Rudolf Presber
Der Rubin der Herzogin
Rudolf Presber

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Achtes Kapitel.

Tuu – tuuu – tuuuu –

»Was ist denn los?« Erich fuhr auf und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Er suchte seine Uhr auf dem Nachttisch. Was denn? Hier war ja keiner? . . . Offenbar war dies wieder ein Schiff und kein Hotel. Wie gestern auch. Und vorgestern. Richtig, er fuhr ja auf der See . . . Vor seiner Nase baumelte die Taschenuhr an der goldenen Kette aus dem Netz, in dem Brieftasche und Schlüssel wohlverwahrt lagen, und zeigte vier.

Tu – tuu – tuuu – –

Das war das Nebelhorn, jetzt wußte er's wieder. Und dies war die Kabine Nummer zwanzig der »Astarte«; und er war der Königlich Preußische Assessor Erich Eckardt, der leider einen kleinen Brummschädel hatte, und nicht der König von Cintra, den die Revolutionäre erst ganz sorgfältig mit blauen Bändern verschnürt, wie ein Wertpaket, und dann mit einer leeren Pommeryflasche um den Hals in den Kanal geworfen. Auch die merkwürdigen feuerspeienden Berge, die in lohender Reihe den Kanal säumten, waren alle nicht mehr da. Dieses alles, das Bebändern, Ertränken, Feuerspeien hatte offenbar nur im Traum stattgefunden.

Und der Traum wiederum, jetzt beim wohltuenden Waschen fiel's ihm wieder ein, war nur ein wirrer Tanz der Eindrücke vom »Kapitänsdiner« gestern abend, bei dem er den Pommery nicht geschont hatte. Die blauen Bänder, die waren vom Obersteward zur Erinnerung an die Damen verteilt worden und trugen alle in Goldbuchstaben den Namen »Astarte«. Und die feuerspeienden Berge? Ei ja, das waren die in blauroten Flämmchen lustig brennenden englischen Plumpuddings, die auf den breiten Händen der Stewards in munterer Polonäse in den plötzlich verdunkelten Saal tänzelten.

Langsam und sicher glitt das Schiff, nicht mehr eigensinnig stampfend, wie in der Biskaya, nicht mehr erschüttert, wie in den herrlich klaren Tagen auf dem Kanal. Ein leises Zittern, ein gleichmäßiges, heimliches Rauschen, das war alles, was auf die Fahrt deutete. Man war wohl schon in den Kanälen Hollands? Richtig, dort durch die Luke sah Erich in grauer Regenstimmung grünes, flaches Ufer.

Teufel auch! Am Ende hatte er verschlafen? Ging die Uhr falsch, landete man schon –? Nein, Amsterdam kann doch unmöglich mitten in einer Wiese liegen? Aber da oben bollerten schwere schlurfende Schritte über seinem Kopf – Matrosenstiefel. Wurde das Deck wieder mal gründlich abgewaschen? Eine Reinlichkeit zum Verzweifeln auf diesen Schiffen! Vielleicht trampelten diese Füße doch schon nach dem Anker? Unsinn! Die Ankerketten liefen doch nicht über dem Bootsdeck hin! . . . Und wenn nun gar der Trubel des Abschieds schon begonnen hatte, dann konnte er doch Bergemann nicht, wie er versprochen hatte, zur Seite sein, um Arthur Mücke, der sich endlich zeigen mußte, von trotzigen Dummheiten abzuhalten; konnte sich gar nicht richtig verabschieden von den Fahrtgenossen, vom Kapitän, den Stewards, der Musik, dem Friseur – und – – und – – – Na ja, und von Hilde.

»Arglistig Herz, du lügst dem ew'gen Licht – dich trieb des Abschieds reine Stimme nicht . . .« Ganz genau so hieß es wohl nicht in der »Jungfrau von Orleans«. Aber Zitate sind überhaupt nur zur Hand des Gebildeten, wenn – – Wenn nur seine Stiefel auch zur Hand gewesen wären!

Endlich war er fertig und stürmte hinaus. Im Treppenhaus traf er Beppo, in blendend weißer Jacke und pressiert wie immer. Er hatte eben schon den Kapitän rasiert.

»Legen wir schon an?«

»Aber nein.« Die ganze mitleidige Überlegenheit des Vielgereisten spiegelte sich in Beppos Lächeln. »Drei Stunden noch fahren wir im Kanal.«

Erich konstatierte, daß man sich das alles anders denkt so in der Schule und vor dem Atlas. Da liegt das alles hübsch übersichtlich und ganz dicht am Meer – Hamburg und Amsterdam und Bremen. Und wenn man nachher hinkommt, nach Hamburg oder Amsterdam oder Bremen, dann ist man noch lange nicht am Meer. Und so geht's vielleicht mit dem Glück und mit der Liebe und solchen schönen Dingen auch. Was die sehr gescheit darüber Redenden nicht immer wissen oder Wort haben wollen. Aber . . .

Oh, wie sonderbar das war! Alles – alles verändert! Er stand auf den vom milden Regen der Nacht oder vom Nebel noch feuchten Planken des Bootsdecks. Das schöne, saubere, unruhige Meer war verschwunden, eingesogen, versickert. Ein schmales Wasserband nur war übriggeblieben. Auf glattem, grauem Kanal schob sich die »Astarte« langsam vorwärts, als ob sie sich einbohren wollte ins endlos sich dehnende grüne Land.

Ein kleiner Schlepper, wichtig keuchend, schleppt drei dunkle Lastkähne mit Hunderten von aufgestapelten Fässern vorbei. Müde hängen die feuchten Wimpel an den Stangen. Saftig grüne Wiesenflächen breiten sich rechts und links. Schönes starkes Vieh, gefleckte Kühe stehen und liegen drin herum, mustern die Landschaft, bringen Farbflecken und Leben hinein. In der Ferne tauchen rötlich schimmernd kleine Dörfer auf und dunkle Wäldchen, wie Wälle von Stein und Laub. Windmühlen strecken ihre starren Arme in den grauen Himmel. Blonde Kinder, die nackten Füße in weiten Holzpantinen, springen am Ufer herum. Auf einem Fußpfad ziehen Schüler, die Mappen im Arm, die Mützen im Genick. Aus einem Fischerkahn kramen bärtige Fischer, den Lederhut tief in den Nacken gedrückt, die beuteschweren Netze aus. Einen Augenblick schauen sie auf und tauschen ein Wort; dann gehen sie wieder an die Arbeit, und die silbrigen Schuppen des Fangs leuchten auf unter ihren braunen Fingern. In eintönigem Grau wölbt sich der Morgenhimmel des Junitages über Wiesen und Dörfer und Mühlen von Holland.

Ein paar Möwen kommen hinter dem Schiff her, fliegen wiegend, spähend, tief und ohne Scheu. Erich glaubt den Schwung ihrer weißschimmernden Flügel zu hören.

Von unten her, vom Promenadendeck ein anschwellendes Stimmengewirr, das in die feierliche Stille der Frühe schneidet. Deutsch, Englisch, Ungarisch – und jetzt ein andres dazwischen. Dunkle Männerstimmen, gleichmäßig ohne Leidenschaft redend in einer Sprache, die an Onkel Bräsig erinnert in ihrer gekauten Breite.

Erich beugt sich über das Geländer, um die fremdredenden Leute zu sehen. Drei gebräunte Männer, ein Wohlgenährter, dem unterm spiegelnden Gummimantel der Bauchspitz wie ein Vorgebirge vorsteht, und zwei dürre, sehnige, mit blanken Knöpfen am Rock, stehen da rauchend zusammen. Fadblonde hängende Schnurrbärte geben den unbeweglichen Gesichtern unter den zerbeulten Mützen etwas Seehundartiges.

»Es sind die holländischen Zollbeamten«, sagt plötzlich eine Stimme dicht neben Erich. »Sind mit dem Lotsen gekommen. Sie fahren mit bis Amsterdam. Die Zollrevision ist auf dem Schiff.«

Erich sieht erstaunt in Hildes fröhliches Gesicht, das von einer leichten Röte überflammt ist. Oder ist es ein Widerschein der Sonne, die jetzt dort im Osten gegen den Dunst kämpft?

»Guten Morgen, Herr Doktor – Sie haben sich doch gerade überlegt, was das für neue Erscheinungen sind, nicht wahr?«

»Sie können Gedanken lesen, Fräulein Hilde! Übrigens, weil Sie's können, sagen Sie mir vielleicht auch gleich, was ich jetzt denke, indem ich Sie ansehe.«

»Sie denken, daß ich hier sehr überflüssig bin, und daß ich Sie störe in Ihrem ersten Zwiegespräch mit Holland.«

»Falsch. Ich habe – ich bin nämlich im Grund meiner Seele doch ein bißchen abergläubisch – habe mich über das gute Omen gefreut. Habe gedacht: die erste Person an dem Tag, an dem wir von unserm lieben Schiff wieder ans Land müssen, zurück ins Gewühl der staubigen Städte, des lärmenden Alltags, des nicht gerade vermißten Berufs, ist ein hübsches Mädchen.«

Sie lachte schalkhaft: »Das wird Beppo Marlettino noch gar nicht gewußt haben, daß er ein hübsches Mädchen ist . . . Denn mit ihm haben Sie doch gerade vorhin . . .«

»So, das haben Sie auch gehört?«

»Bei der Stille auf dem Kanal – und der guten Akustik. Ich war gerade von meinem einen Patienten unterwegs zu meinem andern.«

»Richtig, ja. Sie haben ja Herrn Reubke und Herrn Mücke diese Tage betreut. Ich hätte wohl auch ein bißchen krank werden müssen, Sie mal wiederzusehen?«

»Wer weiß, ob ich da nicht zusammengebrochen wäre – bei so viel ›schweren‹ Patienten!«

»Na, dann bleib' ich lieber gesund. Übrigens, wie geht's denn den beiden Unglückswürmern?«

»Deshalb wollt' ich grad mit Ihnen sprechen, Herr Doktor. Nämlich – Herr von Reubke ist ja so weit wieder auf dem Damm. So bei den Feuerschiffen wurde ihm rasch besser. Die Gewißheit, daß nun die See hinter ihm liegt für lange, hat Wunder gewirkt. Er steht eben auf. Ächzt, schimpft, sieht noch ein bissel schlecht aus – na, es hat ihn ja gehörig gehabt; die ganz plötzlichen Attacken sind die schlimmsten. Aber nun schämt er sich, glaub' ich, sehr; und es wäre gut, wenn da ein redegewandter Herr ihn ein bißchen stützte, aufrichtete. Sie wissen – ich sollte das ja nicht merken, aber lieber Gott, es war doch nicht zu übersehen – er hat Frau Schuch heftig den Hof gemacht und vielleicht auch gehofft, daß sie . . . Da war's nun eine böse Geschichte, daß er gerade in ihrer Kabine . . . Sie hat doch die Unbequemlichkeit des Umziehens gehabt. Und dann – ein wenig lächerlich ist's doch auch gewesen, daß er nun drei volle Tage wie ein Stein . . .«

»Ausgerechnet – in ihrer Kabine!« Erich lachte vergnügt. »Allerdings für eine Werbung keine besonders genußreiche Ouvertüre.« Erichs Auge hatte auf der silbernen Marguerite geruht, die Hilde heut', wie immer, als einzigen Schmuck trug. Die Blume schien ihm so gut zu der Schlichtheit ihres hübschen Mädchenkopfes zu passen, und der Gedanke durchzuckte ihn, daß er bald wieder nach Padua fahren müsse, nach S. Giustina, um nachzusehen, ob nicht die Heilige dort mit den feingeführten dunklen Augenbrauen, mit dem krausen, fast schwarzen Haar unterm schmalen Gold des runden Heiligenscheins auch eine Marguerite an der Brust oder in der Hand trage. Oder stand die Landschaft hinter ihr voller Margueriten, voller Margueriten . . . Er wollte nachsehen in Padua – aber nicht allein. Nein, nicht allein!

