Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher
Platons Werke. Erster Theil
Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher

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Laches

In der Übersetzung von
Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher

Einleitung

Dieses Gespräch sei unter den kleineren, welche unmittelbar vom »Protagoras« abhängen, das erste, weil es demselben so nahe ist, daß es nur als ein Anhang oder eine Erweiterung seines letzten Teiles kann angesehen werden. Von der Tapferkeit nämlich, deren richtigen Begriff aufzufinden die nächste Aufgabe des »Laches« ist, war auch im »Protagoras« die Rede gewesen in Beziehung auf die Streitfrage von der Einheit aller Tugenden oder ihrer Verschiedenheit. Protagoras, in Behauptung der letzteren schon durch mehrere Beispiele in die Enge getrieben, hatte sich dennoch durch einen freilich günstigen Schein bewogen die Tapferkeit vorbehalten als eine Ausnahme von jener Gleichheit, weil sie ihrer Natur nach sich von allen unterschiede, und auch in der Erfahrung sehr oft von den andern getrennt anzutreffen sei. Wogegen Sokrates gezeigt hatte, daß wenn darauf gesehen wird, wie die Tapferkeit sich in der Erscheinung darstellt als Mut und Kühnheit, diese doch den Namen jener Tugend nur erhielten, sofern Sachkenntnis und Beurteilung damit verbunden wären, so daß diese eigentlich das Unterscheidende der Tapferkeit von der Verwegenheit und Tollkühnheit ausmachten, und also auch jene Tugend auf berechnende Klugheit hinauslaufe. Gegen diesen Erweis hatte sich Protagoras auf eine, wie schon dort bemerkt worden, eigentlich nichtige und ungehörige Art verwahrt, welche sich Sokrates offenbar nur deshalb gefallen lassen, weil die weitere Erörterung auf diesem Wege ihn von dem Ziele, welches er eben vor Augen hatte, allzuweit würde abgeführt haben. Dafür eröffnete er dort die Untersuchung von einer andern Seite, indem er erwies, daß unter der Voraussetzung, das Angenehme sei überall das Gute, man auch dem Unangenehmen nur als Mittel zum Angenehmen mutig entgegengehen dürfe, und also auch die Tapferkeit nichts anderes sein könne als das richtige Abmessen des entfernten Angenehmen gegen das nahe Unangenehme, also Meßkunst, also Verstand und Klugheit. Dieses auf die Hauptfrage des Protagoras über die Lehrbarkeit der Tugend angewendet war der Schluß des Gespräches; die Frage aber von der Tapferkeit war offenbar hiemit nicht erschöpft, sondern vielmehr so disharmonisch unaufgelöst liegengeblieben, daß Platon es schwerlich dabei konnte bewenden lassen. Denn die erste Betrachtung hatte er unbeendigt aufgegeben, und von der zweiten war die Voraussetzung gar nicht die seinige, in welcher Hinsicht noch überdies auch damalige Leser sich leichtlich eben so täuschen konnten, wie es späteren begegnet ist. Dies also ist die Meinung dieses kleineren erläuternden Gespräches, in welchem auch, was von der Tapferkeit gehandelt wird, sich unmittelbar an jene Untersuchungen anschließt, um sie genauer und mehr aus Platons eignem Gesichtspunkt zu fassen. Daher zuerst, daß Kühnheit in der Erscheinung den Begriff der Tapferkeit nicht erschöpft, indem das Gebiet desselben über das eigentlich sogenannte furchtbare weit hinausgeht, und nicht minder auch der Widerstand gegen jede Art der Unlust, ja auch gegen die Lust zur Tapferkeit gehört, daß also Beharrlichkeit eher das Unterscheidende derselben ausdrücken würde. Auf diese Weise berichtiget wird nun die erste Untersuchung des »Protagoras« wiederholt und zu Ende geführt, daß nämlich teils nicht jede Beharrlichkeit Tapferkeit sei, auf der andern Seite aber auch nicht etwa nur die für einen gewissen Zweck oder Ausgang verständig berechnete, indem das sittliche Urteil, daß etwas tapfer sei, weder mit dem Grade der Beharrlichkeit, da es auch eine zu große tadelnswürdige gebe, noch auch mit dem Grade der Klugheit in der Berechnung Maß halte. Daher überhaupt die Tapferkeit nicht als eine sinnliche Stärke zu denken sei, weil sonst auch den Tieren müßte Tapferkeit zugeschrieben werden, welches Nikias, unstreitig die Meinung des Platon verkündigend, leugnet. Die zweite Frage aber aus dem »Protagoras« wird nicht eher wieder aufgenommen, bis, um jede Täuschung unmöglich zu machen, jene Voraussetzung, daß das Angenehme dem Guten gleichgeltend sei, aufgehoben und ein Unterschied zwischen beiden gesetzt ist. Hiezu war nicht leicht ein Vergleichungspunkt besser und faßlicher als die Wahrsagekunst. Denn offenbar wenn alles Sittliche nur Meßkunst des Angenehmen ist: so kann das Wissen, welches die Tugend ausmachen soll, nichts anderes sein als das Vorhersehen des Ausganges und seines wirklichen Lustwertes. Hievon nun wird die Erkenntnis des Guten hier gänzlich unterschieden, und dann erst dargetan, daß sofern auch die Tapferkeit eine solche Erkenntnis sein soll, sie keine von den andern Tugenden unterschiedene besondere Tugend sein kann, weil der einzige Einteilungsgrund, nach dem dieses, wenn man auf den gewöhnlichen Gehalt des Begriffs sieht, geschehen könnte, nämlich der von der Zeit hergenommene, bei sittlichen Dingen nicht in Betracht kommt. Auch hier wird daher das Ergebnis bestätiget, daß die Tugend ein Unteilbares ist, und daß dieselbige Kraft, welche die eine hervorbringt, auch alle anderen erzeugen muß. Indem also über den Begriff der Tapferkeit die Untersuchung fortgesetzt wird, werden zugleich die höheren ethischen Ideen, welche im »Protagoras« angelegt waren, nicht nur durch deutlichere Widerlegung des entgegengesetzten bestätiget, sondern auch wirklich weiter ausgezeichnet, wenn gleich, wie es in dieser Klasse der Platonischen Gespräche gewöhnlich und den Grundsätzen derselben angemessen ist, nur gleichsam unvermerkt und mit unzusammenhängenden Strichen, damit derjenige allein sie finde, der schon auf den Weg gebracht war sie allenfalls selbst zu erfinden. Denn was in seiner Unschuld Laches über das Wesen der sittlichen Weisheit sagt als Harmonie der Seele und Übereinstimmung des Wissens und Lebens, dies ist der rechte Schlüssel zu der Platonischen Theorie der Tugend, und wie er es meinen könne, daß sie eine Erkenntnis sei oder ein Wissen. Welches beiläufig bemerkt nicht der einzige merkwürdige Fall ist, der die gewöhnliche Behauptung sehr beschränkt, daß Platon seine Meinung immer durch den Sokrates kund tue, oder sonst durch die als die weiseste sich auszeichnende und den Dialog leitende Person. Denn weder ist alles, was diese sagt, auch durchaus Platons Meinung, welcher vielmehr auch die Leitenden vieles sagen läßt von der Ansicht der Anderen aus um ihre verborgenen Widersprüche aufzudecken, noch auch ist nur das allein das rechte, was der Leitende sagt, sondern auch Manches was er von Andern gesagt ohne Widerlegung hingehn läßt, und was der aufmerksame Leser leicht durch den eignen Ton, in welchem es gesagt wird, unterscheidet.

