seiner Stirn die Erde. Die alte Frau legt ihm mit biblischer Gebärde ihre Hände auf den Kopf. Durch die tiefen Rinnen ihres Gesichtes strömen die Tränen, und in ihren Augen ist die Todesangst des Sterbenden – der Schrecken vor dem Geheimnis eines Endes.

Mit einem schrillen Schrei, wie ein junges, getroffenes Tier, hat sich die junge Frau auf ihren Mann geworfen. Er umfaßt sie und küßt sie dreimal auf die Lippen. Sie windet sich wie eine Schlange um ihn, und ihr Geschrei verdoppelt sich – ihr Geschrei von Liebeswut und Hoffnungslosigkeit.

Marko, voll von Begehr, schiebt sie weit von sich, schwingt sich auf sein Pferd und reitet in saumselig anapästischem Galopp davon. Der metallne Zierat am Sattel klirrt. Die Eisen schlagen dumpf den federnden Boden. In den Augen der weinenden Frauen gleicht seine Gestalt bald einem großen, phantastischem Vogel, der mit ausgebreiteten Flügeln ob dem Feuer des Westens schwebt.

Dann ist er im Feuer geschmolzen.

 

Marko Tinorkas Leben im Regiment war das aller Söhne der Ukraine. Ein unvergleichlich stolzes Regiment; »zweimal haben seine Pferde die blutende Brust in der Seine gewaschen«.

Tinorka kannte sein Handwerk bald. Das Regiment stand in Petersburg, der Stadt auf stinkenden Morästen – rosa Granit und Marmor, gefügt in den Schmutz des asiatischen Dorfes.

Dann kam er nach Moskau. Er sah die alte Stadt im kaiserlichen Witwenschmuck ihres zinnengekrönten Kremls, Moskau, das vom Zaren verstoßen und verlassen ward zugunsten eines andern Hofes, – Moskau mit den fünfzig Goldkuppeln, den schlanken, minarettähnlichen Glockentürmen, buntbemalten Kirchen – ein Blumenbeet im Eis.

Und Tinorka lagerte am toten, mörderischen Weißen Meer, wo trostlose nordische Völker in unterirdischen Höhlen ein ewiges Feuer nähren. Tinorka durchritt die blühende Pracht des Südens, am Schwarzen Meer – das Reich des Lichtes, der schlankherrlichen Männer, beglückenden und beglückten Frauen. Die slavische Erde ist grenzenlos.

Marko und sein Pferd schlugen sich im Feldzug gegen die Türkei. Die Geschichte kennt ihre Taten: mehr als einmal trabten sie sechzig Werst in einer Nacht, um den Tag über vom Morgen bis zum Abend zu raufen.

Dann ward er verwundet. Man amputierte ihm den Arm und sagte ihm: »So, Tinorka! Genug! Nun geh heim!«

Jahre waren seit jenem Abend verflossen, wo der Kosak Abschied von seiner Heimat genommen … Jahre waren aus seinem Leben gestrichen. Er ritt in kleinen Tagereisen: das Pferd war ja lahm in den Schultern geworden, vorbiegig in den Knien, und sein Atem röhrte. Gesenkten Kopfes trottete es die staubigen Straßen lang der beßarabischen Steppe.

Eines Tages in brennender Sonne zeigte sich weit, weit das große zerzauste Storchennest auf dem väterlichen Dach, das Dorf lag wie ein grüner Strauß inmitten roggengelber Ebenen. Ein besondrer Duft schnob durch die Nüstern des alten Renners: Duft von verbranntem Stroh, der die Tage Kleinrußlands durchzieht; der Gaul erhob den Kopf, spitzte die Ohren, und mit schnellern Schritten strebte er dem Stall zu, worin er sein Dasein einst begonnen hatte.

Die Tür der Hütte war verschlossen; auch die Fenster.