»Ich glaube. Sie hören mich gar nicht, Herr Doktor?«

»Doch, doch.«

»Nein, ich habs an Ihren Augen gesehen. Sie waren woanders.«

»Nun ja, ich war in Padua. Kennen Sie Padua?«

Hilde lachte. »Nur aus dem ›Faust‹. Der Gatte der Frau Marthe liegt ja dort begraben – beim heiligen Antonius. Aber dort gewesen? Sie verwechseln mich mit einer Vanderbilt. Was ich gesehen habe von der Welt, hab' ich von diesem Schiff aus gesehn, auf dem ich Stewardeß bin. Das heißt . . .« Sie zögerte einen Augenblick, dann, als sie wieder sprach, zitterte die Stimme ein wenig, und sie sah an ihm vorbei über den Kanal nach der Windmühle. »Sevilla hab' ich erlebt, die Murillos. Und die hab' ich nicht als Stewardeß gesehen, wie ich sonst wohl die Häfen und Sternennächte entdeckt habe, so mit einem halben Blick hinterm Rücken einer Lady, die ich dabei bedienen mußte. Die haben Sie mir gezeigt und erklärt – und ich werd's Ihnen nie vergessen, daß Sie das getan haben, nie. Es war, als ob mein Vater noch einmal heraufgestiegen wär', und doch – natürlich – es war viel besser und gescheiter . . .«

»Liebes Fräulein – ein Vater ist immer das Gescheiteste, was wir haben. Da kommt später nie mehr einer mit. Meinen hab' ich zu früh verloren . . . aber eine gescheite und liebe Mutter hab' ich – – und die hat mir jüngst, in Lissabon bekam ich den Brief, sehr betrübt geschrieben, daß ich ihr noch immer kein Töchterchen ins Haus bringe.«

»Das sollten Sie aber auch wirklich tun, Herr Doktor.« Hilde sprach mit schönem Eifer; man hörte, sie hatte über die Sache nachgedacht. »Wenn ein Mann wie Sie, der so . . . freundlich ist und so . . . so . . . so ein Kavalier, und der so gut mit Kindern ist . . .«

»Woher wissen Sie denn das?«

»Weil Sie der einzige waren, der das verzogene Fritzchen nicht gepufft hat, wenn die Mutter nicht hinsah.«

»Das nenn' ich beobachten . . . Nun also, was ist mit mir, wenn . . .«

»Wenn der nicht heiratet, mein' ich . . . und das nur den Reubkes und den Mückes überläßt . . . Ach, du lieber Gott, Mücke! Da red' ich und vergesse ganz . . . des Herrn Mücke wegen bin ich Ihnen ja nachgegangen. Also – der Herr führt so sonderbare Reden. Sein Onkel, sagt er . . .«

»Ja, wissen Sie denn . . .?« Erich ärgerte sich, daß er jetzt von Mücke sprechen sollte; es hatte das durchaus nicht in seiner Absicht gelegen. Aber da Hilde nun plötzlich Bergemann als Onkel erwähnte, überwog die Verblüffung seinen Ärger.

»Der Doktor Lux hat geschwatzt nach dem Kapitänsdiner. Er kann nicht viel Sekt vertragen. Daher wissen's die andern . . . Ich glaub', sogar schon die Douaniers da unten sind orientiert. Aber mir – mir hat er's selbst gesagt, der Herr Mücke. Am letzten Abend im Kanal, als er von der dumpfen Luft da unten – er ist ja bis heute nicht aus der Kabine herausgekrochen – den Anfall bekam.«

»Und jetzt ist er heraus? Wegen der Verzollung?«

»Nein, das Verzollen hat er den Georg machen lassen, den Irländer, der hat ihm auch seine Sachen zusammengepackt. Aber er führt solche Reden . . . ja, wie soll ich das wiederholen – unsichere Reden und undeutliche – aber ich meine ..«

»Sie meinen Drohungen?«

»Nicht gerade – aber . . .«

»Und Sie glauben, das Gerede zielt auf mich?«

»Ja. Er sagt, es kann sich doch vielleicht herausstellen, daß sein Onkel – sich irrt. Und daß der harmlose Sanitätsrat manchem sein Vertrauen schenkt, der . . . nun, der's nicht verdient . . .«

»Aha. Und der mancher bin ich.«

»Ich glaube. Und man solle nicht alle an Land verschwinden lassen, sagt er, so ohne weiteres. Und er wird sich's noch überlegen, ob er da nicht einschreitet, oder so.«

»Ich weiß Bescheid. Hm. Sie aber, Fräulein Hilde, Sie haben sich, wie's scheint, nicht irremachen lassen – ich meine . . . an mir irre?«

Hilde sah ihn voll an aus ihren dunklen ehrlichen Augen. Dank und Vertrauen lagen in ihrem Glanz. Und sie sagte ganz langsam: »Aber nein. Ich habe doch mit Ihnen vor den Murillos gestanden!«

»Ja, da haben wir zusammen gestanden – vor der Liebe des Himmels. Und durch den aufgeregten Hafen in Kadiz sind wir zusammen gefahren, nicht wahr – Schulter an Schulter. Was brauchen Sie da rot zu werden . . . Ich dank' Ihnen.« Er faßte ihre Hand.

»Nicht doch –!« Hilde entzog ihm rasch ihre kühle, weiche Hand. »Es kommt ja jemand.«

Erich sah sich ärgerlich um.

Adam Balzer schlich sich mit aufgeschlagenem Rockkragen zu seinem geliebten Instrument in der Glasveranda. Dem kleinen Exkapellmeister war in der Nacht eine herrliche Idee gekommen, eine musikalische und eine menschliche Idee. Er wollte eine Meersonate schreiben – Opus 2 – und sie dem Kapitän Jürgens widmen zum Dank, daß er ihn mitgenommen bis hierher.

Leise die ersten Takte dieses, wie ihm schien, wundervollen Musikstückes vor sich hinsummend, trat Balzer in die Veranda. Er hatte, ganz in seine Schöpfergedanken gehüllt, die beiden nicht gesehen.

»Sie sollten mit ihm reden . . .« flüsterte Hilde rasch.

»Mit Balzer?«

»Aber nein. Mit Herrn Mücke. Sie werden ihn irgendwo finden, wo's einsam ist. Dem Trubel des Abschieds da unten weicht er sicher aus. Sprechen Sie sich mit ihm aus, damit es nicht irgendeinen dummen Skandal gibt nachher beim Anlegen. Er ist jung, wissen Sie, vorwitzig, eitel. Ist wie ein Windhund, ohne Appell, aber keine schlechte Rasse.«

»Sieh' einer das Köpfchen und die guten Augen drin! Aber das werd' ich Bergemann wörtlich wiederholen: ›ohne Appell, aber keine schlechte Rasse‹, das wird dem alten Herrn wohl tun.«

»So – und nun hab' ich alles gesagt, was ich auf dem Herzen hatte. Sie sind mir nicht böse, nicht wahr –? Ich meine, weil ich mich eigentlich in Dinge mische, die mich nichts angehen. Und – Herr Doktor, für den Fall, daß ich Sie nicht wiedersehe . . .«

»Wir sehen uns wieder.«

»Das kann man nie wissen auf so einem Schiff . . . Meine Patienten sind gesund – aber nun brauchen mich die Damen.«

»Wir sehen uns wieder, Fräulein Hilde. Auf dem Schiff und – in San Giustina.«

Sie hatte das warme Gefühl, daß er ihr mit diesem Wort etwas sehr Freundliches sagen wollte. Aber sie hatte keine Ahnung, wo S. Giustina lag. Sie wußte nur, daß sie nun nicht mehr bleiben durfte.

»Leben Sie recht wohl, Herr Doktor. Und frohe Heimkehr!«

Erich folgte der rasch Enteilenden ganz langsam. Etwas jungenhaft Frohes lag um seinen Mund. Wenn ich jetzt ein Dichter wäre, dachte er, so würde ich ein sehr schönes Gedicht machen: »Mein Herz gleicht der Biskaya . . .« Wobei ich wahrscheinlich Schwierigkeiten hätte, auf die Biskaya zu reimen. Da ich aber kein Dichter bin, sag' ich mir einfach: Ich liebe das Mädel. Und da ich erlebt habe, was ich erlebt habe im Abtzimmer des Gasthofs zum Roß, und so schön ins klare mit mir gekommen bin auf dem großen, freien Meer, so werd' ich sie heiraten. Und daß in diesem Augenblick die streitbare Sonne dort die Nebel mit goldenen Lanzen durchbricht und die Kinder am Ufer ihre Mützen schwenken und ein paar gefleckte Ochsen entsetzt über die grüne, nasse Wiese davonlaufen – das ist alles ganz in der Ordnung. Ist fein und symbolisch. Denn auch dieses wird sich genau so begeben. Die Sonne, die Kinder, die Ochsen . . . Und mit der Absicht, Mücke zu suchen, und nach der Aussprache mit diesem wunderlichen Jüngling – Bergemann, stieg Erich zuversichtlich, den »Jungfernkranz« pfeifend, aufs Promenadendeck hinunter . . .

Das Schicksal hat seine Launen. Der Zufall macht seine Witze. Zur selben Zeit, da Erich die Treppe links hinunterstieg, erklomm Arthur Mücke auf der Treppe rechts das Brückendeck.

Er war nicht ganz mit der Sorgfalt gekleidet wie sonst. Aber seine Züge waren gestraffter, intelligenter als früher. Seinem Auge fehlte das Monokel, seinem Gang die Affektiertheit. Er stieg die Stufen, wie ein Mensch, der eine Krankheit noch nicht ganz abgeschüttelt und den eine Scheu abhält, sich in das Gewühl der Mitwelt zu stürzen.

Die frische Luft tat seiner Stirn wohl. Er nahm die karierte Mütze ab und ließ den Wind über die Haarstoppeln streichen. Das friedliche Bild der flachen, grünen Landschaft, die jetzt im Schein der sieghaften Sonne lag, beruhigte seine Nerven. – Aha, dachte er, die Windmühlen – Holland! Delfter Porzellan fiel ihm ein. Die Mutter hatte ein kleines Döschen gehabt mit einer Windmühle drauf. Als Kind hatte er damit gespielt.

Hier oben war kein Mensch. Doch einer, der kleine Kapellmeister in der Veranda. Der saß versonnen, versunken und komponierte. Musik beruhigte, gab Mut. Das konnte Mückes Gedanken, seinen Entschlüssen, die er nun endgültig fassen mußte, nur förderlich sein. Er klinkte leise die Tür auf und trat ein.

Balzer hörte ihn nicht. Seine blassen Hände fuhren bald zögernd, bald energischer über die Tasten. Das Meer mußte zuerst still sein – am Anfang seiner Komposition – Hafenstille. Ein paar Akkorde in Moll. Dann war das rasch aufziehende Wetter zu schildern. Zwischen den Säulen des Herkules etwa – das Land in Sicht – Allegro vivace – Klippengefahr. Die entsetzten Passagiere hadern mit dem Schicksal – Viervierteltakt Allegro con fuoco. Und auf der Kommandobrücke steht der Kapitän. Wie ein Bronzebild – ganz Wille, ganz Energie, ganz Kraft, ganz Sieg über die Elemente. Das Motiv dachte er sich so: fünf Takte in A-Moll . . . Und, das wollte er ihm erklären, dem Kapitän, wenn er ihm das Manuskript überreichte – das mußte nachher noch rasch geschrieben werden. Und dann, ja, dann wollte er ihm sagen: »Herr Kapitän – ich habe das nicht vergessen, wie gütig Sie mit mir waren, damals in der Sternennacht hinter Malaga, als mich das gräßliche Heimweh bald fressen wollte. Und man kann ein schlechter Musikant sein, Herr Kapitän,« wollte er sagen, »oder doch kein guter Kapellmeister, aber ein anständiger Mensch. Und weil ich das bin und bleiben will, möcht' ich Ihnen zum Dank zwei Kleinigkeiten schenken – weisen Sie sie nicht zurück, Herr Kapitän! – diese Komposition: ›Meerfahrt‹, dem hochverehrten Kapitän der ›Astarte‹, Herrn Bruno Jürgens, in Dankbarkeit gewidmet von Adam Balzer, Kapellmeister aus Nordhausen.« Nein, den »Kapellmeister« wollte er lieber weglassen. Nordhausen auch. Der Titel erinnerte an unerfüllte Hoffnungen, an des »Negers Traum« und eine peinliche Aussprache in der Kapitänskajüte. Und Nordhausen hatte mit dem Meer nichts zu tun. Also nur: »Von Adam Balzer« . . . Und dann das andre bescheidene Geschenk – den Ring mit dem roten Stein, den ihm die Häfeles geschenkt hatten, ehe sie in Kadiz das Schiff verließen, um auf dem Landweg über Paris heimzufahren. Den Ring, der nun einmal – ob kostbar oder nicht – so gar nicht zu seinem abgetragenen Anzug paßte, und den er als fürstliches Geschenk für eine Lebensrettung erhalten, die – sich selber durft' er's ja gestehn – nichts andres gewesen als die Flucht und das Entsetzen vor einem durchgehenden Esel. Allein und von allen nach seinem Sturz gemieden, nicht Passagier und nicht Angestellter, hatte der kleine Kapellmeister keine Ahnung, daß ein Ring wie dieser von der schönen, kleinen Hand der Frau Tilly Schuch verschwunden war und seit Malaga gesucht wurde. Wußte so wenig von diesem Verlust wie die Häfeles, die nur ihre Liebe beschäftigte, davon geahnt hatten. Nichts wußte er von diesem Ring, als daß er viel zu funkelnd, zu glanzvoll, zu vornehm war für den kleinen Musiker, der das Hungern und das Dirigieren wohl noch lernen mußte . . . Einmal hatte er ihn doch tragen wollen, den unverdienten, herrlichen Ring. Einmal sich daran erfreuen. Und dem Kapitän wollte er's sagen, daß er mit diesem Ring am Zeigefinger – für den Ringfinger war er ihm zu weit – die ihm gewidmete »Meerfahrt« oben in der Glasveranda komponiert.