Soviel von dem Hauptinhalte des Gespräches, der freilich dort der äußeren Einkleidung wegen etwas anders geordnet ist, jedoch nicht so abweichend, daß irgend jemand die hier angedeuteten Beziehungen auf den »Protagoras« verkennen wird. Auch zur Erläuterung und Verherrlichung der dialogischen Methode, man erinnere sich wie sehr diese im »Protagoras« eine Hauptsache war, kommt hier noch Manches vor, unter andern eine sehr deutliche, als Rechtfertigung vielleicht gegen Mißverständnisse des »Lysis« und »Protagoras« vorgebrachte Erklärung darüber, daß niemals die Absicht eines solchen Gespräches die sein könne nur dem Andern seine Unwissenheit zu zeigen, indem man doch selbst nichts wisse; denn dies ist unstreitig die Bedeutung der Stelle, worin Nikias eben dieses als etwas Verächtliches an dem Laches tadelt. So wie auch die Äußerung, daß es gleichgelten müsse, ob der Belehrende jünger sei und unberühmter, gewiß eine Verteidigung des Platon selbst ist, wegen seiner Behandlung des Lysias sowohl als des Protagoras; und die andere gegen die, welche meinen das Alter solle den Verstand von selbst mitbringen, hat eine gleiche Richtung. Auf solche Einzelheiten den Leser des Platon aufmerksam zu machen kann nicht überflüssig sein, teils weil sie den Zusammenhang dieser Gespräche noch mehr ins Licht setzen, teils damit er zeitig lerne die Absichtlichkeit des Schriftstellers gehörig zu würdigen.

