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Die Städte, Dörfer und Höfe

Die Städte sind in Deutschland durch Geschichte und Volksart zu einer besondern Aufgabe berufen. Deutschland besteht heute aus 22 Monarchien, hat also auch 22 wirkliche Residenzstädte. Dazu kommen Straßburg als Regierungshauptstadt für Elsaß-Lothringen und die drei Hansestädte, die sich selbst Hauptstädte sind; diese sind als politische Mittelpunkte freilich weit weniger bedeutend denn als wirtschaftliche. Aber die meisten deutschen Länder haben mehrere Hauptstädte. Neben Koburg steht Gotha, neben Berlin Potsdam, Hannover, Kassel und Wiesbaden. Einige Städte führen den Titel von Residenzstädten, wie Würzburg, andre sind tatsächlich zeitweilig Residenzen, wie Baden-Baden oder Eisenach, und ungemein groß ist die Zahl derer, die in Schlössern und Gärten die Reste einer einst höhern Würde bewahren. So hat das kleine Anhalt neben Dessau Köthen und Zerbst, die kleinen Fürstentümer Schwarzburg neben Rudolstadt Schwarzburg und neben Sondershausen Arnstadt. Neben seinen einundzwanzig Universitätsstädten hat Deutschland eine ganze Reihe von alten Universitätsstädten, wie Erfurt und Helmstedt, die es nicht mehr sind. Noch viel größer ist neben den elf starken Festungen, die heute Deutschlands Landgrenzen schützen, die Zahl der alten Festen und Festungen, unter denen Landstädtchen wie Philippsburg oder Orsoy kaum noch Spuren der Wälle zeigen, während andre wie Rothenburg in einer interessanten Renaissancerüstung stecken geblieben sind.

Die Deutschen haben sich aus einer dünnen, höchst lückenhaften Verteilung über das Land, die keine andern Städte als die von den Römern gegründeten kannte, bei fortschreitender Verdichtung und Arbeitsteilung in immer größern Siedlungen zusammengezogen, sind ein immer städtischeres Volk geworden. Die deutschen Städte hatten einst große Gemarkungen und umschlossen zahlreiche Familien, die von Ackerbau und Viehzucht lebten. Die zahllosen Städtchen von dörflicher Größe sind gleichsam fossile Reste aus dieser Zeit. Baden hat eine Stadt von 152 (Hauenstein) und acht von weniger als 600 Einwohnern. In den früher polnischen Gebieten ist die große Zahl dörflicher Städte eine ganz andre Erscheinung; man hat dort nur aus politischen Gründen Dörfern den Rang von Städten erteilt. Viele von diesen Städten bauten einst ihren Lebensbedarf auf eignen Feldern. Noch heute ist es nicht anders in unsern kleinern Städten, und in vielen Gegenden von Deutschland ist auch in den mittlern Städten die Landwirtschaft ein wichtiger Erwerbszweig geblieben, während der Unterschied zwischen den kleinern Städten und den Dörfern oft verschwindend gering ist. Solche Städte haben oder hatten etwas von dem organischen Verwachsensein des Dorfes mit seinem Boden. Frankfurt hat seine ländlich rauhe Sachsenhäuser Bevölkerung von Spargel- und Kohlbauern, Stuttgart umschließt eine beträchtliche Bevölkerung von Winzern, München hat im Lehel und in der Au Stadtteile von halbländlicher Bauart bewahrt. Andrerseits sind Dörfer von mehr als 2000 Einwohnern in den blühendsten Teilen Deutschlands häufig. Die Bodenverteilung beeinflußt natürlich auch die Siedelungen. Der Großgrundbesitz im Nordosten hat keine echten Bauerndörfer entstehen lassen, und der zerstückelte Besitz im Südwesten hat Bauerndörfer in Städtchen verwandelt.

Die in den meisten deutschen Großstädten fünfzig Prozent und mehr der eingebornen Bevölkerung betragende zugewanderte Bevölkerung ist je nach den Zuständen des Landes verschieden. Wie die englischen Großstädte erhalten die rheinischen, westfälischen, sächsischen eine bereits sozial zersetzte, vielfach aber auch in Fabrikarbeit geschulte Bevölkerung aus dem weithin dem Großgewerbe zu-, dem Landbau und Handwerk abgewandten Lande. Im übrigen Deutschland kommt der Zuzug großenteils aus den bäuerlichen und kleinbürgerlichen Kreisen; es ist eine wirtschaftlich weniger gewürfelte Zuwanderung, die die deutsche Stadt im allgemeinen nie so einseitig und rein zweckmäßig städtisch werden läßt wie die englische. Dadurch wirkte dieses ungleiche Wachstum auch viel tiefer auf die allgemeine Lage und Verteilung des Volkes ein. Der Unterschied von Stadt und Land wird immer fließender. So wie die alten malerischen Städtesignaturen von den Karten, verschwinden die Städte mit Wall und Tortürmen von der Erde. Endlich ist die Stadt, wie schon längst bei den Romanen, nur noch eine größere Bevölkerungsanhäufung. Aber einstweilen ist die geschichtliche Bruchlinie zwischen Stadt und Land noch erkennbar und tritt in jeder politischen oder sozialen Bewegung zutage.