Marko saß ab. Er glaubte ja keinen Augenblick daran, Mutter und Frau wiederzufinden, nicht mit dem kleinsten Hoffnungsfünkchen glaubte er's. Wer aus dem Heimatboden gerissen, entwurzelt ist, vom Leben so viel hin und her geschüttelt, gescheitert und nun alt und zerschlagen, erwartet nicht mehr als eine leere Hütte, bringt nicht mehr den Wunsch auf, einen neuen Herd zu gründen; er ist ein Robinson auf der wüsten Insel des Lebens.

Marko versuchte, den verrosteten Riegel zurückzuschieben, da hörte er ein leichtes Geräusch; die Hecke bewegte sich, die Zweige schlugen zurück, und erstaunt sah er seine Mutter sich mühsam erheben und mit den kleinen Schritten eines Kindes auf den Fremdling zutrippeln. Ihn schauerte, als er diese abgemagerte Gestalt sah, das fahle, gefolterte Gesicht.

So wenig war er darauf vorbereitet, sie wiederzusehen, daß ihre Erscheinung ihm fast Schmerz bereitete. Da war sie – und er erkannte sie kaum. Sie erschien ihm wie eine Vision, ein Gnom, ein furchterregendes Wesen: als glömme allein in ihren Augen noch Leben; sie waren hell und durchdringend wie eh und je. Sie drückte sich an ihn, und ein unverständliches Gemurmel, das Ächzen eines zerrissenen Blasebalgs, entrang sich der hohlen Brust.

»Mutter,« sagte Marko, »wo ist meine Frau?«

Die Greisin schüttelte den Kopf, als spräche sie: Du weißt es ja.

Marko fragte nicht mehr. Er führte den Gaul in den Stall, und der Gaul wieherte rauh auf der wurmstichigen Schwelle, die er so oft überschritten hatte. In der Hütte bot die Alte dem Sohn Sauerkohl und Schwarzbrot zum Abendessen.

Die Tage flossen träge. Marko nahm sein Leben als Bauer wieder auf; sein altes Pferd zog den Pflug und die Egge. Im Frühling strotzte das Feld von den grünen Spitzen jungen, starken Hafers. Der Kosak aber wurde schwächer von Mond zu Mond, er magerte ab, sein Gesicht war abgezehrt und farblos. Die Amputation mitten in den Gefahren, im Gedränge des Krieges war übereilt gewesen und hatte Lebensquellen angetastet.

Er fühlte es wohl, doch die Leiden des Bauern sind stumm. Er sprach mit keinem Menschen. Die Schrecken der langsamen Auflösung benahmen ihm Schlaf und Hunger; er war des Atmens überdrüssig. Eines Nachts hörte die Mutter ihn aufstehen und aus der Hütte wanken. Er tappte schwer, unsicher. Sie hörte die Tür zum Stall kreischen, worin das alte Pferd schnaufend sein Roggenbrot zermalmte. Schnürte ihr auch die Angst das Herz zu – sie wagte dennoch nicht, ihm zu folgen, und verweilte lange Stunden auf ihrem Lager, zitternd und bestürzt.

Endlich rührte der Tag an die undurchsichtigen Fenster, sie erhob sich und wandte sich nach dem Stall. Die Tür war offen, der Wind schlug sie herum. Der Sohn lag am Bauch des Pferdes und atmete nicht mehr.

Das Gesicht Markos hatte sich verjüngt; ein sanftes Lächeln öffnete die Lippen; er war ohne Schrecken, ohne Widerwillen gestorben – wie Pflanzen, die sich der Nutzlosigkeit des Kampfes entziehen.

Der Kosak und seine Mutter hatten keine Verwandten, auch keine Freunde mehr im Dorf. Am Abend half der Tischler der armen Frau ihren Sohn in einen Sarg von dünnen Fichtenbrettern legen; dann stellte man, das ist Sitte so in Rußland, den Sarg auf den Eßtisch.