»Sie erlauben . . .« sagte Mücke leise und höflich, indem er sich einen Rohrstuhl nahe an das Instrument zog.

Balzer erlaubte. Das heißt, er hatte Mücke gar nicht bemerkt. Mit halbgeschlossenen Augen phantasierte der weltentrückte Tondichter. Jetzt kam der Höhepunkt des Sturmes . . . Ha! – in der Entfernung sah man Nachen scheitern . . . mit zerrissenen Segeln spielte der Wind . . . und wieder: stark, fest, zuversichtlich – das Kapitänsmotiv . . .

Mit beiden Händen hieb er's in die Tasten.

Man kann nicht sagen, daß diese Musik beruhigt, dachte Mücke. Was spielt der merkwürdige Mann bloß? Es ist, als ob er irrsinnig wäre.

Und er sah Balzer nach den Fingern –

In diesem Augenblick glaubte Mücke, der Schlag treffe ihn.

Der Ring – der Ring! . . . Wie ein blutrotes Auge, höhnisch, teuflisch, grinste ihn vom knochigen Zeigefinger der ovale Rubin an. Das war ja schon wieder der Ring der Herzogin! War derselbe, den in jener hellen Nacht in Granada der Assessor heimlich im Mondschein an seiner Hand bewunderte auf dem Balkon. Derselbe Ring, der auf hoher See im Schatten der Rettungsboote an dem Finger Anna Häfeles aufleuchtete. Und nun gar noch einmal der Ring an der knochigen Hand dieses armen Teufels!

Also das mußten subjektive Wahnvorstellungen sein, Gesichtshalluzinationen. Dieser Ring konnte doch kein wirklicher Ring sein, nicht Gold und Stein. Wie käme der Musikant, der kein Geld hatte für die Heimfahrt vierter Klasse zu Lande, wohl zu solchem Schmuckstück!

Mücke sprang auf. Er kümmerte sich nicht darum, daß sein Stuhl umfiel, daß irgend etwas hinter ihm in Scherben klirrte, daß Balzer, zu Tod erschreckt vom Klavierstuhl springend, laut aufschrie.

Wie besessen lief Mücke davon.

Hart an der Treppe stieß er auf Erich, der ihn unten vergeblich gesucht hatte, bis ihm der Irländer verraten, daß Mücke aufs Bootsdeck gestiegen sei.

»Herr Mücke,« Erichs Stimme war sehr freundlich, als er höflich grüßend an den Mützenrand griff, »ich glaube, Sie wollten mit mir etwas besprechen . . .«

»Nein, bitte, nein!« Mücke wehrte hastig ab, als gelte es, eine drohende Christenverfolgung abzuwenden. »Ich bespreche gar nichts mehr! Sie sind ein Ehrenmann – die Häfeles sind Ehrenleute – Balzer ist ein Ehrenmann – – ich gebe jedem von Ihnen jede Erklärung ab, die Sie wünschen. Ich bin umsonst am Leben geblieben! Ich war ein Narr in Granada auf dem Balkon! Ich sehe leuchtende Steine, wie andre mouches volantes. Ich kann Ihnen nicht erzählen, was ich erlebt habe und was mich so verwirrt – aber ich will jeden Eid schwören: in Tausendundeiner Nacht kann's auch nicht verrückter zugehn!«

Damit stürmte er grüßend an Erich vorbei und die Treppe hinab. Der sah ihm mit großem Erstaunen nach und dachte, daß die schönen arabischen Märchen aus Tausendundeiner Nacht zwar der Wunder voll sind, aber doch wesentlich klarer als die überstürzte Ansprache des auferstandenen Gents, die er soeben gehört.

Er hoffte, von Balzer einige Aufklärungen erhalten zu können, der gerade, echauffiert, wie es schien, mit den Händen fuchtelnd, aus der Veranda heraustrat.

»Was ist denn eigentlich los mit . . .?«

Aber der kleine Kapellmeister, der sich an allen Nerven aus seiner Tondichtung in die rauhe Wirklichkeit gerissen fühlte, weinte fast, als er hervorstieß: »Mitten im Sturm bin ich gewesen . . . das heißt, verstehen Sie, das Kapitänsmotiv hatte ich schon – auf der Brücke stand er – Bronze, Eisen, Stein. So steht er . . . im Klang, verstehn Sie – da fällt ein Stuhl um – verstehen Sie – und dann die Scheibe . . . Und wenn ich damals nicht unter den Esel gekommen wäre, dann wäre das alles nicht! Aber unsereiner soll keine Juwelen tragen bei der Arbeit . . . Das ist Frevel. Abgetretene Stiefel und Edelsteine, das geht nicht! . . . Und jetzt find' mir einer das Adagio wieder – das Adagio!« Rührung über sein Schicksal oder Zerknirschung über den Frevel ließen ihn nicht weiterreden. Tränen schluckend und mit den Schultern zuckend, entfernte er sich.

Wenn ich jetzt noch einen derartigen Dialog führe, bin ich auch verrückt, dachte Erich.

Er zwang sich eine Weile, den Blick auf das landschaftliche Bild zu heften. Es ist gut, wenn man in solchen Augenblicken in Holland ist. Der Niagara, der Himalaja, ja selbst der Dönhoffsplatz würden die Verwirrung mehren, vertiefen, unheilbar machen. Aber diese grünen Flächen – diese Wiesen, Windmühlen, Kühe, wie das beruhigt, befriedigt! Man muß Holland dankbar sein, weil es so grün und sanft hingestrichen ist auf dem sonst so aufgeregten Globus.

Dann beschloß er, Bergemann zu suchen, um dem zunächst einmal von dem bedenklichen Geistes- und Gemütszustand seines Neffen schonend Kunde zu geben . . .

. . . Während sich dieses, unbemerkt von all den vom nahenden Abschied erregten Passagieren, die unten das Promenadendeck füllten, oben auf Bootsdeck begab, schlang sich Kreuzwendedich von Reubke mit etwas unsicheren, blassen Händen vor dem Spiegel der Kabine, die bis zur Biskaya von der von ihm verehrten Tilly Schuch bewohnt war, die frühlingsgrüne Foulardkrawatte. Hilde hatte sie ihrem Patienten aus seinem nicht ärmlichen Vorrat ausgesucht und mit der Wäsche und den Kleidern säuberlich zurechtgelegt. »Blau – Herr von Reubke – ist die Meerfarbe,« hatte sie munter gesagt, »die hat nun ausregiert. Ein Kavalier muß immer mit der Zeit und mit der Situation gehen. Grün ist der Frühling, und grün ist das Land, an das wir jetzt steigen. Sie wenigstens.«

Nun ja, er wenigstens stieg ans Land. Er hätte viel lieber irgend etwas andres getan. Zum Beispiel Opium geraucht oder sich in ein Flugschiff gesetzt, um unmittelbar nach Deutschland zu steuern, ohne all diesen Gesichtern wieder zu begegnen. Diesen Menschen, die wußten um seine unqualifizierbare Aufführung, um die schmachbedeckten drei letzten Tage seines in des Wortes wörtlichstem Sinn aus der Balance gekommenen Lebens.

Das Spiel um Tilly Schuch hatte er natürlich glatt verloren. Wenn auch noch keine Kunde von Schwammerls offizieller Verlobung zu ihm gedrungen war, so hatte ihm Kloppenbusch, der ihm in aller Frühe heute im Gehrock einen feierlichen Abschieds- und Krankenbesuch gemacht hatte, doch mitgeteilt, daß sich gestern abend im verdunkelten Musikzimmer ein Herr und eine Dame geküßt und bei seinem Nahen erschreckt entfernt hätten. Er habe erst die Vermutung genährt, es handle sich um Mister Hobsen und das nette Fräulein Agnes aus der Fröbelschule. Dieses sei aber nicht möglich, da er dieses letztgenannte Paar – unmittelbar nach dem Abenteuer im Musikzimmer – hinter dem Rauchzimmer in derselben Situation getroffen habe. Und der kurze Aufschrei des Fräuleins sei dann ein ganz andrer gewesen als der kurze Aufschrei der Dame im lichtlosen Musikzimmer. Auch habe er eben, als er an der Kabine Schwammerls vorüberging, der noch – wohl angenehm träumend – im Schlafe lag, an dem vor der Tür zur Reinigung hängenden Smoking neben der edelweißverzierten Schleife eines österreichischen Alpenvereins, die auf der See keinen rechten Sinn habe, ein Frauenhaar bemerkt. Ein langes, goldblondes Frauenhaar! Reubke war so wütend geworden, wie es sein immer noch der Schonung bedürftiger Zustand irgend erlaubte. Kloppenbusch hatte ihn etwas eigenartig zu trösten versucht, indem er ihm berichtete, er habe einmal, da ihn alles, was Liebe anbetreffe, früher – früher! – lebhaft interessiert, ein schönes Buch über »Minnedienst« gelesen. »Minne« aber sei so viel wie Liebe, wie Reubke vielleicht wisse; oder doch eine besondere, gewissermaßen eine mittelalterliche Abart dieser vielverbreiteten herzlichen Empfindung. Und in diesem Buche habe nun gestanden, daß es dem solchen Minnedienst verrichtenden Ritter durchaus nicht darauf angekommen sei, die angebetete Dame wirklich, was man so sage, zu besitzen. Im Gegenteil, sie sei meist die eheliche Frau eines andern gewesen und habe in einigen Fällen diesem andern immerzu gesunde Kinder geschenkt, ohne daß durch diese freudigen Familienereignisse der aufreibende Minnedienst ihres Ritters eine Unterbrechung oder eine Abschwächung erfahren habe. Einer dieser Ritter – er glaube, es sei ein Herr von Lichtenstein gewesen, der sich darüber auch poetisch ausgesprochen – habe als höchste Gunst erfleht, ein von seiner Dame bereits mehrfach getragenes Hemdlein über den Panzer zum Turnier anlegen zu dürfen. Ein andrer – den Namen wisse er nicht mehr, aber er habe auch so einen verdammt adeligen Vornamen gehabt, wie Kreuzwendedich – habe es durch ausdauernde Minne als Huldbeweis ertrotzt, daß er einmal in einem Bettlein liegen durfte, das kurz vorher seine angebetete Dame zur Nachtruhe benutzt hatte. Er, Kloppenbusch, freue sich nun, sagen zu können, daß die Ähnlichkeit, ja man könne sagen, Übereinstimmung jener sogenannten Minne mit dem Abenteuer Kreuzwendedichs, das in Tillys Kabine endete, höchst wunderbar sei.

Kloppenbusch war von dieser Übereinstimmung der poesievollen Geschehnisse geradezu entzückt. Kreuzwendedich durchaus nicht. Im Gegenteil, er empfand es als ein betrübendes Zeichen seiner immer noch vorhandenen Schwäche, daß er seinen mitteilsamen Besucher bei dieser Wendung des Gesprächs nicht aus der Luke warf oder ihm mindestens mit einem harten Gegenstand auf den Kopf schlug.

Tieftraurig die in Kloppenbuschs Erzählungen enthaltenen Tatsächlichkeiten einerseits und die geringen Aussichten auf ein angenehmes Leben an dem wieder zu besteigenden Lande andrerseits erwägend, stand Kreuzwendedich, bereits bis auf das Jackett angekleidet, vor Tillys Waschbecken und gurgelte mit Myrrhenwasser.

In diesem Augenblick nahm das Zwiegespräch, das in der Kabine gegenüber Selma mit dem Edlen von Scupinsky führte, eine Tonstärke an, die schlechthin zum Zuhören zwang. Schon mehrfach war in diesen Leidenstagen in das trübe Dämmerleben Kreuzwendedichs seltsames Geräusch, wie von heftigem Streit, aus dieser Kabine gedrungen. Aber sein Interesse an dem Hader der Mitwelt war fast auf den Nullpunkt gesunken gewesen; und so hatte er gar nicht hingehorcht, was Selma dem Edlen von Scupinsky, oder was der Edle von Scupinsky der entfärbten Selma an unerfreulichen Wahrheiten etwa zu sagen wußte.

Jetzt war das anders. Aus den Zeiten, da er noch die Bänke des Realgymnasiums ohne nennenswerte Erfolge drückte, erinnerte sich Kreuzwendedich eines guten Spruches; und es bereitete ihm aufrichtige Genugtuung, daß dieser Spruch lateinisch war: »Solamen miseris socios habuisse malorum.« Wie der Mann hieß, der das vor zweitausend Jahren gesagt – Ovid oder Virgil oder Horaz oder anders –, war gleichgültig. Recht aber hatte er, wie der Lateiner häufig. Es war entschieden ein Trost für einen, der sich zum Platzen ärgerte, zu hören, wie andere vor Ärger auch Anstalten trafen zu platzen. Und viel weniger taten offenbar der Edle von Scupinsky und seine Freundin da drüben eben nicht.

