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Die Bothmerei

In Potsdam hat eine anmutige, elegante Frau auf dem Armesünderbänkchen Platz genommen. Diese Frau beherrscht seit ein paar Tagen die Schlagzeilen der Berliner Blätter. Sie hat Locarno und die »Rückwirkungen«, die Kabinettskrisen in Deutschland und Frankreich, den panislamitischen Aufruhr und Herrn Mussolini in den Hintergrund gedrängt. Kluge Feuilletonisten suchen ihr Lächeln zu enträtseln und beschwören zwecks Vergleich eine Galerie dämonischer Weiber von Mona Lisa bis Lulu. So kann es jetzt noch acht Tage und länger gehen.

Wir haben in den letzten Jahren Kämpfe ums Recht erlebt, Fechenbach, den Tscheka-Prozeß, den Fall Gärtner, die alle Vorbedingungen in sich trugen, Leidenschaften zu entfesseln, und das öffentliche Gewissen blieb stumm. Täglich krümmen sich arme Teufel in den Polypenarmen der Justiz, vor leerem Gerichtssaal und ein paar gelangweilten Berichterstattern spielen sich unerhörte Tragödien ab, krachen Schicksale zusammen. Um alle diese Alltagsdramen mit Alltagsmenschen und Alltagsproblemen dehnt sich schrecklich kalt eine Zone des Schweigens.

Das Grafenkrönchen der Bothmer macht ihre kleine Affäre zur knalligsten Sensation. Das große Tier Publikum verlangt seinen Fraß. Wie unbedeutend ist das, was ihr zur Last gelegt. Warum wird der Dame mit dem Adelstitel ihr Menschenrecht verwehrt, kriminell zu werden? Warum Stigmatisierung, Anprangerung wegen Bagatellen, die ohne den Potsdamer Klatsch unter Brüdern geregelt worden wären? Wie einfach und ohne an Leib und Seele photographiert zu werden, wäre das alles für Frau Schulze geworden? Die Gräfin lächelt, aber in ihrer stillen Zelle wird sie wohl Frau Schulze beneiden.

Was an der Bothmer sympathisch wirkt, das ist das muntere Gesicht, das sie sich für die Verhandlung zurechtmachte. Sie hätte ebensogut mit einer blassen Leidensmiene oder betränt wie aus einem Roman von Rudolf Herzog vor das Publikum treten können, das in weit höherem Maße ihr Richterkollegium bildet als die Herren am grünen Tisch. Sie weiß, daß es ein Schauspiel ist, und macht eine Miene dazu, wie sie zur Komödie gehört.

Inzwischen wartet alles auf ihren Zusammenbruch. Wird sie nicht doch die Nerven verlieren, wird nicht endlich der große leidenschaftliche Ausbruch kommen, die Konfession, die verzweifelte Entblößung vor aller Öffentlichkeit?

Die Spannung ist aufs höchste gestiegen. Wenn die Bothmer noch ein paar Tage lang die Kontenance wahrt, dann wird die Zuschauerschaft gelangweilt abziehen und der Schlußakt vor leerem Saal verhandelt werden. Einstweilen aber lautet das Bulletin noch immer: Alles nervös bis auf die Angeklagte!

Montag Morgen. 9. November 1925


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