Wilhelm Raabe
Vom alten Proteus
Wilhelm Raabe

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Fünftes Kapitel.

Daß ein Geist Uh oder Huh schreit, ist nichts Unerhörtes, Ungewöhnliches; aber Rosas Geist, wiederum durch drei Mauern sich stürzend, stieß einen zwischen Üh und Eh die Mitte haltenden Laut aus, nur Geisterohren vernehmbar! Wir bitten demnach um den dumpferen, wenn auch lauteren Ton, wenn es uns beschieden sein sollte, einmal derartig in der Stille der Nacht angeächzt zu werden. Wir hören fein, und leider ist das nur in seltenen Fällen ein wünschenswertes, angenehmes Geschenk der Götter.

In einer vierten Wand sammelte sich die gute, aber nervenschwache Seele. Dann ging sie, etwas gefaßter, weiter um, und zwar um die Halbseite des Häuservierecks des Püterichshofes. Wie ein leiser Luftzug fuhr sie durch Stuben und Kammern, durch einen Teil der Magazine von Aldenberger und Kompanie, über Kaffeesäcke und Ölfässer, über die Bettchen schlafender Kinder und vorbei an den Betten der Eltern dieser Kinder. Jetzt kreuzte sie einen Korridor, der sich vor der Stubentür Hilarions hinzog; – noch einmal hielt sie inne, schwebte, suchte sich selber zu beruhigen. Mit einem letzten Entschluß führte sie ihr Vorhaben aus und – erschien dem jungen Assessor bei der Regierung!

Ein solcher jugendlicher Assessor mit der Aussicht, dereinst geheimer Rat zu werden, verliebt, geliebt, im geheimen verlobt und dazu mit ästhetischen Neigungen behaftet, ist eins der glückseligsten Geschöpfe in dieser Welt.

Je unglücklicher er sich fühlt, desto wohler ist ihm, und Hilarion fühlte sich in dieser Nacht, wo selbst zu allem übrigen noch die Geisterwelt ihre Hand segnend auf sein Haupt legen sollte, über alle Schilderung selig in seinem Elend.

Der Herr Assessor Abwarter malte ein wenig, und zwar ganz allerliebst Blumen- und Fruchtstücke mit flatternden Schmetterlingen und kriechenden Käfern in Wasserfarben. Der Herr Assessor trieb ein wenig Musik, und ein Pianino war vorhanden und stand aufgeklappt im bleichen Mondenstrahl. Man wollte wissen, daß der Herr Assessor Abwarter sich sogar dann und wann in seinen Bureaustunden mit den schönen Wissenschaften abgebe – daß er in seinen Nebenstunden dichte, wußte man ganz gewiß.

Hilarion war durchweg ein liebenswürdiger Mensch, ob er Aquarell malte, auf dem Flügel phantasierte, den Pegasus zügelte oder Protokoll führte. Rosas Geist hatte durchaus keinen Grund, sich vor ihm zu fürchten, zumal er ihn selbstverständlich vollständig angekleidet, wenn auch im Schlafrock, traf.

Wie hätte Hilarion schlafen können? In Tagen – und Nächten wie diese? – Noch nach fünfzigjähriger Dienstzeit, als geheimer Rat, Schwiegervater und Großvater hätte er's sich nicht vergeben.

Er saß natürlich wach in seinem Kämmerlein im Püterichshof, wie Ernesta in dem ihrigen in der Behausung ihrer Eltern, in der Villa Piepenschnieder.

Er aber verdichtete die Stunden, welche beide gute Kinder von Rechts wegen dem traumlosen Schlummer hätten widmen sollen!

Die Villa Piepenschnieder lag, wie wir angemerkt haben, im tiefsten nächtlichen Dunkel; der Püterichshof jedoch im Mondschein – wahrscheinlich eben der Poesie wegen; denn soviel das uns, den Protokollführer im gegenwärtigen Fall, angeht, so wissen wir uns ganz und gar unschuldig an der holden Beleuchtung; wir haben seit längerer Zeit unsere Arbeitsstunden in den hellen Tag, zwischen das Frühstück und das Mittagsessen verlegt. Wir machen seit längeren Jahren keinen Anspruch mehr darauf, poetisch zu sein.