Kreuzwendedich öffnete ein wenig die Kabinentür, um die eifernden socios malorum besser vernehmen zu können. Und nun verstand er jedes Wort. Entweder gingen die beiden von der falschen Voraussetzung aus, daß hier niemand unten geblieben war, der die Intimitäten ihrer Zwiesprache erlauschen konnte, oder sie hatten sich allmählich in eine solche Wut gesteigert, daß sie die schlichtesten Gesetze der Vorsicht und des Anstandes vergaßen.

»Also so geh schon zu deinem Pilsener Narren, zu deinem Zwingenberg Urquell!« Scupinsky war schon ganz heiser vom Schreien. »Wenn er dich erst mal ohne all deine Schönheitsmittelchen gesehen hat, du Liebling, wie ich in der Biskaya, dann wird er sich vollends dem Trunk ergeben.«

»Du hast meine Briefe nicht aufzumachen – du elender Hochstapler! Nimm andern ihre Sachen weg, soviel du magst, aber meine Korrespondenz laß gefälligst in Ruh', ja!«

»Ich hab ein Recht nachzusehen, was du treibst – wie du mich betrügst, du Brettlmensch!«

»Ha betrügst! Du sagst ›betrügst‹ – Du! Daß ich nit lach!«

»Du giltst hier für meine Frau und –«

»Ich gelt' –? Das glaubt schon eh' keiner mehr, daß ich auf so einen Wurschtel, wie du, fürs ganze Leben 'reinfall, und mir von dir einen Trauring anschnallen lass!«

»Halt's Maul, sonst . . .! Ich hab für dich bezahlt . . . die ganze Reise . . . und Kaviar frißt du mit 'm Löffel . . . und in Barcelona zwei Hüte und in Sevilla eine Mantilla . . .«

»Schofel genug – die Stewardeß mit dem langweiligen Madonnengesicht hat eine feinere kriegt – – – aber nit von dir, was?«

»Ich hab dich hier durchgefüttert und all deine Extradummheiten bezahlen dürfen . . .«

»Jawohl, von Zwingenberg seinem Geld. Und wenn ich mit dem nit gefußelt hätt', bis ihm das Blut im Hals war und die Stielaugen schier herausg'fallen sind – dann hättst du von der ganzen Reise nix wie den elendigen Ring, den du mir jetzt nit amal geben willst – als Abschiedsgeschenk.«

»Ich hab ihn doch nicht – wie oft soll ich dir's denn noch wiederholen?! Das ist's doch eben, du blödsinnige Gans, weswegen ich so außer mir bin – er is weg – weg – weg!«

Ein häßliches Lachen aus Selmas Kehle, das jäh abbrach. Scupinsky hatte sie wohl wütend an der Hand gepackt. Oder am Hals –

»Lach' nit, infames Weibstück – lach' nit – oder ich . . . Das kann uns doch den Hals brechen, begreifst du denn das nicht! Der Ring muß herausgefallen sein . . .«

Kreuzwendedich verstand nichts mehr. Mit übermenschlicher Anstrengung dämpfte der Edle in der Kabine seine Wut, und sein Organ war ganz leise geworden.

Aber Selma, deren Hals und Hand wieder frei geworden zu sein schienen, nahm keine Rücksicht. »Und das soll ich dir glauben, du Obergauner – der ganze Witz ist doch nur, daß du den Rubin, der so wertvoll ist, behalten willst, zu Geld machen möchtest . . .«

Den Rubin –? Den Rubin . . .! Kreuzwendedich flog das Blut in die Schläfen. Er hatte Ohrensausen, als wäre er mit dem Kopf in ein Glockenspiel gefallen. Er hörte nichts mehr. Mit geschlossenen Augen und zitternden Knien stand er an den Türpfosten gelehnt. Eine Galoppade von Ideen jagte durch sein Hirn. Der Rubin – das war also Tillys Ring! Und den hatte Scupinsky – oder doch, hatte ihn gehabt. Und er, Kreuzwendedich – wußte jetzt . . . Ah!

Schwammerl hatte sie geküßt – gut. Aber er hatte das Hemdlein an der Lanze – nein, den Rubin hatte er entdeckt. Scupinsky war ein Schurke – er wollte ihm nachher einen Kuß geben. Denn ohne ihn wäre er ja verloren gewesen. Aber erst wollte er ihn verhaften lassen. Aber nein – der Ring war wichtiger. Hatte der Edle den nun noch – wie Selma krähte – oh, was war das für ein liebes Mädchen, diese Selma! – oder war der dem Dieb auch schon wieder gestohlen? . . . Wenn nur ein Mensch jetzt hier herunterkommen wollte . . . mit den Bibberbeinen konnte er doch nicht verhaften und niederboxen und all so schöne Sachen.

Jetzt wurde drüben die Tür halb aufgerissen und wieder gewaltsam um ein Stück zugedrückt. Es war, als ob eine Hand sich bemühe zu öffnen, während eine andere zuhalten wollte.

Und jetzt verstand er auch wieder. Das war Selmas Stimme, die kreischte: »Ach was, du Idiot – die blonde Pute, die denkt nicht mehr an ihren Ring. Die hat ja jetzt den Wiener Odeurfritzen mit dem versicherten Schnupfen – vorhin, als die Stewardeß die Koffer herausgeholt hat, hat sie's ihr doch selbst stolz erzählt – daß sie verlobt ist – mit dem einen von den zwei Trotteln, dem wienerischen.«

Der andre Trottel bin ich, konstatierte Reubke betrübt, der größere; denn ich muß es auch noch als Überraschung anhören. Er dachte jetzt leidenschaftslos, ganz sachlich. Schließlich war er ein anständiger Kerl; und hier galt's nicht mehr allein den anstrengenden Wettlauf um eine hübsche Witwe und ihre stattlichen Renten – hier war offenbar einer Schurkerei ein Ende zu machen und einem ganz üblen Glücksritter das traurige Handwerk zu legen. In Kreuzwendedichs Beine und Gehirn kam Ruhe.

Und das war gut, denn er konnte sie brauchen. Eben wurde drüben die Tür mit einem gewaltigen Ruck weit aufgerissen. Ein wütender Schrei, als ob Selmas Finger geklemmt würden. Scupinsky, dunkelrot übers ganze verlebte Gesicht, das dünne gefärbte Haar verwirrt, als habe eine unfreundliche Hand hineingegriffen, stürzte, schon im Reiseanzug, den Hut in der Hand, auf den Gang und wollte die Treppe empor.

Unwillkürlich trat Reubke einen Schritt vor.

Scupinsky prallte zurück, als hätte er den Teufel gesehen. Er griff unsicher nach der Klinke seiner Kabinentür, die er hinter sich zuzog, und stammelte: »Herr – Herr von Reubke – bitte, was machen denn Sie hier?«

»Ich wohne hier – Ihnen gegenüber.« Kreuzwendedich sagte das lächelnd und sah ihm dabei in die Augen wie ein Tierbändiger, der Schakale dressiert.

Die Tür hinter Scupinskys Rücken schloß sich lautlos. Selma schien die Schwierigkeit der Situation begriffen zu haben.

»Sie haben –« Scupinsky versuchte zu lächeln, aber sein spähendes Auge hatte alle Sicherheit verloren und war voll Angst – »Sie haben einiges von unserm kleinen ehelichen Disput mit angehört, Herr Baron, nicht wahr?«

»Einiges.«

»Ach ja – so Frauen, wenn sie nervös sind – und, ja, auch man selbst – man redet da – wenn man erregt ist, mein' ich – allerlei Törichtes, nicht wahr . . . hm, allerlei Unverantwortliches.«

»Unverantwortliches.«

Scupinsky war dieses Echo unangenehm, man sah das. »Sie werden hoffentlich aus dem Gehörten – ich bitte übrigens vielmals um Entschuldigung, daß wir so laut wurden – wir nahmen an, daß alle Passagiere bereits oben seien bei der Gepäckrevision . . .«

»Dacht' ich mir.«

»Ich meine – meine, Sie werden doch wohl keine falschen Schlüsse ziehen, Herr Baron, aus dem Gehörten?«

»Nein, nur richtige Schlüsse. Verlassen Sie sich darauf.«

Diese zugesicherte Erfüllung seiner Hoffnung schien aber wiederum Herrn von Scupinsky durchaus nicht so angenehm, wie sonst erfüllte Hoffnungen zu sein pflegen. Er griff sich mit zwei Fingern in den Stehkragen, als ob ihm dieses Wäschestück plötzlich zu eng werde, räusperte sich, lächelte wie ein Bauer, der Zahnweh hat, machte den Versuch einer leichten, chevaleresken Verbeugung und sagte:

»Herr von Reubke, wir beide sind Männer, nicht wahr. Ehrenmänner . . .«

»Was das erste anbetrifft, so glaube ich, daß Sie recht haben. Für das zweite möcht' ich den Pluralis ablehnen . . .«

»Soll ich das dahin verstehen, daß ich . . .«

»Ich bitte das zu verstehen, wie es Ihnen beliebt.«

Kreuzwendedich erinnerte sich plötzlich seiner frühen Knabenjahre, da er emsig Käfer sammelte und die unentrinnbar gefangenen auf Stecknadeln aufspießte, ehe er sie in den Spiritus versenkte. Das war eine Gemeinheit; und er hatte, älter und verständiger geworden, dieser kindischen Grausamkeit nur mit Schaudern gedacht. Jetzt aber kam es ihm vor, als ob er sich eben wieder betätige, wie in seinen frühen Knabenjahren, einen Käfer spießend. Aber die Gemeinheit leugnete er diesmal.

Scupinsky schien einen schwierigen Denkprozeß zu erledigen. In seinem Gesicht arbeitete es. Ein zuversichtliches Lächeln gewann die Oberhand, als er wieder begann:

»Könnte ich Sie für zwei Minuten allein – unter vier Augen – sprechen, Herr Baron?«

»Mir scheint, daß wir hier so allein sind wie nur irgend möglich.«

Er sagte das kühl und ruhig und überlegte dabei: wenn ich mit dem Kerl in eine Kabine gehe, ist er imstande, einen sechsläufigen Revolver zu ziehen oder mich niederzuschlagen. Kreuzwendedich war nicht feig. Aber er fühlte sich doch noch von der Seekrankheit in einer Weise geschwächt, die ihm heute einen Boxkampf oder ähnliches als eine wenig aussichtsreiche sportliche Vergnügung erscheinen ließ.

»Sie haben vielleicht recht –« Scupinsky war sichtlich bemüht, seine geschmeidige Rede ganz in Öl zu tauchen – »ganz recht, Herr Baron. Wir sind schließlich auch hier allein – mindestens für ein paar Augenblicke. Und was wir beide uns, als Männer von Welt, zu sagen haben, bedarf ja nur zweier Minuten.«

Kreuzwendedich dachte, daß es noch nicht einer halben Minute bedürfe, Herrn von Scupinsky zu sagen, daß er ihn für einen ausgemachten Schurken halte. Aber da er begierig war, was etwa dieser Edle noch vorbringen könnte, so unterdrückte er dieses schroffe Werturteil und sagte nur knapp und ohne Wärme: »Bitte!«

»Durch Ihre hübschen und freimütigen Erzählungen, Herr Baron . . . Pardon, nicht mir haben Sie erzählt, aber andern – und Sie haben ja selbst erfahren, daß die Wände hier Ohren haben . . . Also durch Ihre scharmanten Erzählungen aus Ihrem Leben bin ich über Ihre Privatverhältnisse ziemlich gut orientiert . . .«

»Wenn das etwa auf eine Drohung irgendwelcher Art hinauslaufen sollte, Herr, so sparen Sie sich die Mühe. Aus der Tatsache, daß ich nicht vermögend bin und solche Luxusreise eigentlich meinen Verhältnissen nicht angepaßt ist, mache ich kein Hehl. Anderes aber hab' ich nicht zu verbergen. Also –«

»Pardon, Pardon! Sie mißverstehen mich durchaus, mein werter Herr Baron.«

»Ich bin nicht Baron. Ich führe nur – und zwar mit Recht – den einfachen Adelstitel.«

»Abermals Pardon. Wir Österreicher sind so gewohnt . . .«

»Ich dachte, Sie wären Ungar –? Aber gleichviel. Ich verzichte auf Standeserhöhungen durch Ihre Güte. Wollen Sie, bitte, kurz –«

»Ganz kurz.« Scupinsky gewann an Zuversicht, aber er blieb sehr höflich, fast devot. »Mit Ihren eignen Bekenntnissen übereinstimmend, Herr Baron – Pardon, Herr von Reubke, ist die Tatsache mir nicht unbekannt, daß Sie in England einen Onkel hatten, übrigens einen ganz vortrefflichen Herrn –«

»Ich bitte, sich mit Taxierung meiner Familie nicht aufzuhalten.«

»– einen Herrn, der preußischer Legationsrat a. D. war und dessen Vermögen, als er in London starb, etwa achtmalhunderttausend Mark in deutschem Gelde betrug . . . Da nun leider –« Scupinsky lächelte diabolisch, indem er das sagte – »leider, wie Sie wissen, durch eine kleine Vergeßlichkeit des Herrn Erblassers, den Erben nicht bekannt wurde, in welcher der vielen Banken Londons dieses ansehnliche Kapital lagert, so hat sich dieses Depot seit dem Tode des seligen Herrn Legationsrats um Zins und Zinseszins vermehrt und wird in zwei, drei Jahren rund eine Million erreicht haben . . . In zwei, drei Jahren, in denen es, von den Erben ungestört und unangegriffen, weiter so ruhig anwachsen kann, wie . . .«

»Wollen Sie mich verhöhnen, Herr –! Das sind doch . . .«

»Vermutungen? Nein. Auf mein Ehrenwort werden Sie vielleicht keinen allzugroßen Wert legen –«

»Nein.«

»Schade. Ich könnte Ihnen sonst dieses Ehrenwort ohne jedes Risiko verpfänden dafür – daß ich – verstehen Sie wohl – ich die Bank sehr gut kenne, auf der das Depot Ihres seligen Oheims lagert, von dem Ihnen ja wohl ein Drittel zukommt – wenn es erst für Sie entdeckt ist.«

Kreuzwendedich fühlte, daß ihm schwach wurde. Eine zuversichtliche Stimme sagte ihm, daß Scupinsky diesmal nicht log. Auch stimmte die von dem Glücksritter angegebene Höhe des Vermögens mit den Mutmaßungen der Familie genau überein.