Dieses durchgängige Anschließen an den »Protagoras« nun sichert dem »Laches« unstreitig seinen Platz in der Reihe der Platonischen Gespräche, ohnerachtet Aristoteles, wo er in seinen ethischen Werken von der Tapferkeit redet, desselben nirgends deutlich erwähnt. Welches auch nicht zu verwundern ist, und keinen Verdacht erregen kann; denn für ihn, der im Allgemeinen die Platonische Ansicht des Guten sowohl als der Tugend bestreitet, wäre es überflüssig gewesen, bei Platons Behandlung der einzelnen populären Tugendbegriffe und seinen Einwendungen dagegen besonders zu verweilen. Überdies aber ist alles Äußere hier so ganz platonisch, ja zum Teil ebenfalls aus dem Zusammenhange mit dem »Protagoras« zu erklären, daß wohl Keinem von keiner Seite irgend ein Zweifel übrig bleiben kann. Der Reichtum des Beiwerkes, der Wechsel der Redenden, die Anwesenheit stummer Personen ist ganz wie Fortsetzung des »Protagoras«. Und was die Wahl der Personen betrifft, so stimmen Lysimachos der Sohn des Aristeides und Melesias, der Sohn jenes Thukydides, der lange Zeit mit vielem Verstande dem Perikles das Gegengewicht hielt, sehr genau zu der im »Protagoras« zuerst aufgestellten Bemerkung, daß die größten Staatsmänner dennoch des Bildens zu ihrer Kunst unfähig gewesen. Offenbar sind sie auch zugleich da zur Verteidigung der Jugend durch eine fast komisch gehaltene Darstellung des zwar gutmeinenden aber unfähigen und geistlosen Alters, und um zu zeigen wie ganz nichtig solche Vorwürfe sind, da das ganz hohe Alter, am meisten wenn es auch auf nichts anderes stolz zu sein hat, auch Männer von den reifsten Jahren, wie Lysimachos es hier dem Sokrates macht, herablassend als Jünglinge zu behandeln pflegt. Bei der Wahl der übrigen Personen scheint eine allgemeine Absicht gewesen zu sein, den Vorwurf abzuwälzen, als ob sich der Platonische Sokrates nur gegen Knaben und Sophisten zu brüsten verstehe. Darum sind die Knaben zwar hier, aber stumm, und die eigentlichen Unterredner Edle von den ersten ihres Gleichen, mit denen Sokrates von demjenigen redet, was sie billig verstehen sollten, von der Tapferkeit nämlich mit Heerführern. Von welchen Laches vor anderen mag gewählt worden sein zur Verherrlichung des Sokrates als dessen Kriegsgefährte und Augenzeuge seiner Tapferkeit. Dem Nikias aber, von welchem Plutarchos sagt, er sei von Natur der Verwegenheit und den übermütigen Hoffnungen abgeneigt gewesen, und habe nur durch glückliche Erfolge im Kriege die angeborene Furchtsamkeit bedeckt, diesem ziemte es besonders die ungewöhnliche Meinung von der Tapferkeit zu verteidigen, welche sie mehr zu einer Sache der Einsicht und des Verstandes macht. Nur die zu ausführliche Behandlung der ersten Frage über das Waffenkunststück, und die ganz artige aber doch wenig hergehörige Erzählung von dem Sichelspeere des völlig unbekannten Stesilaos ist nicht recht zu verstehen; und es möchte sich schwerlich eine andere Auskunft darüber geben lassen, als daß sie ein üppiges Übermaß ist von jenem Scherz, welcher wie im »Phaidros« gesagt wird, jeder Schrift notwendig muß beigemischt sein.


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