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Epilog

Die Straße, die von Bastia gegen die Spitze von Korsika führt, schlängelt sich längs der Bergrücken dahin, welche das Meer beherrschen. Sie führt durch Dörfer, die sich in mäßig tiefen Tälern zusammendrängen und manchmal durch eine Spalte des Berghanges zum Strande hinabführen, zu den kleinen Fischerhäfen, die man dort » marines« nennt.

Die höchsten Punkte dieses herrlichen Weges befinden sich auf den Hochpässen, die von Osten nach Westen führen. In der Nähe von Sassorosso sieht man bis gegen das Meer, das den Süden Frankreichs umspült, und im Osten gegen das von Toskana, während sich im Westen der Insel eine tiefe Niederung befindet, die mit Weilern und Dörfern übersät ist. Das größte dieser Dörfer, Valetta, gab dem Tal seinen Namen. Ein fahrbarer Weg führt von Valetta nach Maorta. Dieser letztere Ort ist durch das Kloster der Bernhardinerinnen bekannt, das aus dem achtzehnten Jahrhundert stammt. Es sieht aus wie eine große Kaserne, aber die Kapelle, die in der Kaiserzeit errichtet wurde, gibt einen wunderbaren Ausblick auf das italienische Meer. Das Kloster ist von etwa zwei Dutzend Nonnen bewohnt. Die Ordensregeln sind nicht sehr streng, und die Inwohnerinnen führen keineswegs das Leben von Gefangenen. Der Zweck ihres Ordens gipfelt vor allem in Wohltätigkeit und Erziehung, und die französischen Gesetze, die auf eine Aufhebung der Klöster abzielten, konnten diesem Orden nichts anhaben. Man schickt den Nonnen aus dem Tal Valetta die Töchter wohlhabender Familien zur Erziehung, sie kommen den Bauern der umliegenden Dörfer zuhilfe, wenn sich eine Mißernte ergibt, und gerade durch die einsame Lage ist diesen Nonnen eine ziemlich große Freiheit gesichert.

 

Es war in der Kapelle von Maorta, daß einst Berthe Lorande und die Gräfin Anderny, an jener Wende im weiblichen Leben, die den Übergang vom Sommer zum Herbst bedeutet, eine seltsame Rührung verspürt hatten – bei dem Anblick zweier Nonnen, die vor dem Tabernakel beteten.

Es waren seit den Ereignissen, die wir schilderten, zwei Jahre vergangen. Von den Personen, die in unserer Erzählung eine Rolle gespielt hatten, waren einige zur alltäglichen Ordnung der Dinge zurückgekehrt. Ein Maurice de Gouillaux hatte endlich die reiche Amerikanerin geheiratet, nach der er so lange gespäht hatte. Jean de Trevoux war Kapitän geworden und kämpfte in Marokko. Albert Saulnois war Mitglied der französischen Akademie, vergaß auf seine Krankheit, auf seine einstige Leidenschaft für Berthe Lorande. Die Großfürstin Hilda hatte sich mit ihrem Gemahl ausgesöhnt und wurde unter strenger Obhut gehalten. Und was die Schiffbrüchigen betrifft, so hatte man sie allmählich vergessen. Wer sprach noch von dem Selbstmord einer Camille Engelmann? Wer erinnerte sich noch an Berthe Lorande, an Roger Vaugrenier, an Albine Anderny? In der Angst um den kommenden Tag hatte man gar keine Zeit, an die Vergangenheit zu denken, man hatte genug zu tun, um sich selbst zu wehren. Der Egoismus jedes einzelnen ließ das Mitleid verstummen, und mit dem Mitleid die Erinnerung ...

 

Im Mai dieses letzten Jahres, an einem heißen Nachmittag, klomm ein Wagen die Straße von Sassorosso gegen Maorta hinan. Darin saßen Albine und ihr Sohn. Albine, mit völlig weißem Haar, hatte sich die Schönheit ihres Gesichtes bewahrt; nur die müden Augen verrieten ihr Alter. Roger war völlig grau geworden.

Sie kamen von Valetta, wo sie sich sieben Monate früher niedergelassen hatten. Albine hatte mit dem Rest ihres väterlichen Erbteiles, nach dem Wunsche ihres Sohnes, in Valetta ein kleines Landgut gekauft. Roger war als Arzt tätig, und in seinen Mußestunden beschäftigte er sich mit seinen Studien.