Scupinsky fuhr, jetzt ganz sicher und geschäftsmäßig im Ton, in seiner Rede fort, während er Reubke nicht aus den Augen ließ.

»Ich habe nämlich vor Jahren – am Anfang meiner Laufbahn – in dieser selben Bank als Angestellter gearbeitet. Habe gewissermaßen dort gelernt und begonnen. Daher –«

Kreuzwendedich hatte wieder das Gefühl: das stimmt. Daß diese Beschäftigung Scupinskys in der Bank damals dem Institut nicht gerade zum Vorteil gereichte, und daß seine sogenannte Lehrzeit mit anderthalb Jahren Zuchthaus geendet hatte, fühlte Reubke allerdings nicht mit.

»Ein freundliches Geschick hat es also gefügt –« in Scupinskys Stimme kam etwas Gönnerhaftes –, »daß ich in der glücklichen Lage bin, Ihnen ein recht stattliches Vermögen, ein Vermögen von ungefähr dreihundertdreißigtausend Reichsmark – soviel kommt eben auf Ihre Kappe – nachzuweisen, das Ihnen nach englischen wie deutschen Gesetzen gehört.«

»Sie – Sie wissen wirklich . . .?« Kreuzwendedich sah farbige Kreise vor den Augen. Auf seiner Stirn stand in Perlen der Schweiß.

»Zuversichtlich. Ein Vermögen, von dem Sie aber niemals einen roten Heller sehen werden, wenn Sie dieses – dieses – wie nannte ich es doch gleich – ach ja, dieses freundliche Geschick mißachten. Will sagen, wenn Sie nicht die Hand ergreifen, die . . .«

»Ihre Hand –«

»Es scheint so, daß es die meine ist.«

»Das hieße ja – –«

»Hm. Eine Hand wäscht die andere. Sie können mir jetzt – ich gebe das zu, Herr von Reubke – durch Mitteilung einiger erlauschter und selbstverständlich mißverstandener Gesprächsbrocken ärgerliche Unannehmlichkeiten bereiten, vielleicht sogar meine Abreise von Amsterdam – an deren Beschleunigung mir aus privaten Gründen viel liegt – um ein paar Stunden verzögern. Aber – ich sähe dann wirklich nicht ein, wozu ich Ihnen die Gefälligkeit erweisen sollte, den Namen der mir gut bekannten Londoner Bank zu nennen. Der Bank, an deren Depositenkasse ich häufig den Vorzug hatte, Ihren liebenswürdigen Herrn Onkel – er war etwas schwerhörig, trug einen leicht ergrauten Knebelbart, nicht wahr, und hatte eine Vorliebe für weißleinene Gamaschen und – wohl aus Studententagen – zwei Narben auf der linken Wange. Die eine ging, wie ich mich recht erinnere, quer durchs Ohr . . .«

»Ja – ja – durchs Ohr.«

Alles stimmt, alles! Jetzt bin ich der Käfer, dachte Kreuzwendedich schaudernd. Jetzt spießt mich dieser dunkle Ehrenmann. Und unternehme ich etwas gegen ihn, so bin ich für immer im Spiritus . . . Aber nein, einem Schurken den Rücken decken und dafür als Trinkgeld sein eignes Erbteil ausgeliefert erhalten – lieber irgendwo unterkriechen und abends am ungedeckten Holztisch Aschingerwürstchen mit Senf essen sein Lebtag!

Kreuzwendedich räusperte sich und gab sich Haltung. Er war sehr blaß, als er langsam, jedes Wort betonend, sagte:

»Ich halte Sie, Herr von Scupinsky, zwar für einen Lügner –«

Scupinsky zuckte zusammen und kaute die Unterlippe.

»Ich sagte: Lügner. Regen Sie sich nicht auf: wer stiehlt – ich sage: stiehlt und falsch spielt, muß lügen. Diesmal aber haben Sie wohl einmal ausnahmsweise die Wahrheit gesagt. Aber wenn es auch wahr sein mag, daß eine Hand die andre wäscht – ich verzichte darauf, meine leidlich saubere Hand von der Ihrigen waschen zu lassen. Ich ziehe es vor, als armes Luder die andern vor Ihnen zu schützen und . . .«

»Haben Sie sich das auch wirklich gut überlegt, Herr Baron?« Scupinsky stand dicht bei ihm. Seine Augen funkelten tückisch, und in seiner heiseren Stimme wetterleuchtete eine Drohung.

»Sehr gut.«

In diesem Augenblick kam, drei Stufen auf einmal nehmend, Bob, der herkulisch gebaute Decksteward, die Treppe herunter.

»Herr von Scupinsky,« meldete er sehr höflich, »der Herr Kapitän – im Rauchzimmer – läßt bitten, ihn für ein paar Minuten aufzusuchen.«

»Steward!« Kreuzwendedich hatte das angenehme Gefühl, daß seine Haltung gut und fest war, als er das sagte. »Ich komme sofort auch ins Rauchzimmer – und will den Kapitän sprechen. Wollen Sie – auf meine Verantwortung – diesen Herrn da nicht aus dem Auge lassen, bis er vor dem Kapitän steht!«

Keine Muskel bewegte sich in des Stewards sommersprossigem Gesicht, als er ruhig und mit aller Höflichkeit nickte: »Ich habe von dem Herrn Kapitän bereits ganz denselben Befehl.«

Da wußte Scupinsky, daß sein Spiel verloren war. Ein zynisches Lachen verzerrte seine Züge, als er, dem athletischen Steward vorausgehend, über die Schulter Kreuzwendedich zurief:

»Schade, daß ein so reicher Mann wie Sie, Herr von Reubke, wird bis an sein Ende Hungerpfoten saugen müssen!«

Kreuzwendedich blieb, als die beiden im Stiegenhaus verschwunden waren, noch einen Augenblick schweratmend stehen. Das Anständigbleiben wurde einem doch manchmal verteufelt schwer gemacht. Aber ein Wohlleben als Gnadengeschenk von diesem üblen Burschen – nein!

Als er, seine noch nicht recht parierenden Knochen zusammennehmend, langsam die Stufen steigen wollte, fühlte er eine Hand auf seiner Schulter.

Selma, blaß wie eine nächtliche Erscheinung, aber wie keine angenehme, das mehrfarbige Haar unordentlich in der gepuderten Stirn, keuchte ihn an:

»Herr von Reubke, der Mann ist ein Schuft . . . Aber ich, glauben Sie mir – ich hab das alles nicht gewußt . . . Ich . . .«

Kreuzwendedich ließ sie stehen. Es ist, weiß der liebe Himmel – die erste Dame, dachte er im mühsamen Emporsteigen, zu der ich unhöflich bin, seit ich als Junge der unleidlichen Gesellschafterin meiner Großmutter, die mir immer die gezuckerten Mandeln von meiner Geburtstagstorte wegfraß, die Zunge herausgestreckt habe . . .

*

Im Rauchsalon saß der Kapitän vor einer Menge beschriebener Papiere und trommelte ungeduldig mit den Fingern auf den Tisch. Er liebte Papier und Schreibarbeit nicht und machte kein Hehl daraus. Diesmal aber schien ihm die Sache besonders unangenehm, was schon den kräftigen Seemannsflüchen zu entnehmen war, die er in kurzen Zwischenräumen leise vor sich hin murmelte.

Hinter ihm stand in dienstlicher Haltung, den Bauch vorgestreckt, der Obersteward und neben diesem in weißer Jacke Beppo Marlettino, der Friseur, wichtig und zuversichtlich.

Kahl und unfreundlich wirkte der sonst so behagliche Raum. Die kleinen Vorhänge waren schon abgenommen für die große Reinigung im Hafen. Von den Tischen waren die Rauchutensilien und die Schachbretter entfernt. Im Hintergrund standen ein paar Stühle aufeinander, wie in einem Großstadtcafé am frühen Morgen. Es roch nach kaltem Rauch. Durch die Luken sah man langsam, gleichmäßig die Ufer des Kanals vorüberziehen, grüne Wiesen mit sattem Vieh. Die Sonne hatte sich durchgekämpft und lag freundlich auf den grünen Flächen. In der Ferne blitzten die morgenfeuchten Dächer eines Dörfchens auf. Ein paar Schornsteine rauchten schon. Die Windmühlen bewegten langsam in der leichten Brise ihre gewichtigen Flügel.

Der Kapitän zog unter dem Wust von beschriebenen und leeren Papieren die geschwungene Goldkrücke eines Spazierstocks hervor und betrachtete sie aufmerksam, als sehe er sie zum erstenmal. Unter dem Goldrand war das spanische Rohr mit einem Messer scharf durchschnitten.

»Es ist kein Irrtum möglich, Beppo?«

»Aber nein, Herr Kapitän. So wahr meine selige Mutter . . .«

»Lassen Sie schon Ihre selige Mutter liegen! Sie war gewiß eine anständige Frau. Sie kamen also in die Kabine des Herrn von Scupinsky?«

»Wie alle Tage, bitte, zum Rasieren. Aber – wohl verstanden, Herr Kapitän – es war die Kabine auf dem Promenadendeck, in die er umgezogen war aus der Luxuskabine.«

»Nummer dreizehn. Ich weiß.«

»Ich sag's ja immer, Herr Kapitän, wir sollten die Kabine ›Zwölf A‹ nennen – die Dreizehn bringt Unglück.«

»Was schadet's schon, wenn sie einem Lumpen Unglück bringt? Uns hat sie Glück gebracht. Ohne daß der Kerl – der Himmel erschlag' ihn! – umgezogen wäre, hätten Sie doch sicherlich nicht . . .«

»Gewiß nicht. Ich sah sie zufällig liegen, die Krücke; ganz zufällig, als ich mich nach ein wenig Papier umsah, den Seifenschaum vom Messer zu streichen. Aus dem Boden einer Hutschachtel schien sie gefallen zu sein, in der die Dame wohl gekramt hatte. Die kramt ja in allem. So oft ich vorbeikam . . .«

»Sie sollen die Passagiere nicht immer ausspionieren!«

Beppo war gekränkt: »Herr Kapitän, ohne meine guten Augen und ohne meinen Einfall, einen Napf fallen zu lassen und mit Napf und Pinsel und Seife gleich die Krücke da rasch aufzuraffen und blitzschnell einzustecken – so, sehn Sie – ohne das wüßten wir doch jetzt nicht . . .«

»Gut, schon gut! Errichten Sie sich doch nicht immerzu Triumphbogen, wenn Sie bloß . . . Was wollen Sie denn hier, Herr Balzer?« Der Kapitän wandte sich, ärgerlich die Mütze in den Nacken rückend, zu dem kleinen Kapellmeister, der, wie geschoben von einem edlen Vorsatz, geniert, aber mit strahlenden Augen direkt auf den Tisch losging. Er stotterte vor Aufregung.

»Ich habe – habe eine So–Sonate komponiert, Herr Kapitän.«

»Meinetwegen. Irgendeine Dummheit muß der Mensch machen.«

»Ich möchte gern die So–Sonate . . .«

»Aber, Mensch, ich habe jetzt keine Zeit für Sonaten! In einer Stunde legen wir an und . . .«

»Ja, ja – eben deshalb. Sie sind nämlich darin, Herr Kapitän, in der Sonate. Ja. Und mein Dank ist darin, Herr Kapitän.« Balzer legte ein beschriebenes Notenblatt mit zitternden Fingern vor Jürgens hin, der ihn verblüfft aus großen, runden Augen anstarrte.