Jeder Johanniswurm übertrifft uns in der Fähigkeit, sobald es dämmerig wird, sein Licht der Umgebung mitzuteilen. – –

Hilarion saß vor seinem Tisch beim Mondenschein und beim Scheine seiner Lampe. Er hielt in allen Dingen, soweit es seinen Mitteln möglich war, auf Zierlichkeit und Anmut in seinen Zubehörden. Er liebte nicht nur sein Ernestchen, sondern auch bronzene Briefbeschwerer, kristallene Tintenschalen, elegante Federhalter und feines Postpapier. Auch seine Akten hätte er am liebsten auf letzterem geschrieben; seine Liebesbriefe und seine Gedichte legte er immer in hübschester Handschrift darauf nieder. Wenn er dabei nicht an die Ewigkeit, die Unsterblichkeit dachte, so war auch das, wenigstens was die Gedichte betraf, ein hübscher Zug von ihm.

Augenblicklich schrieb er auf einem zart violett gefärbten Blatte, das heißt er starrte darüber weg und hinein in das bläuliche Silberlicht vor dem offenen Fenster. Fünf Minuten lang stand Rosas Geist hinter ihm und sah ihm über die Schulter, und dann – als der Assessor bei der Regierung seufzte, lächelte wehmütig Rosa von Krippen! zum ersten Mal seit Mitternacht, zum zweiten Mal, seitdem sie Innocentias Lithographie von der Schattenbrust losgeworden war.

So hätte Rosa von Krippen von ihrem Philibert – dem jetzigen Onkel Püterich – in der Zeit ihrer und seiner Jugend, in der Zeit ihrer beiderseitigen jungen Liebe angedichtet worden sein mögen! –

»Ja, dann wäre alles ganz anders gekommen!« hauchte diese verwunschene Mädchenseele, und ein neuer Schauer ob des dreißigjährigen Aufenthalts hinter der Tapete und in der naturhistorischen Gesellschaft lief ihr durch den Schatten, vom Wirbel zur Zehe. Ach, die erste Muse, die bei dem Onkel Püterich Gevatter steht, ist die unserige! –

Der Assessor Hilarion griff sich durch das lockige Haar und seufzte noch einmal. Zugleich wurde es ihm merkwürdig kühl im Rücken, er schob es auf das offene Fenster, und da er noch in diesem Moment keinen auf das Wort »Wunsch« passenden Reim fand, erhob er sich, um den Flügel zu schließen; – wir aber möchten jetzt Mondschein, Lampenschimmer, Blumenduft, Geisterhauch und Rheumatismus zu gleicher Zeit sein, um ihm, uns und unserem Publikum gerecht zu werden in dem Moment, als er sich wendete –

»Rosa von Krippen hieß ich im Leben!« sagte die Duftgestalt, die er an seiner Statt schemenhaft an seinem Platze in seinem Sessel vor seinem Schreibtische sitzen sah.

»Engel und Boten Gottes, steht uns bei!« hauchte der Assessor bei der Regierung.

»Mein eigen Schicksal sendet mich, guter Jüngling,« flüsterte die Erscheinung. »Ein Menschenalter haftete ich hin– nein, das Entsetzliche ist nicht auszusprechen! Dein Ohr würde das Furchtbare nicht tragen! und ich schweige!«

»Sprich – zu – mir! Sei du ein Geist des Segens, sei ein Kobold, aber – sprich zu mir!«

»Sie sprachen von dir heute genug drüben im Vorderhaus,« hauchte der Geist. »Sie haben Schlimmes – Arges mit dir im Sinn! mit dir und deiner Geliebten!«

»Der Onkel Püterich?« stammelte Hilarion, den kalten Schweiß von der Stirn wischend.

»Der Baron Philibert Püterich und sein Freund!«

»Sein Freund Magerstedt?«

Die Erscheinung ließ das Haupt sinken:

»Gehe zu Konstantins.«

»Zu Konstantins?!«

»Er leidet seit vorgestern an Zahnweh, und du wirst ihn morgen daheim in seiner Zelle treffen. Führe deine Braut mit dir zu ihm und sage ihm, ich habe euch gesendet.«

»Du?«

»Rosa von Krippen! Wundern wird er sich wohl ein wenig!«

»In seiner Zelle? Großer Gott, doch nicht vor dem ***tor, in der Provinzialstrafanstalt?«

»Tief – tief im Walde! Grüße ihn; sage ihm: dreißig Jahre habe Rosa von Krippen hinter der Tapete im Püterichshofe gesteckt und – sende dich, daß er dir helfe,« sprach die Erscheinung verblassend – immer mehr verschießend.