Sie erreichten das Kloster gegen vier Uhr. Man führte sie in den Sprechsaal. Ihr Besuch war angekündigt. Die Schwester Monika – einst Berthe Lorande – hatte von der Oberin die Erlaubnis erhalten, die Besucher zu empfangen. Sie brauchten nicht lange zu warten. Und als sie in der Tür auftauchte, hatten Mutter und Sohn denselben Gedanken: »Sie hat sich nicht verändert!«

Es war noch immer Berthe Lorande, als Nonne gekleidet. Die Zeit und der erlittene Kummer hatten auf diesem Gesicht nicht die geringste Spur zurückgelassen. Es fehlte nur die Aureole, das flirrende Rothaar.

Wenn man früher den beiden Frauen eine solche Begegnung prophezeit hätte, so wäre ihnen dies wie der verstiegenste Widersinn erschienen. Und nichts konnte natürlicher, ruhiger, sozusagen bürgerlicher sein: ein Landarzt, der mit seiner Mutter in einem verlorenen Dorfe wohnt und einer Freundin, die den Schleier genommen hat, einen Besuch abstattet.

Die natürliche Beredsamkeit Berthes war nicht erloschen. Sie war gesprächig, sie lachte sogar. Aber was die beiden Besucher seltsam berührte, war das völlige Vergessen, das Schwester Monika hinsichtlich der Ereignisse, welche sich vor ihrem Eintritt ins Kloster abgespielt hatten, zur Schau trug. Und dies war so spontan, so ehrlich, daß es wahr sein mußte. »Der Zauber des Klosters hat gewirkt,« dachte Roger. Und Schwester Monika beschrieb das Glück ihres jetzigen Lebens, das Beten, das Fasten, die Kasteiungen.

»Ah, wenn man das beschreiben könnte!« rief sie ekstatisch. »Ich habe es versucht, aber als Pater Bonarmi, unser Beichtvater diese Prosa gelesen hatte, verbrannte er sie und verbot mir, hinfort auch nur eine Zeile zu schreiben.«

Dieses Geständnis war von einem fröhlichen, unschuldigen Lachen begleitet.

Aber dann gewahrten Mutter und Sohn, daß Berthe zwar alles vergessen hatte, was ihre eigene Vergangenheit betraf, aber nicht die ihrer Freunde.

»Und Ihr?« fragte sie.

Albine und Roger sahen einander an. Roger sagte:

»Wir haben den Frieden in diesen Bergen gesucht, und wir haben ihn gefunden.«

Er sagte nichts mehr, und Albine blieb stumm. Berthe begriff, daß weder Mutter noch Sohn die Tür der Vergangenheit öffnen wollten. Und in diesem Augenblick kamen die anderen Nonnen in den Saal, um die Besucher zu begrüßen, die Oberin, zwei italienische Novizen und eine belgische Dame.

Sie lobten Schwester Monika in begeisterter Weise. Die Oberin sagte:

»Sie hat in uns den Geist der Buße erneuert.«

Schwester Monika lächelte, mit dem reizenden und bescheidenen Lächeln, das sie früher zur Schau trug, als man ihre Romane lobte ...

Das alte Fuhrwerk rollte wiederum bergab, gegen Sassorosso. Mutter und Sohn waren in Nachdenken versunken.

Vielleicht verglichen sie ihr jetziges, ernstes und strenges Leben, in dem die Schuldige mit dem Unschuldigen zu büßen suchte, mit dem Büßersinn der Schwester Monika ...

»Roger?« murmelte Albine.

»Mutter?«

»Sieh doch ... den roten Widerschein der Sonne auf der Kapelle von Maorta!«

Die Maultiere gingen jetzt im Schritt, da eine Steigung begann. Die Kapelle tauchte vor ihren Blicken auf, ganz rosig, die Glasmalereien der Fenster wie in feuriger Lohe. Es war wie ein Widerschein der himmlischen Glut, die von der neuen Nonne dort oben entzündet worden war, welche in dem düsteren Kloster sich bestrebte, Gott zu erobern ... so wie sie früher die Männer erobern wollte ... unschuldig und kokett ...

 

Ende


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