»Ich – bin drin?«

»Ja, ich bitte zu entschuldigen, daß ich . . . ich meine, daß die letzten Zeilen verwischt sind . . . Ich tu das sonst nicht . . . Arm, sagte meine Mutter immer – aber sauber und ganz.«

»Jetzt kommt der mir auch mit seiner seligen Mutter!«

»Pardon, nein, sie lebt noch. Aber es mußte so schnell gehen . . . Und Herr Mücke hatte mir die Inspiration gestört, weil er den Stuhl umwarf . . . Ich habe als kleines Kind schon komponiert, Herr Kapitän. Aber wir sind arm, ja. Damals hatte ich kein Papier. Ich meine, kein Notenpapier . . .«

»Herr, sind Sie des Teufels? Ich habe jetzt keine Zeit für Ihre Biographie!«

Balzer ließ sich nicht irremachen. Seine leidenschaftliche Rede drängte vorwärts wie ein Amokläufer. »Und danken wollt' ich Ihnen, Herr Kapitän. Einesteils durch die Widmung für Ihre Person: daß Sie so sind, wie Sie sind, ja . . . andernteils . . .«

»Schockschwerenot, einesteils sind Sie ein Narr, Herr Balzer, andernteils lass' ich Sie hinausführen, wenn Sie jetzt nicht . . .«

»Andernteils . . . Sie müssen mich hören, Herr Kapitän, andernteils – für Ihre Herzensgüte, daß Sie mich da oben mein Heimweh haben austoben lassen, ja, an dem verlassenen Klavier. Es muß übrigens bald einmal gestimmt werden. Auch das Pedal klappert ein bißchen. Und deshalb – zur Erinnerung – ich könnte ihn ja doch nicht tragen, er paßt nicht zu meinem bescheidenen Anzug, Herr Kapitän, nicht wahr – und dann, er hindert mich auch beim Klavierspielen – wirklich – deshalb nehmen Sie, bitte, diesen Ring, den . . .«

Weiter kam Adam Balzer nicht in seiner wohldurchdachten Widmungsrede. Sprachlos hatte der Kapitän ihm, rasch zugreifend, den Ring aus der leise zitternden Hand genommen, starrte mit offenem Mund auf den Rubin und dann wieder in die versteinerten Gesichter Beppos und des Oberstewards, als wollte er sich darin Rats holen. Dann griff er mit der freien Hand unter die gehäuften Papiere und zog einen zweiten Rubinring heraus. Ganz den gleichen wie den von Balzer überreichten.

»Ja, bin ich denn verrückt, oder . . . Das sind ja nun auf einmal zwei Rubinringe!«

»Zwei!« Beppo und der Obersteward wiederholten es leise, bedrückt, wie der finstere Chor in der attischen Tragödie, ehe eine Gottheit den Knoten zerhaut.

In diesem Augenblick schob Bob, der athletische Steward, den Edlen von Scupinsky vor sich her durch die Tür ins Rauchzimmer. Es war, als ob er ihm nur diensteifrig den Weg zeigte und höflich den Vortritt ließe. Er sagte sogar mit einer kleinen Verbeugung: »Bitte sehr!« Aber Scupinsky spürte die Faust im Rücken.

Mit einem raschen, tückischen Blick hatte der Edle alles überschaut und begriffen, die Anwesenden, ihre Haltung und Gesichter, den Kapitän, der sich weder erhob noch grüßte, den Tisch, von dem ihm die goldene Krücke von Öltzendorffs Spazierstock entgegenblinkte, und die Situation. Verloren gab er sich noch nicht.

»Die Art der Zitierung,« sagte er sanft, und ein milder Tadel, mehr ein Bedauern über die mangelnde Kinderstube der andern klang leise mit an, »die Art der Zitierung ist ja etwas merkwürdig, Herr Kapitän. Aber ich bin zuviel auf See gefahren, um nicht zu wissen, daß ein Schiffskommandeur mit den Machtbefugnissen eines kleinen Königs ausgestattet sein muß. Sie haben diese Macht bis jetzt sehr ritterlich und tadellos ausgeübt, Herr Kapitän, ich hoffe . . .«

»Ich bitte, mir Ihr Lob zu ersparen, Herr! Kommen wir ohne Umschweife zur Sache!«

»Bitte. Ich bin begierig, da ich die ›Sache‹ nicht kenne . . . bitte aber um Kürze, da ich noch packen muß.«

»Das werden Ihnen die Holländer wohl erleichtern.« Mit zwei Fingern an die Mütze greifend, rief der Kapitän hinüber zu dem eben eintretenden dicken Holländer, der phlegmatisch, in den langen Regenmantel gewickelt, seinen Bauch, wie ein wichtiges Paket, vor sich hertrug:

»Dat is die Mijnheer in questie, wilt U zoo goed zijn de noodige stappen te doen.«Das ist der Herr, um den es sich handelt, wollen Sie, bitte, das Nötige veranlassen?

Unter dem fadblonden, hängenden Seehundsbart kam ohne Eile und Erregung die pomadige Antwort:

»O, is hij dat? De fransche politie stuurde ons al zijn signalement. Wilt U is kijken, het portret liikt sprekend. Hij heefd in Nizza valsch gespeeld.«Oh, das ist er? Wir haben sein Signalement schon von den französischen Behörden, Wollen Sie, bitte, sehen, das Porträt stimmt ganz genau, – Er hat ein bißchen falsch gespielt in Nizza.

Lächelnd, fast freundschaftlich den Edlen von Scupinsky von oben bis unten musternd, stellte sich der Holländer breitbeinig neben sein Opfer.

Scupinsky kämpfte gewaltsam die ohnmächtige Wut nieder, die in ihm aufstieg, und das weltmännische Lächeln seines Gesichts zerriß. »Ihre Gesellschaft, Herr Kapitän, wird wenig erbaut sein, wenn sie von den Belästigungen hört, denen ihr Vertrauensmann auf der ›Astarte‹ einen Passagier, der seine Luxuskabine mit gutem Geld bezahlt hat, auszusetzen für nötig hält.«

»Meine Gesellschaft –« der Kapitän fertigte, während er sprach, ohne Überstürzung den Schiffsarzt ab, der ihm eben, sehr erstaunt um sich blickend, die Gesundheitspapiere zur Durchsicht unterbreitet hatte – »meine Gesellschaft wird sich freuen, daß ich meine Passagiere, ohne daß sie Verlust erlitten, ausborden kann. Herr von Öltzendorff wird seinen historischen Stock wiedersehen – wenigstens die wertvolle Krücke. Und – wir haben keinen Seekranken mehr, Doktor, was? Nein? Sehr gut – ja, und Frau Schuch wird wieder in den Besitz ihres indischen Rubins gelangen, der . . .«

Der eintretende Kreuzwendedich von Reubke hatte die letzten Worte gehört. »Wenn Sie etwa für die Überführung dieses Gentlemans Zeugen brauchen, Herr Kapitän – ich habe ungern mit den Gerichten zu tun, aber ich stehe zur Verfügung.«

Der dicke Holländer hatte phlegmatisch in den Papieren geblättert, die auf dem Landweg Amsterdam weit schneller erreicht hatten als das Schiff, auf dem der Glücksritter fuhr, mit dem sich diese Blätter beschäftigten. Unter dem hängenden Seehundsbart ließ sich ein befriedigendes Grunzen vernehmen, das die in mäßigem Deutsch nicht allzu deutlich geformten Worte einleitete: »Oh – dieser Mann hat so viel als das ich seh' – schon manches einmal mit das Gericht zu tun gehabt . . . angefangen mit – zwei Jahren Zuchthaus – – wo er is gewesen Volontär – in das Schottische Bank von London.«

Balzer schrie laut auf vor Schmerz. Er glaubte, eine eiserne Zange habe ihn oberhalb des Ellbogens erfaßt. Aber es war nur Reubke, der neben ihm stand und ihn plötzlich heftig in den Oberarm gekniffen hatte.

»Die – Schottische Bank in London!! Haben Sie's gehört?«

»Aber ja –« sagte Balzer ärgerlich, indem er sich den schmerzenden Arm rieb. »Das kann uns doch nun schon egal sein, wo der Mann vor so und so viel Jahren mal gestohlen hat.«

»Ja, das sagen Sie so – das sagen Sie so . . .« Ein heißer Jubel drohte Kreuzwendedichs Stimme zu ersticken. Er sah plötzlich seinen toten Onkel durch den Rauchsalon spazieren in weißleinenen Gamaschen, den gepflegten weißen Knebelbart gebürstet und die Hand am schwerhörigen Ohr, als wolle er hören, was ihm der Neffe zu sagen habe . . . Er mußte hinaus an Deck, mußte etwas unternehmen, irgendwas . . .

Im Treppenhaus stieß er mit Tilly und Schwammerl zusammen. Die beiden, schon reisefertig, gingen eingehakt und strahlten halb glücklich, halb verlegen.

»Also bitt' schön . . . Herr von Reubke – wir zwei, wie Sie uns da schaun, wir sind nämlich . . .« Schwammerl hatte sich sehr gefürchtet vor diesem Moment. Denn schließlich – er hatte den körperlichen Zusammenbruch des Rivalen ausgenutzt. Und wenn auch der immer delphische Sprüche machende Doktor Lux lächelnd behauptet hatte, die Biskaya könne eigentlich ganz allein den Ruhm dieser Verlobung beanspruchen, so schien es Schwammerl doch sonnenklar, daß er ohne Reubkes Seekrankheit niemals dazu gekommen wäre, Tillys molligen Arm – wie jetzt – vertraulich durch den seinen zu ziehen und seine linke Franz-Josephs-Kotelette so selbstverständlich der herrlichen goldschimmernden Krone ihres Köpfchens zu nähern.

»Ja also – Sie werd'n überrascht sein – gell, Tilly-Schnuckerl, das wird er? – wir sind nämlich verlobt, ja.«

Kreuzwendedich hatte es gewußt, daß er etwas unternehmen mußte. Aber daß er gerade Schwammerl mitten auf den Mund küssen würde, akkurat zwischen die zwei Franz-Josephs-Koteletten, das hatte er nicht geahnt. Schwammerl auch nicht. Aber es war doch so.

»Alsdann –« Schwammerl sagte das sehr verblüfft, »da sieht mer doch, was a guter Freund is! Ja.« Und besorgt fügte er hinzu: »Wann S' jetzt nur kan Schnupfen nit kriegen, Herr von Reubke. I hab' nämlich schon wieder einen. Aber jetzt is ja eh' egal.«

Aber Kreuzwendedich hörte die letzten Worte schon nicht mehr. Er hatte Tilly noch gratulierend die Hand gequetscht, daß sie leise aufwimmerte, dann hatte er sich rasch entfernt. Er mußte etwas Gutes tun, irgend etwas, Öltzendorff mitteilen, daß seine goldene Krücke wiedergefunden sei. Oder der Kapelle zwanzig Franken schenken oder an die Äbtissin ein Funkentelegramm schicken, daß sie sich aus ihren Orchideen Salat machen solle, oder dem Peterle ein Sahnenbeefsteak mit Bratkartoffeln dedizieren. Und dazwischen blitzte es ihm durch den Kopf, daß er wieder mal im Eifer falsch disponiert hatte. Denn er hätte am Ende besser und mit mehr Genuß Schwammerl die Hand gequetscht und Tilly geküßt . . .

Und dann – Teufel auch! – für die fatale Gastfreundschaft der Kabine hätte er sich ja auch eigentlich bei der schönen Frau Tilly noch bedanken müssen. Vielleicht mit einem Scherzwort anknüpfend an Kloppenbuschs lichtvolle Darlegungen vom Minnedienst . . . Aber sie war fort. Er hörte nur noch ferne und ferner ihr vergnügtes Lachen. Esprit de l'escalier!

»Ist es wahr – ist es wirklich wahr –?«

Reubke erschrak heftig. Er hatte Arthur Mücke wie all die andern auch, tagelang nicht gesehen; so aufgeregt hatte er ihn nicht in Erinnerung. So lebhaft, so gespannt. Sein Gesicht hatte all das Holzige, das Zurechtgeschnitzte verloren. Da glotzte kein fischäugiger, zur Gleichgültigkeit dressierter Dandy, den kein Vulkanausbruch zu einem Augenblinken, keine winkende Freude zu einem rascheren Schritt bewegen konnte; da kochte ein von heißer Wißbegier geschüttelter, leidenschaftlicher Mensch, der nicht mehr Herr seiner Gefühle, seiner Hoffnungen war.

»Pardon, was soll denn wahr sein?« Reubke fand sich sowenig in Mückes neuem Gesicht zurecht wie in seinen Fragen.