Es sind kaum vierundzwanzig Stunden vergangen, seit der Soldat sich zum Sterben auf das Stroh des Stalls gelegt hat – so legt sich ein müdes Kind zum Schlafen nieder nach langem Weg, Die Greisin mit ihren gebrechlichen Armen läßt den weißen Sarg vom Tisch gleiten und schleppt ihn über die Schwelle; durch die offene Tür treibt ein Windstoß Schneeschwaden in die Stube. Die Mutter macht eine Pause und wischt sich mit dem Ärmel den Schweiß und die Tränen vom Gesicht.

Dann schirrt sie Markos Pferd; schirrt es mit dem zerrissenen Halfter und dem Kummet, dessen Leder verbraucht ist und das nackte Joch zeigt. Der Gaul stellt sich selbst in die Gabel des kleinen Schlittens und zieht ihn langsam vor die Hütte. Er hat den Kopf bis zum Boden gesenkt und duselt in der eisigen Luft.

Plötzlich nimmt er den langen, weißen Sarg wahr da im Flur und richtet die Ohren auf. Der Geruch des Todes, wie oft hat er auf Kampffeldern ihn gewittert, steigt ihm in die Nase und erschreckt ihn; doch er gehorcht der zitternden Hand, die ihn führt. In Mutters grauen Haarflechten wühlt der Sturm; sie zerrt den Sarg keuchend auf den Schlitten und läßt ihn darauf nieder.

Als der Sarg fällt, fährt der Gaul bebend auf; seine dicken Adern schwellen, die roten Augen weiten sich.

Die Mutter schließt hinter sich den Riegel, wickelt Kopf und Schultern in einen zerschlissenen Schal und ergreift die Zügel. Mühselig macht sie sich auf den Weg nach der Kirche; fünfzehn Werst von hier.

Und die Sonne blickt mürrisch, mit abgewandtem Gesicht in die dunkeln Schneewolken; sie flackert wie eine riesige Kerze – als sollt der Wind sie jeden Augenblick verlöschen. Luft, Erde, Himmel – alles schiefergrau. In dieser leichenhaften Einförmigkeit der Landschaft bewegen sich mit dem majestätischen Schritt antiker Prytanen die düstern Schattenbilder der Mutter und des Pferdes, die den Kosaken nach seiner letzten Ruhestätte bringen.

Der schweigende Tag neigt sich dem Ende zu. Gegen Abend erscheint der Glockenturm. Die Gruppe hält am Fuß des morschen Peristyls, an den ausgetretenen Stufen. Schon hüllt Finsternis die Kirche ein, und die Mutter weiß, daß die Stunde zu spät ist, den Popen zu rufen. Sie zäumt das Pferd ab, hängt ihm den Futterbeutel um und setzt sich in den Schlitten, an den Sarg, um da den Morgen abzuwarten. Langsam, mählich sinkt ihr alter Kopf auf den Sargdeckel. Sie schläft ein. Im Schlaf umfassen ihre Arme den Sarg, wie sie früher ihr Kind umfaßten … Der Nachtwind bläst, und der Schnee fällt und hüllt die Wanderer in seine weiche, kalte Decke; und die Nacht vergeht ohne Zögern, ohne Anstrengung, gleichgültig, unabwendbar – nichts stört die beiden Schläfer, noch ihren friedlichen Gefährten: Marko in der endlosen Vergessenheit des Todes, aus der es kein Erwachen gibt; die alte Frau in tiefem, tiefem Schlummer – Vorboten einer Ruhe, die niemand mehr wird wachrütteln können; der Gaul frißt still sein Roggenbrot. So erwarten sie die Stunde der Bestattung.

Im Morgengrauen fertigt der Pope die kleine Zeremonie eilig und geschäftsmäßig ab. Er ist verschlafen und mißgelaunt, weil er so früh geweckt wurde – auch fürchtet er, zu viel zu tun für die armseligen vier Kopeken, die ihm demütig von der zitternden Hand der Greisin gereicht werden.


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