Carl von Ossietzky
Sämtliche Schriften – Band IV: 1927–1928
Carl von Ossietzky

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

786

Herbert Ihering gegen die Volksbühne

Vor ein paar Wochen hat Herbert Ihering im Selbstverlag eine kleine Broschüre erscheinen lassen: »Der Volksbühnenverrat«, die in schärfster Weise unsre gegenwärtige theaterpolitische Situation beleuchtet. Diese sechzehn Druckseiten bilden in ihrer Zurückhaltung und stilistischen Gediegenheit eines jener heute immer seltener werdenden publizistischen Meisterstücke. Daß der Ruf eines grade von der jungen Generation hochgeachteten Kritikers fast resonanzlos geblieben ist, scheint mir aber zu beweisen, daß die Gründe des Verfalls tiefer liegen als die von ihm aufgezeigten. Seine Schrift ist eine schroffe Akkusation gegen die Volksbühne und gegen die jetzige Direktion Neft besonders.

Ihering geht historisch vor. Er legt dar, daß das schöne, große Theaterhaus am Bülowplatz von Anfang an schlecht betreut war. Sein erster Leiter war Emil Lessing, ein Regisseur aus Otto Brahms Hinterlassenschaft, der 1914 mit einem Programm von 1890 schon seltsam verjährt erschien: »ein Handweber im Zeitalter der Maschine.« Dann folgt eine Reinhardt-Episode: Max Reinhardt ist »das Gegenprinzip der Volksbühne, der geniale Vollender des bürgerlichen Theaters«. Das ist »der Wendepunkt der Volksbühne, Bruch der Bewegung, Verrat und Beginn des Abstiegs«. Von jetzt ab herrscht nicht mehr die Sehnsucht nach Vollendung des eignen Typs, sondern der Wunsch ebenso fein zu sein wie das bürgerliche Theater. Man versäumt, sich Jeßner zu verpflichten. Friedrich Kayßler kommt: »Ein Priester der Schauspielkunst, Bühne als Kathedrale. Das Publikum nahte sich auf Filzpantoffeln. Nur kein Laut. Ruhe, der Meister predigt. Schlummer, Grabesstille.« Mit dem schattenhaften Fritz Holl setzt die Omnipotenz des Vorstandes ein. Doch man wünscht »nicht einmal den Schein des künstlerischen Direktors«. Nach dem Piscatorkonflikt wird nicht nur die Opposition eskamotiert, auch Holl muß gehen, und der geheime Gewaltige, der Verwaltungsdirektor Neft wird nun auch künstlerischer Leiter. Doktor Nestriepke, der Einpeitscher des Volksbühnenverbandes sorgt für eine dementsprechende Außenpolitik: Koalition mit der schwarzen und schwarz-weiß-roten Gesellschaft des Herrn Gerst. Burgfriede. Das ist der Stand von heute. Die Volksbühne ist nur noch eine Abonnentenorganisation. »Aus einer geistig politischen Bewegung wurde ein Konsumverein.« Dem Charakter als Massentheater ist sie in dreizehn Jahren drei Mal gerecht geworden, notiert Ihering: in Fehlings Inszenierung von Tollers »Masse Mensch«, in Erich Engels »Mann ist Mann« und in den von Piscator beherrschten Aufführungen. Eine jämmerliche Bilanz.

Die Volksbühne hat am Bülowplatz von Anfang an nur Nutznießerstreben gezeigt, nur Rentnerehrgeiz gehegt. Sie hat nicht nur die militante Vergangenheit verleugnet, sie hat auch keine Dichter oder Schauspieler entdeckt und gefördert. Sie hat nur traditionsgebundenes Theater gegeben, und dies oft weit unterhalb der traditionellen Qualität, und heute, von Herrn Neft sozusagen künstlerisch geleitet, läßt sie sich von jedem bürgerlich-kapitalistischen Privattheater schlagen. Das gesichertste der berliner Theater ist das trägste und tristeste. In jedem noch so kommerziell geführten Theater gibt es Dramaturgen und Regisseure, die Experimente befürworten und wagen. In der Volksbühne regiert als geistige Zentrale Herr Julius Bab, ein schätzenswerter Theaterhistoriker, als unsichtbarer künstlerischer Berater ein lederner Pedant, der seine erstaunliche Belesenheit zur Auskramung aller Langweiligkeiten der Weltliteratur benutzt.