Er – Hilarion – wollte ein Wort sagen; aber da stand der Stuhl vor seinem Tische und seinem Manuskript wieder leer. Er riß die Uhr hervor, – sie mußte unbedingt richtig gehen! es war Eins in der Nacht. Wäre sie unrichtig gegangen, so hätte er sie unbedingt in Ermangelung der Sonne nach Rosas Geist stellen dürfen. – Er zog einen zweiten Sessel an den Tisch und saß nieder, die Uhr in der Hand behaltend; nicht um eine Präsidentenstelle hätte er den Platz einzunehmen gewagt, den sein Besuch eben verlassen hatte. Was das Zubettgehen anbetraf, so kam er gar nicht dazu, die Möglichkeit davon in den Sinn zu fassen, und wir geben ihm recht! selbst der abgehärtetste Staatsanwalt würde nach einer solchen Visite die Hosen anbehalten, ja die Stiefeln wieder angezogen haben.

Dem lyrischen Assessor war das Picken seiner Taschenuhr das einzige, was ihn innerhalb der Grenzen seiner fünf Sinne festhielt.

»Rosa von Krippen! Rosas Geist! – der Onkel Püterich – Konstantins – Herr von Magerstedt – Zahnweh seit drei Tagen! – dreißig Jahre hinter der Tapete. Konstantius! – Rosa von Krippen? – Wer war, wer ist Rosa von Krippen? Es war ein Traum, oder ich bekomme ein Nervenfieber! – Nein, es war kein Traum – ich habe das nicht gedichtet!«

Er überflog scheu mit schiefen Blicken das violette Blau von ferne, ohne es aufzunehmen:

»Da knie ich vor des Lebens höchstem Wunsch!«

Er schüttelte das Haupt:

»Keine Ahnung, keine Idee von Rosa von Krippen! – Wunsch! Wunsch?« und seltsamerweise fand er nun plötzlich den lange gesuchten Reim auf Wunsch.

»Punsch!« murmelte er und fügte sofort gellend hinzu: »Nein, nein, bei den unsterblichen Göttern nein und wieder nein! Gänzlich unanwendbar! Ganz außer aller Frage! Und was das andere – die holde Erscheinung– nein, und dreimal nein! Solch ein ätherisch Bild war nicht imstande, dem ruchlosen Gebräu des Kollegen Winkenthin zu entsteigen! Übrigens bin ich ja auch gestern abend vor zehn Uhr, vor der zweiten Bowle kummervoll aus der Gesellschaft fortgeschlichen und habe mein Stübchen aufgesucht! Ein Mensch in meiner Lage ist doch wahrlich nicht in der Stimmung, den frivolen Scherzen und den Witzen und Schnurren – indogermanischen Ursprungs natürlich – eines halben Dutzend durch geistiges Getränk belebter Meidinger, das heißt seiner besten guten Freunde, Geschmack abzugewinnen?! – Mein Kind! Mein Herz, meine Ernesta! O Gott, wenn es doch Morgen werden wollte, damit es doch wieder Abend werden könnte und ich sie am Gartengitter sprechen dürfte!«

Der erste dieser Wünsche ging bereits in Erfüllung. Der Himmel machte selbst den Reim darauf und färbte sich purpurrot im Osten. Die Sonne kam, stieg immer höher und fand zu einer außergewöhnlich frühen Stunde den jungen verstörten Rechtskundigen Hilarion in dem Zentralpolizeigebäude, allwo er sich, »plausible Gründe« anführend, bei dem Kollegen und Punschbrauer Winkenthin erkundigte, ob je eine Familie von Krippen in der Stadt existiert habe, und ob es möglich sei, daß vor dreißig Jahren ein weibliches Mitglied dieser Familie Rosa geheißen habe?

»Das wollen wir gleich heraus haben,« sprach der etwas überwacht dreinschauende Kollege. »So rasch makuliert die Sicherheitsbehörde ihre Akten nicht.«

Sie gingen dann beide ans Werk, suchten in den Büchern der Vergangenheit und kamen richtig zum Zweck.