Dabei ist zu beachten, daß Deutschland erst seit dem Dreißigjährigen Kriege ein stetiges Wachstum der Bevölkerung zeigt. Große Schwankungen sind seitdem nur noch in beschränkten Gebieten eingetreten. Ganz selten ist die Aufgebung oder Verlegung eines Dorfes geworden. Aber die Verwüstung war so groß, daß in den vom Dreißigjährigen Krieg am schwersten heimgesuchten Gegenden Deutschlands die alten Häuser- und Bewohnerzahlen oft erst nach zwei Jahrhunderten wieder erreicht worden sind. In neunzehn hennebergischen Dörfern waren 1634 1773 Häuser bewohnt, 1649 316, 1849 1619.

Deutschland kennt nicht die trotz dünner Bevölkerung großen Dörfer der Steppen Ungarns oder Kleinrußlands, die drei bis vier deutsche Meilen von ihren Äckern entfernt liegen, sodaß in der Zeit des Anbaues und der Ernte die Bewohner Zeltlager näher bei der Arbeitsstätte beziehen müssen. Die aneinander gereihten Farmen einer nordamerikanischen Township, durch die Zäune (Fences) aus rohen Holzscheiten getrennt, oder die durch noch ursprüngliche Waldstrecken getrennten Farmen jüngster Anlage des Far West kennen wir ebensowenig. Glücklicherweise sind bei uns auch die vernachlässigten Dörfer Englands selten, wo einstige Besitzer, jetzt ausgekauft, als Taglöhner leben, bis ihnen auch die letzten Hütten genommen und ihre Ackerstücke in Pferdeweide oder Wildparke verwandelt werden. Das deutsche Dorf bezeugt im allgemeinen ein Fortschreiten seiner Bewohner zu behaglicherm Dasein, es erzählt aber auch von den geschichtlichen Schicksalen, die es noch viel mehr mitgenommen haben als die geschütztern Städte. Es gibt uns sogar Kunde von Verschiedenheiten der ältesten Besiedlung und alten sozialen Unterschieden. Der stolze oberbayrische Einödhof, der westfälische Bauernhof sind Herrensitze, verglichen mit dem schmalen Steinhaus an langer einförmiger Dorfstraße Frankens oder des Rheinlandes.

Auf deutschem Boden finden wir auch in der Form der Siedlungen die keltischen, romanischen und slawischen Spuren, zwischen denen durch und über die hin sich überall die deutschen Formen der Siedlung teils erhalten, teils ausgebreitet haben. Es ist nicht leicht, diese deutschen Formen rein herauszuschälen. Wo es noch möglich ist, da finden wir Dörfer von mittlerer Größe, in denen die Gehöfte anscheinend planlos liegen; daher der Name Haufendorf. Die Flur ist in der Weise in Hufen geteilt, daß jede Hufe einem Hausvater mit seiner Familie und seinem Gesinde hinreichende Nahrung gibt. Das Ackerland wurde in Gewanne von gleicher Bodenbeschaffenheit geteilt und in jedem Gewann jeder Hufe ein bestimmter Anteil zugewiesen. Daher liegen die Äcker eines Besitzers bunt über die Flur zerstreut. Das Haus ist in diesen Dörfern das sogenannte fränkische in irgendeiner seiner zahlreichen Abwandlungen: die Wohnräume den vordern, die Ställe den hintern Teil einnehmend, die Scheune als besondrer Bau daneben. Das Gebirgshaus der Schweiz und der alemannisch-schwäbischen Teile der Alpen ist eine dem Gebirge angepaßte Abart. Die Art der Bodenverteilung läßt noch heute die Walddörfer unterscheiden, wo sich von den Gehöften im Tal aus die Flur in unregelmäßigen Stücken die beiderseitigen Abhänge hinaufzieht, und die Dörfer, wo nach flämischem Herkommen die Hufen als parallel von einem Mittelweg ausgehende Streifen angelegt wurden. Der Hof, von einigen auf das alte keltische Clanhaus zurückgeführt, hat alle seine Felder in geschlossenem Zusammenhang mit Wald und Weide um sich liegen. Welches auch sein Ursprung sei, er steht so fest und sicher in der Natur, als sei er da herausgewachsen. Er ist als ein echtes Langhaus in Westfalen und in leichten Abwandlungen am Niederrhein und bei den Friesen und Holländern und zerstreut bis über die Elbe hinaus nach Rügen und Pommern zu finden, wo er sich vielfach den Dörfern eingegliedert hat. Alles gruppiert sich hier ursprünglich um die Diele, die vorn Tenne, hinten Herdplatz ist und unmittelbar vom Dach bedeckt wird. Die fächerförmige Anlage des Runddorfes gehört den westlichen wendisch-sorbischen Stämmen. Die Gehöfte liegen im Kreis oder hufeisenförmig um einen runden oder ovalen Platz, der ursprünglich nur einen Zugang hatte. Hinter jedem Gehöft folgt ein keilförmig sich verbreiternder Baumgarten, und das Ganze umschließt eine runde Hecke. Eine andre Form ist das östlich von der Oder häufige Straßendorf. Die Häuser stehen in zwei Reihen an einer breiten Straße, in der Kirche, Schule, Schmiede und der Dorfteich liegen. Beide Formen gehen zusammen mit der slawischen Hausgemeinschaft. Indem die Deutschen von den Alpen bis zur Ostsee in die von Slawen besetzten Länder vordrangen, führten sie zwar überall ihre Bodenverteilung ein, ließen aber in vielen Gegenden die slawischen Dorfanlagen bestehen. In Litauen fanden sie den Einzelhof vor, der dem westfälischen ähnlich ist.