»Daß mein Onkel . . . Natürlich. Aber nein, das können Sie ja gar nicht wissen . . .«

»Ist dieser elende Scupinsky . . .«

»Edle – wollen Sie sagen.«

»Nein – ich will ›elend‹ sagen. Ist dieser Mensch wirklich ver . . . ver . . .«

»Verhaftet ist er. Ja. Die Holländer sind zwar nach den zweibeinigen Proben, die da herumlatschen, recht phlegmatische Leute, und die Eile haben sie gewiß nicht erfunden – den Herrn aber haben sie sich prompt gelangt. Und Öltzendorffs Goldkrücke ist auch glücklich zutage gefördert. Und zwei Rubinringe . . .«

»Zwei – nur zwei . . .?« Mückes Augen wurden rund in größter Spannung. »Frau Schuchs Ring –«

»Ja, und –«

»Die Ringe von Balzer, Häfele, Eckardt . . .? Vier müssen es sein. Vier!«

»Um Gottes willen, es sind ja sogar in ›Nathan der Weise‹ nur drei!« Die Logik dieses Ausspruchs schien Reubke selbst nicht bezwingend; aber Mückes gereizte Fragerei verwirrte ihn.

»Dann hab' ich –« Mückes Züge verdüsterten sich –, »hab' ich die andern Ringe doch geträumt – halluziniert . . .«

»Sehr glaublich. Immer schöner als meine Träume . . . Ich hab' – werden Sie's glauben? – drei Tage lang nichts als fliegende Hunde gesehen . . . Die sahen alle aus wie Peterle. Lauter Peterles mit Flügeln. Und hatten Orchideen an die Schwänze gebunden mit marineblauen Schleifen.«

Mücke hörte offenbar gar nicht zu. Denn was er jetzt sagte, paßte durchaus nicht auf Reubkes interessante Mitteilungen über seinen leidenden Zustand und die damit verbundenen Sinnestäuschungen.

»Oh, wie froh bin ich – wie glücklich – wie – –!«

»Warum? Haben Sie Geburtstag?«

»Nennen Sie's so, Herr von Reubke – nennen Sie's immerhin so! Aber beim ersten Geburtstag, sehen Sie – da weiß man ja gar nicht, daß man lebt, nicht wahr? Man kennt das Wort, den Begriff ›leben‹ nicht. Man hat keine Ahnung, was da draußen blüht, singt, lockt, wartet auf uns, nicht wahr?«

Reubke hatte nie darüber nachgedacht, ob er etwas und was er an seinem ersten Geburtstag empfunden. Aber es war schon so.

»Aber sehen Sie heute – heute . . .! Da mein Geburtstag gar nicht ist und doch mein Geburtstag . . . Vielleicht – vielleicht betret' ich heute zum erstenmal festes Land – wirklich festes Land!«

»Das ist doch nicht Ihr Ernst –?« Das Symbolische lag Reubke an sich nicht.

»Denn – verstehn Sie mich recht, Herr von Reubke« – Mücke sprach das feierlich und langsam wie ein vom Staat dafür besoldeter Richter im Namen des Königs Recht spricht –, »wenn der Mann dort ein Falschspieler ist, ein Dieb, ein Betrüger, ein systematischer, skrupelloser Menschenverderber, so hat er kein Recht, als Gentleman mir die Waffe in die Hand zu zwingen, daß ich selbst ein Ende mache – nicht wahr –, Sie verstehen doch?«

»Nein!« sagte Reubke ehrlich. Aber er hatte den Eindruck, daß ihm das große Unannehmlichkeiten zuziehen konnte.

»Leben werd' ich – verstehn Sie . . . leben will ich! . . . Ein anderes Leben werd' ich leben – ein neues! Und wissen Sie, wer mir Helfer und Zeuge sein soll? Der Bruder meiner Mutter . . .«

Reubke war froh, diesmal bestätigen zu können. Er hatte allerdings schon in Tanger den Eindruck gehabt, daß Mücke lebte und leben wollte; und so schien ihm die Mitteilung des Entschlusses, zu tun, was er bisher auch getan, den reichlichen Enthusiasmus, der ihn sichtlich befeuerte, nicht ganz zu erklären. Aber Kreuzwendedich hatte gar keine Zeit, über diese wunderlichen Bekenntnisse des gewandelten Lebemannes nachzudenken, da Mücke immer stürmischer, beglückter, ekstatischer in ihn hineinredete, als mache sich eine lang zurückgedrängte, hinter fader Tünche mühsam verborgene temperamentvolle Jugend endlich Luft.

»Das soll er«, bestätigte Reubke, denn Mücke schien seine Zustimmung zu erwarten. Er hatte bloß keine Ahnung, wer der Bruder von Mückes Mutter war.

»Das ist lieb von Ihnen, Reubke, daß Sie mich verstehen – lieb! Ich danke Ihnen von Herzen!«

Reubke fühlte seine beiden Hände stürmisch geschüttelt. Er hätte dem schmächtigen Jüngling gar nicht so viel Kraft zugetraut. Und er hatte den Eindruck, daß wenig fehlte und er hätte jetzt von Mücke den Kuß zurückbekommen, den er selbst vorhin zwischen Schwammerls wohlriechend geölte Franz-Josephs-Koteletten befestigt hatte.

»So denk' ich mir ungefähr russische Ostern«, sprach er vor sich hin, als er kopfschüttelnd dem wie beflügelt Enteilenden nachsah.

*

Die »Astarte« zog langsam und würdevoll die letzte Schleife des Nordseekanals.

Verschwunden waren die saftigen Wiesen. Die Handelsstadt schob nüchtern und korrekt ihre schützenden Steindämme, ihre riesigen Speicher vor. Die roten Backsteine leuchteten in der Frühlingssonne. Kleine Dampfer hasteten fauchend und pfeifend vorbei. Auf müde daherziehenden Frachtkähnen sprangen wichtig kleine Hunde herum und bellten. Ein Motor der Hafenpolizei schoß hinüber nach dem Bahnhofskai. Ein paar Kähne, vollgepfropft mit stumpfsinnig hockenden Japanern und Chinesen, schaukelten im Kielwasser eines Dampfers der Nederlandgesellschaft, der nach Ostindien ausfuhr. Die Musik an Bord des Asienfahrers spielte »Wilhelmus von Nassauen . . .«. Hellgekleidete Damen winkten mit Tüchern. Ein feierlicher alter Herr stand, die Mütze in der Hand, zwischen ihnen und verneigte sich lief hinüber nach den Mauern, Speichern, Kranen, hinter denen mit seinen Grachten und Gärten Amsterdam lag.

Grabusch saß, reisefertig, die »Parerga« Schopenhauers in der Manteltasche, auf seinem Koffer. Die meisten Passagiere hatten, die Länge des Nordseekanals unterschätzend, schon kurz hinter der Schleuse voneinander lauten und herzlichen Abschied genommen, um sich dann während der Fahrt immer wieder aufs neue zu begegnen, etwas verlegen wieder anzureden und ihre Eindrücke über Häfen und Kanäle im allgemeinen sowie über Sprache, Charakter, Viehstand und politische Zukunft Hollands im besonderen auszutauschen.

Grabusch aber, als einer, der hier schon zum sechsten oder siebenten Male ankam, war schließlich der Mittelpunkt eines größeren Kreises. Kloppenbusch, den Krimstecher über den reichlich karierten Ulster geschnallt, das Ehepaar Tiegs, schweigsam und vornehm, Tilly und Schwammerl, verstohlen lodernde Blicke glücklichen Einverständnisses tauschend, und Pilzheimer, still und gedrückt, neben der wieder genesenen Gattin Emilie, umstanden den die Situation erläuternden Amtsgerichtsrat. In einiger Entfernung lauschten auch die Öltzensdorffs seinen Worten und Winken. Sie waren schon in Besuchstoilette, da sie – aus unbekannten Gründen – vor ihrer Abreise nach England auf dem deutschen Generalkonsulat ihre Karten abgeben wollten.

Der Amtsgerichtsrat hatte bereits in geschäftsmäßigem, wenig interessiertem Tone auf die wesentlichsten Sehenswürdigkeiten hingewiesen, die man nicht versäumen sollte. Hatte die Calverstraat genannt, Damrock mit der Börse, Industriepalast; hatte die Rembrandts im Rijksmuseum gerühmt und einen lohnenden Ausflug nach 's Gravenhage, der eigentlichen Residenz, empfohlen. Jetzt deutete er nach links auf die ungeheuren, dem Wasser entzogenen Hinterteile einiger nebeneinander in den Docks aufgereihten Dampfer und sagte:

»Wir werden bald anlegen. Da drüben sind schon Juliana en Wilhelminadok, und hier rechts der rote Turm, der da herankommt, ist das Kop van de Handelskade, das Hauptgebäude mit der Registratur.«

Er sagte das lässig und müde; nicht stolz auf sein Holländisch, denn es hatte ihn ein paar tausend Gulden gekostet, als er in Amsterdam den Gatten seiner Schwester nach dessen moralischer Entgleisung rangierte. Auch beabsichtigte er nicht, die gepriesenen Sehenswürdigkeiten persönlich aufs neue zu besichtigen; denn in seinem Herzen lebte noch die alle Unternehmungslust hemmende Enttäuschung der in dieser Nacht gezogenen Bilanz. Auch diese achte Seereise hatte ihn also seinem spät geschauten Lebensziel nicht näher gebracht! Die Ernüchterung war um so größer, als die diesmalige scharfe Prüfung der Frauen – der während der Seefahrt maskenlos sich gebenden Frauen – immerhin eine einzige Würdige übriggelassen hatte: Elisabeth Hunneberg. In der Stunde der Entscheidung aber hatte ihn selbst dann die besonders tückische Biskaya zu Werbungen untauglich gemacht; und als er endlich, wieder genesen und zu neuem Entschluß erstarkt, zunächst einmal vorsichtig bei Mister Hobsen nach Fritzchens unsichtbarem Vater diskrete Erkundigungen einzog, hatte dieses sinnvoll begonnene Gespräch rasch eine unliebsame Wendung genommen. Mister Hobsen beschränkte sich nämlich nicht darauf, seine eigne Unkenntnis in dieser Richtung achselzuckend zuzugeben. Er ließ auch deutlich durchblicken, während er eine Zigarette rollte, daß die Diva selbst ganz zuverlässige Mitteilungen über diese Frage nicht machen könne. Was er einesteils mit ihrem starken künstlerischen Temperament, andernteils mit ihrem schwachen menschlichen Gedächtnis, das auch die Souffleusen zuweilen zur Verzweiflung bringe, zu entschuldigen geneigt war . . . Während das Entsetzen dem an eine gewisse Ordnung in Familienangelegenheiten gewöhnten Grabusch die Kehle schnürte, hatte er dann noch ein unverlangtes Kapitel aus der merkwürdigen Lebensphilosophie des Amerikaners genießen müssen, die darin gipfelte: die sogenannten Eltern eines Menschen seien für diesen selbst, sobald taugliche Neigungen in ihm erwacht und die Möglichkeit der Selbsternährung gegeben seien, ziemlich gleichgültig und unbeträchtlich. Wenn man erst den Mut hätte, mit dem stark überschätzten sogenannten »Familienleben« zu brechen, würde die Selbständigkeit des einzelnen und damit der Wert der Gesamtheit erstaunlich rasch zunehmen. Er zum Beispiel wisse von der Dame, die ihn vor achtunddreißig Jahren geboren habe, nur, daß sie voriges Jahr in Aix-les-Bains eine, wie er ihr wünsche, erfolgreiche Kur gebraucht habe; und sein Vater habe nach einer ihm zufällig bekanntgewordenen Version in Nagasaki einen Exporthandel mit Kimonos begründet; nach einer andern Version habe der alte Knabe im Mormonenstaate Utah in Salt Lake City eine städtische Anstellung. Wenn dies letztere zutreffe, so hoffe er, daß die Stellung mit Pensionsberechtigung verbunden sei . . .

Grabusch hatte die weiteren und gewiß interessanten philosophischen Darlegungen des Mister Hobsen mit illustrierenden Beispielen aus dem eigenen Gemütsleben nicht mehr gehört. Seine Entschlossenheit, die Walkürenhand der Diva für seinen herbstlichen Lebensrest zu ergreifen, sank jäh in sich zusammen. Er war wieder genau so weit wie vor zwei Wochen, als er, aus dem Hafen von Genua schwimmend, sich hoffnungsvoll das erste Glas Pommard einschenkte und die Weiblichkeit der Tischgesellschaft mit prüfenden Augen musterte.

Nun saß er – den sonnenbeglänzten Kai von Amsterdam vor Augen – auf seinem Koffer, den er schon siebenmal in der Adolfsallee in Wiesbaden, froher Erwartungen voll, umständlich gepackt hatte. Er mußte zurückkehren, wie er ausgezogen war, zu seinem unfolgsamen und genäschigen Pudel, der faul wurde und nicht mehr schön roch; würde versuchen, wieder auf die Jagd zu gehen, um die Doppelflinte beim ersten schmerzhaften Jucken des Ischiasnervs wieder erschreckt an die Wand zu hängen; würde dreimal in der Woche kegeln und, wenn er Glück hatte, im September eine zähe Gans oder eine gräßlich fette Spansau dabei ersiegen, die er der Gesellschaft mit einer Champagnerbowle weit über den Wert bezahlen mußte. Würde Schopenhauer lesen und zu den Konzerten nachmittags in den Kursaal gehn. Um im Winter dann eine neue Seereise zu planen, die vielleicht . . . wenn er Glück hatte . . . und wenn die Biskaya nicht . . .