Wie soll da Wandel geschaffen werden? Ihering ruft die Mitglieder auf, sich des Instanzenapparates zu bemächtigen und sich nicht weiter von einem Bäckerdutzend gängeln zu lassen. Aber die Mitglieder sind ganz zufrieden. Alle Kritik, sei sie politisch oder ästherisch radikalisierend, fließt an ihnen vorüber. Von der geschäftlichen Übereinkunft mit der Piscator-Bühne machen etwa dreizehn Prozent Gebrauch. Eine charakteristische Zahl. Aber das Elend der Volksbühne ist nur Abbild des geistigen Zustandes der Arbeiterparteien überhaupt. Der falsche Kollektivgeist, der verlogene Appell an die »Solidarität« hat die Aktivität der Einzelnen gelähmt, den Glauben an die Unfehlbarkeit der Organisation unerschütterlich gemacht. Der Arbeiter rückt der bürgerlichen Gesellschaft nicht als Verfolger, sondern als Parvenü nach – in der Politik wie im Theater nimmt er die von ihr verlassenen Stühle mit kritikloser Genugtuung in Besitz und delektiert sich am Chik von vorgestern. Es ist kläglich aber wahr, daß die Kämpfe um die Volksbühne bisher vornehmlich von radikalen Bürgerlichen geführt wurden, die wohl in proletarischen Jugendorganisationen etwas Echo fanden, aber nicht unter den alten Mitgliedern der Volksbühne selbst. Die haben alles mit gleicher Andacht geschluckt, und ihr Ideal wäre gewiß ein roter Wildenbruch, ein Alt-Heidelberg mit Reichsbannerabzeichen. Ein großer Augenblick allerdings ist versäumt worden. Der Krach um Piscator hätte ausgenutzt werden müssen. Damals war die Volksbühne so aufgelockert, wie es diese zähe, trockene Masse nur sein kann. Aber Piscator verzichtete auf den Kampf innerhalb der Volksbühne; die schmetternde politische Demonstration ging ihm über den schweigenden Kampf um jeden Fußbreit Terrain. Der Mann, der im Laufe kurzer Zeit der Führer und Erneuerer der Volksbühne hätte werden können, stürzte sich selber in ein hoffnungsloses Unterfangen.

Herbert Ihering wirft den Leitern der Volksbühne »Verrat« vor. Ach, verraten zu sein, ist immer der Trost der Geschlagenen. Was die Herrschaften auch verfehlt haben, sie könnten nicht jahrelang ruhig ihre Allmacht genießen, wenn nicht heute das Theater selbst in die dritte Reihe gerückt wäre. Es hat nicht mehr die alte Bedeutung. Deshalb wird es auch nicht mehr als Kampfobjekt betrachtet. Es geht den Theatern wieder leidlich gut; sie sind nicht gestorben, wie man vor ein paar Jahren prophezeit hatte. Sie sind gut besucht und leben in einer einschmeichelnden Richtungslosigkeit. Ein milder Eklektizismus herrscht vor. Die Kritik hat ihren streitbaren pamphletistischen Charakter verloren und verzichtet darauf, Programme zu vertreten. Sie begnügt sich mit der Feststellung, ob ein Stück innerhalb seines Genres gelungen ist oder nicht und vermeidet höflich die Frage, ob nicht das ganze Genre in den Abtritt gehört. Alle Zeiten und Stile sind durcheinander gequirlt; es ist eine Gespenstermaskerade von Sophokles bis Edgar Wallace. Lasset die Toten ihre Toten begraben. Es gilt nur zu wachen, daß nicht die paar Lebenden mit eingesargt werden. Nicht die Vergangenheit anzuklagen, aber festzustellen, was noch lebt, tut jetzt not.

Die Weltbühne, 12. Juni 1928


 << zurück weiter >>