Neben den Formen der Anlage bringt auch die ganze Haltung des Hauses Unterschiede in das Dorf. Der Slawe baut in den meisten Gegenden schlechter als der Deutsche, im polnischen Gebiet schwindet das Haus zur Lehmhütte zusammen. Hinter dem Unterschiede des Holz- und des Steinbaues, den heute in Deutschland der Fachwerkbau und der Holzbau auf steinernen Grundmauern vielfach vermitteln, liegt ein größerer: hier das Blockhaus des Roders im Urwald und der lockere Bau des zum Ackerbau übergehenden Nomaden, dort das schon den römischen Steinbau nachahmende halbstädtische Haus.

In der Anlage des einzelnen Wohnplatzes machte sich natürlich der Einfluß der Bodengestalt unmittelbar und von Anfang an geltend. Indem die Walddörfer über die Lichtungen hinauswuchsen, auf denen sie entstanden waren, bildeten sich in den Tälern langgestreckte, in den Mulden dagegen zusammengedrängte Ortschaften. Die Stätten der ersten Siedlungen waren aber Täler oder Mulden, und die ersten Blockhütten erhoben sich längs Bächen oder um Quellen. So wiederholen sich in allen deutschen Gebirgen diese beiden Formen, denen die Mannigfaltigkeit der Bodengestalt in formenreicherm Gelände noch manche Abwandlung erlaubt. Wo die Industrie die Bevölkerung verdichtet, da entstehen aus den schmal fortwachsenden Dörfern die meilenlangen Häuserreihen, die man in der Lausitz und in Schlesien findet. Die »Lange Gasse« vom Probsthainer Spitzberg bis Haynau ist eine dreißig Kilometer lange Kette von Dörfern und einzelnen Wohnstätten, die administrativ zwar getrennt, topographisch aber ein Ganzes sind. In den Gebirgen zerschneiden die Erhebungen die bewohnbaren Stellen, zwischen die sich unfruchtbare Striche legen, und so haben wir im allgemeinen kleinere Wohnplätze. In Württemberg umschließt ein Dorf oder Weiler im Neckarkreis fast fünfmal mehr Einwohner als im Donaukreis. In Baden hat man den besondern Namen »Zinke« für die Gruppe der ein Tal entlang zerstreuten Häuser. Daß aber auch in Westfalen Landgemeinden von mehreren hundert Wohnstätten Vorkommen, worunter kein einziges wirkliches Dorf ist, weist auf die Stammeseigenschaften und -gewohnheiten hin, die auch im Wohnen zur Ausprägung kommen. Das Hofsystem ist nicht bloß dort zu finden, wo es durch die klimatischen und örtlichen Verhältnisse begünstigt wird. Es wird von einigen Stämmen unsers Volks bevorzugt, während andre in Dörfern sich zusammenzudrängen lieben. In Deutschland sind die Gebiete, wo das Höfewohnen die größte Ausdehnung erreicht, Westfalen, Oberbayern, Oberschwaben, jenes tief, dieses hoch gelegen, jenes Ebene, dieses vorwaltend Gebirge. Wir finden es im alemannischen Schwarzwald; wo man sich aber an der Murg der Frankengrenze nähert, da nehmen die Höfe plötzlich ab, und es erscheinen die geschlossenen Dörfer. Die badische Statistik bringt dafür die Zahlen von 43 Menschen auf einen Wohnort im Amtsbezirk Triberg und 643 im Amtsbezirk Wiesloch. Dann ist auch wieder der sich am schrägen Berghang hinaufbauende alemannische oder bayrische Bauernhof ein andrer als der westfälische, der seinen breiten, regelmäßigen Bau in eine weite Ebene stellt. Beiderlei Höfe sind aber Heimstätten selbständiger Charakterentwicklung. Angesichts des niedersächsischen Hofes schrieb Justus Möser: Alle Verfassungen freier Nationen haben ihren Ursprung in der häuslichen.


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