Sein Auge schweifte unwillkürlich das Deck entlang bis zu jener Stelle, wo ein ungleiches Paar in ein leises, aber leidenschaftliches Gespräch verwickelt schien. Zwingenberg, sein Kabinengenosse, hatte die letzten Tage und auch leider einen Teil der Nächte, wenn er Grabuschs Schlaflosigkeit wahrnahm, dazu benutzt, allerlei seltsame Gespräche zu führen. Gespräche, bei denen er keinerlei Antworten erwartete; gedankenvolle Monologe, die darin gipfelten, daß das weibliche Geschlecht doch noch andere Vorzüge habe als solche auf dem Gebiet der Kochkunst; daß es die Genüsse des Lebens verkennen heiße, wenn man sie abhängig mache von einer groben Köchin, die den unseligen Hang zum Lotteriespiel habe; daß es zarte und unaussprechbar warme Empfindungen gebe, die durchaus nicht an die jungen und unreifen Jahre gebunden seien; und daß mithin jeder, sofern er nur nicht schnöde das Geld andrer vergeude, seine eignen Dummheiten machen dürfe, so spät es ihm beliebe.

Jetzt stand der zu neuem Frühling erwachte Zwingenberg da unten bei Selma, die einen ihrer größten und blumenreichsten Hüte trug. Ihre längst sorglich von Scupinskys beschlagnahmtem Gepäck geschiedenen Koffer, Taschen und Hutschachteln standen bereits bei dem unansehnlichen rindsledernen Schiffskoffer des neuen Freundes.

Die Aussprache der beiden aber – die nur durch eine kurze Vernehmung Selmas vor dem Kapitän und dem holländischen Kriminalbeamten peinlich unterbrochen worden – hatte mit zarten Angelegenheiten des Herzens und der schönen Empfindungen begonnen und mit gemeinsamer Abfassung eines knappen Telegramms geendet. Diese Depesche gedachte Zwingenberg unverzüglich von Amsterdam an seine Bank zu schicken, um sich in das Hotel nach Scheveningen, das Selma empfahl, die nötigen, nicht ganz unbedeutenden Summen für eine standesgemäße, auf einige Wochen berechnete Verpflegung zweier Liebender senden zu lassen.

*

Der Kapitän Jürgens hatte ausnahmsweise das Kommando auf der Brücke während des Anlegens dem ersten Offizier übergeben. Er hatte den dringenden Wunsch, den ärgerlichen Fall Scupinsky der Amsterdamer Behörde als eine fertige Sache zu übergeben, klargestellt, protokolliert und ohne jede lästige Weiterung für seine andern Passagiere.

Aus den Aussagen Tillys, Erichs und Balzers hatte sich rasch ergeben, daß es sich hier um zwei ganz gleiche Ringe handelte. Um zwei edle indische Rubine, die aber immerhin beide selten schöne Steine darstellten. Mückes Aussagen hatten dann noch einmal Verwirrung in die Angelegenheit getragen; bis sich Erich entsann, daß er damals in der Sternennacht von Granada, kurz ehe er sich seines Ringes auf eine, wie er jetzt zugab, vorschnelle und törichte Weise entledigte, den auf die Zigeuner wartenden Herrn Otto Häfele da unten hatte herumgeistern sehen. Da später aber der kleine Kapellmeister zum Lohn für seine Rettungsaktion in Tanger den Ring von den auf dem Landweg verschwindenden Häfeles zum Geschenk erhalten hatte – angeblich als einen Ring der Zigeuner, die nachweislich gar nicht erschienen waren –, so lag der logische Schluß nahe, daß Otto Häfele der glückliche Finder des Ringes gewesen war. Er mochte Stein und Fassung für nicht sonderlich wertvoll gehalten und den Ring dem Kapellmeister deshalb geschenkt haben.

Jetzt ging der Kapitän auf die kleine abseits stehende Herrengruppe auf dem Promenadendeck zu, deren Zusammensetzung sein altes Seemannsherz erfreute.

»Daß sich Herzen finden auf der See« – mit einem breiten, gutmütigen Schmunzeln zwischen Bergemann und Mücke tretend und sich in beide leicht einhakend, sagte er das, feierlich, wie ein angestellter Erklärer von Raritäten und Kostbarkeiten –, »daß sich Herzen finden auf See . . . das ist eine alte liebe Erfahrung, meine Herren. Aber die beiden Herzen, die so tun, glauben Sie mir das, der ich mehr auf dem Wasser schaukle als auf dem weit tückischeren Festlande herumkrieche, sind meistens verschiedenen Geschlechtes. Hier haben wir nun mal die ganz seltene Freude, einen jungen Mann dem Bruder seiner Mutter zuführen zu dürfen, der ihn auf dem unübersichtlichen Kontinent nicht finden konnte. Und – hm« – er stockte und sah mit einem listigen Augenblinzeln Mücke von der Seite an – »es scheint ja, als ob das Wiedersehn zur rechten Zeit stattgefunden hätte. Der Edle von Scupinsky hat in seiner ohnmächtigen Wut allerlei Andeutungen gemacht . . . von Ehrenhändeln ›amerikanischer‹ Art . . . Übrigens – holla! jetzt weiß ich's, was Sie mir die ganze Zeit so verändert erscheinen läßt, mein lieber Herr Mücke –, wo haben Sie denn Ihr schönes Monokel?«

Mücke hielt seinen Blick ruhig aus. Ein ganz unaffektiertes, menschliches Lächeln stieg, von einer leisen, knabenhaften Röte begleitet, in das endlich belebte Gesicht, als er antwortete:

»Es liegt bei einem Revolver und andern Dummheiten tief unten wo im Atlantischen Ozean, Herr Kapitän.«

»So ist's recht, junger Mann!« Jürgens' breite Hand klopfte fröhlich Mückes schmale Schulter. »In Ihrem Alter kann man noch, wie Kolumbus, an jede Küste steigen. Zu immer neuen Entdeckungen, immer neuen Möglichkeiten. Sie waren – nehmen Sie mir's nicht übel –, als Sie in Genua an Bord kamen, ein bißchen . . . alt für Ihr Alter.«

Bergemann legte seinen Arm fest in den Arm des Neffen: »Jetzt werden wir beide noch einmal zusammen jung, Herr Kapitän! Und Ihnen und Ihrem schönen Schiff danken wir die Wunderkur.«

Der Kapitän wehrte ab. »Nicht dem Schiff, Herr Sanitätsrat. So sehr ich's liebe, ich muß das Lob ablehnen. Mir noch weniger. Dem Meer, wenn Sie wollen, nur ihm. Dem Meer, das gut und groß und gerecht ist. Die Mägen mag's ein Weilchen frotzeln – aber es weckt und weitet die Herzen . . . Bloß Sie, mein lieber Herr Doktor,« und er wandte sich, den Ton wieder leicht nehmend, an Erich, der mit unruhig flackernden Blicken das Deck hinaufsah, »Sie scheinen mir ohne Gewinn die brave ›Astarte‹ zu verlassen.«

»Doch nicht.«

»Nun, eine Freude kann ich Ihnen jedenfalls machen. Den Rubinring hier stell' ich Ihnen wieder zu. Ob es der Ihrige ist oder – der andere, ja, das läßt sich freilich nicht feststellen. Doch da sich Frau Schuch bereit erklärt hat, ohne weitere Untersuchung den einen davon zu nehmen – sie hat ja nun wohl auch das Glück gefunden, das der Rubin erst bringen sollte –, so machen Sie vielleicht auch keine Schwierigkeiten und nehmen den andern?«

»Gern, Herr Kapitän. Ich hatte mein Anrecht an jenen Rubin ja eigentlich schon aufgegeben. Freiwillig in Granada. Und nun –«

Über Erichs gespannte Züge zuckte plötzlich ein Leuchten. Er hatte Hilde entdeckt, die Tilly Schuch eine vergessene Handtasche aus der Kabine brachte. Mit einem hastigen Griff faßte er einen vorüberkommenden Matrosen am Ärmel.

»Wären Sie so gut, Fräulein Hilde – ich meine, der Stewardeß dort – zu sagen, daß wir . . . daß der Herr Kapitän sie einen Augenblick bitten läßt . . .«

Der Matrose griff an die Mütze und eilte, den Auftrag zu bestellen.

»Sie verzeihen die Eigenmächtigkeit, Herr Kapitän – ich wollte Sie nämlich bitten, dem Fräulein . . .«

Hilde war gekommen und stand, sichtlich etwas betroffen, vor dem Kapitän, der selbst nicht recht wußte, was hier geschah.

Erich sah unverwandt in das hübsche Gesicht, das in der Blässe, die es jetzt überzog, jener Madonna von Padua mehr glich denn je zuvor. Jenem süßen Köpfchen der Schmerzensreichen mit der edelgeschwungenen römischen Nase, mit den feingeführten dunklen Augenbrauen, mit dem krausen, fast schwarzen Haar, in dem, mehr ein irdischer Schmuck als ein Zeichen himmlischer Abkunft, das schmale Gold des runden Heiligenscheines lag.

Erich sprach zum Kapitän, aber sein Blick sank dabei tief, bittend, hoffend, versprechend in die dunklen Augen Hildes. Er sprach langsam, jedes Wort betonend, und nur ein ganz leises Zittern in der Stimme ließ erkennen, daß sein aufgewühltes Herz in rascheren Schlägen arbeitete: »– – wollte Sie bitten, Herr Kapitän, dem Fräulein für drei Tage Landurlaub zu geben . . .«

»Was denn –?«

Der Kapitän schaute aus großen, verblüfften Augen drein.

». . . Ich habe –« Erich stockte. Sein Blick war von Hildes Augen heruntergeglitten zu der kleinen silbernen Marguerite an ihrem Halse. Seltsam, dachte er, ich habe als Knabe Margueriten schon so geliebt. Ganze Arme voll bracht' ich von den Wiesen nach Haus und verteilte sie in die Ziergläser. Sie soll immer Margueriten tragen. Margueriten, wenn sie erst . . . Und dann hörte er Musik. Die österreichische Hymne, kräftig von Blasinstrumenten in den holländischen Frühlingsmorgen hinausgeschmettert. Da besann er sich wieder, wo er war, und vollendete rasch, zuversichtlich und mit jugendlicher Freude an der Verblüffung der andern:

»Ich habe durch Funkspruch meine Mutter nach Amsterdam gebeten. Als ich abreiste von Berlin, versprach ich, ihr eine Tochter mitzubringen. Ich habe leider zunächst die Richtung meiner Reise falsch gewählt. Bin erst nach Büssigheim gefahren, statt gleich nach Genua. Aber jetzt . . .« Er griff in die Tasche und entnahm ihr den Rubinring, der herrlich in der Sonne funkelte. Mit einem Blick, aus dem alle Feuer der Hoffnung brachen, reichte er ihn Hilde: »Niemand weiß mehr, ob es der glückbringende Rubin der Herzogin ist oder der andere. Aber wollen Sie ihn tragen, Hilde, so soll er Glück bringen – Ihnen . . . und mir!«

Der alte Sanitätsrat hatte die Augen geschlossen, als ob ihn die Sonne blende, die dort auf den Dächern der Speicher lag. Sein alterndes Herz fuhr nicht in Amsterdam ein in diesem Augenblick. Sein Herz war wieder jung; und vor dem Auge seiner Erinnerung stand in der kleinen deutschen Stadt wieder das Bürgerhaus mit den grünen Läden und den roten Geranien an den Fenstern, das altmodische, reputierliche Gelehrtenheim. Und ein Mädchen kam ihm an der Treppe entgegen, ein scheu zurückgedämmtes Hoffen auf Glück in den hübschen, lustigen Augen. In den Augen, die sie später aus braver, leidenschaftsloser Ehe mit einem andern ihrem einzigen Sohne Erich mitgab in die Welt. Nach einem Menschenalter sollte er sie wiedersehen, die Geliebte seiner Jugendträume, Klara Winternitz, aus deren holdem Bann er beschämt geflohen war, damals, vor einem Menschenalter, unwürdig geworden durch den eigenwilligen Leichtsinn der Schwester.

»Was haben Sie, Sanitätsrat?« Erichs Stimme klang ehrlich bekümmert. »Sie sollten doch verstehen.«

»Ich verstehe, Erich. Mehr als das: ich freue mich von ganzem Herzen! Der Tag blendet bloß ein bißchen meine alten Augen. So viel Licht auf einmal . . .«

»Ja, wahrhaftig, die Sonne meint es gut mit uns!«

»Das Leben auch, Erich. Nur verlangt es von manchem die Kraft und die Ruhe, zu warten.«

 


 


 << zurück