Sie fanden sowohl die Familie wie das Fräulein; wir aber gestatten uns wehmütig und vollständig abgeführt die Bemerkung:

»Da bringe nun einmal einer heute noch einen Geist unter die Leute!«

Wir glaubten, wir hofften, mit Rosa hinter der Tapete schauerlich zu wirken, und wir machten uns nur der Polizei gegenüber lächerlich, und – wenn uns unsere Erfahrung nicht täuscht, nicht allein der Polizei gegenüber. Unser Gefühl freilich täuscht uns fröhlich weiter; und so halten wir uns an den uralten Trost, daß es dann und wann auch ein kleines Verdienst ist, sich mit Verständnis lächerlich zu machen, und daß alles Heroentum mit einer Wurzel auch da hinunterhängt.

Einen giftigeren, ärgerlicheren Freund als den Freund Magerstedt, da er am Sonntagmorgen im Frack bei dem Onkel Püterich erschien und diesen nicht imstande fand, den am gestrigen Nachmittag verabredeten Plan auszuführen, hatte der Püterichshof noch niemals gesehen.

Sein nächtlich Spukgesicht wagte der gute Onkel nicht als Entschuldigungsgrund geltend zu machen; seine körperliche Zerschlagenheit, sein gänzliches Unvermögen, heute einen verständigen Gedanken zu fassen, wollte aber der liebe Freund nicht gelten lassen.

»Finten und Flausen! nichts als Flausen und Finten!« zeterte der Herr von Magerstedt. »O ich kenne deine Art, Ausflüchte zu suchen und zu finden, du alter Wechselreiter. He, he, he, soll ich wirklich einmal an die Seifenblase deines guten Rufes – deines Kredits bei den Leuten mit dem Zeigefinger tippen? Ei, werden sie sich wundern in der Stadt und in der Villa Piepenschnieder, wenn ihnen das schillernde Ding vor der Nase zerspringt. Püterich, wenn ich jetzt allein eine Visite in der Villa mache, so ist es mit deiner Erbonkelei, dem besten Platz und Bissen bei Tische, dem weichen Rückenkissen, der Fußbank usw. usw. in alle Ewigkeit vorbei. Und wenn das Publikum Wind davon kriegt, wie du deinen Ruf in allen Regenbogenfarben aufgeblasen hast und wie's doch nur Seifenschaum war, so – gratuliere ich dir zu den angenehmen Zitationen usw., die dir das königliche Stadtgericht in den Briefkasten schieben wird.«

»O Magerstedt – sieh mich doch nur an, Magerstedt!«

»Mit höchstem Widerwillen tue ich das bereits seit einer halben Stunde, Püterich; und jetzt rede ich mein letztes Wort zu dir –«

Er kam nicht dazu, denn der Baron kniff plötzlich die Augen zu und sperrte den Mund auf, legte sich zurück in der Sofaecke und fingierte eine vollständige Bewußtlosigkeit höchst geschickt, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil er einer solchen in der Tat ziemlich nahe war.

Selbst die beste Natur hält's auf die Dauer nicht aus, daß alles auf sie eindringt, die Geisterwelt und die Körperlichkeit, und beide in der »eminentesten« Weise. Wir, zum Exempel, rühmen uns auch einer guten Natur; aber das längere Zusammensein mit diesen zwei ehrwürdigen Greisen halten wir gleichfalls nicht länger aus. Wir entfernen uns eiligst, tragen aber gottlob das Bewußtsein oder die Gewißheit mit uns fort, daß der Freund Magerstedt unsere kleine Ernesta heute noch nicht als Braut heimführt, und sie also auch morgen noch nicht als junge Frau in das idyllische Hinterstübchen mit der Aussicht in den Püterichshof hermetisch verschließen kann. Als die Dämmerung dieses Sonntags kam, suchte der Onkel Philibert nach dem Gesangbuche seiner seligen Mutter in seiner gerade nicht sehr reichhaltigen Bibliothek, und je dunkler es wurde, desto weniger vermochte er es, sich selbst zu überreden, daß er das verstaubte Buch mit den silbernen Beschlägen und Klammern nur des Scherzes wegen auf seinen Nachttisch gelegt habe.

Was Freund Magerstedt sich zur anmutigen Lektüre während der schlaflosen nächtlichen Stunden bereithielt, wissen wir, teilen es jedoch nicht mit. An den Orten, wo dieses interessieren würde, kennt man das doch schon.

 


 


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