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Aufbruch aus dem Lager am 8.-11. Januar.

X. In einem unbekannten Archipel.

Es war uns nicht möglich, das ganze Gepäck den steilsten Teil des Eisabhanges auf einmal hinaufzuziehen. Wir mussten zweimal fahren, und doch war es noch eine saure Arbeit. Zwei Mann zogen den Schlitten, während der dritte von hinten nachschob. Zuweilen, bei sehr glattem Eis, schwankte und schlingerte der Schlitten, zuweilen fuhr er sich an einer Schneeschanze fest. Da galt es dann, kräftig anzugreifen und gleichzeitig tüchtig zuzustossen. Langsam ging es bergan, und schliesslich hatten wir unser sämtliches Gepäck glücklich an den Ort geschafft, den wir zum Zeltplatz ausersehen hatten. Hier, in einer Höhe von 180 m über dem Meere, fing das Landeis an, sich flacher zu wölben, so dass wir schon am nächsten Tage den Versuch machen konnten, alles auf einer Fuhre zu ziehen.

Das Zelt war aufgeschlagen, und der Primus summte in dem Kochapparat. Ein Gericht warmes Essen sollte uns munden nach dieser ersten harten Arbeit. Im übrigen war es eine Wohltat, in Tätigkeit zu sein nach dem langen Stillliegen im Treibeis. Das Zeltleben ist ja stets frei und fröhlich, hierzu kam aber noch ein Reiz, der uns allen neu war, nämlich das Leben in der freien Luft, hoch oben auf dem weissen Schneelande, das sich unbetreten, einsam, weit erstreckend, zwischen scharf gepackten Nunataks dem Unbekannten entgegenwölbt.

Weit draussen im Sunde, unten im Treibeis, konnten wir noch einen kleinen, dunkeln Fleck unterscheiden, die »Antarctic«, die sich zwischen den Eisschollen hindurch arbeitete, um einen Weg an der Aussenseite der Joinville-Insel zu finden.

Aber wir hatten jetzt nicht viel Zeit, nach der alten »Antarctic« auszuschauen. Es handelte sich für uns darum, zu sehen, wie wir uns mit unsern Schlafsäcken in dem kleinen Zelt einrichten sollten. Grunden und ich legten uns jeder auf eine Seite, mit den Füssen nach dem Eingang zu, und nachdem Duse die Zeltöffnung zugeschnürt hatte, quetschte er sich mit seinem Schlafsack zwischen uns. Wir waren nun buchstäblich nebeneinander »verstaut«, kaum eine flache Hand Raum war von dem Boden des Zeltes frei geblieben, und die Längsseiten des Zeltes bogen sich ganz nach aussen unter dem Druck von Grundens und meiner körperlichen Fülle. Aber wir waren doch froh, dass der Versuch so gut ausgefallen war. Und nun zogen wir die Nachtmützen über die Augen, um uns gegen das Licht zu schützen, denn während all dieser Arbeit war es 4 Uhr morgens geworden.

Gegen 1 Uhr mittags krochen wir, vom Schlaf erquickt, wieder aus unsern Säcken, und ein paar Stunden später hatten wir gekocht und gegessen, das Zelt abgebrochen und die Bagage auf den Schlitten geladen. Die Schneeschuhe wurden oben auf dem übrigen Gepäck befestigt, denn wir waren der Ansicht, dass wir uns auf dem harten, festen Boden besser ohne sie fortbewegen würden.

Während unserer Vorbereitungen an Bord hatten wir befürchtet, dass die Last uns zu schwer werden würde, so dass wir gezwungen sein würden, einen Teil des Proviants unterwegs zurückzulassen. Jetzt stellte es sich heraus, dass wir überall, wo das Inlandeis eben war, ganz gut vorwärts kamen. Über das wellenförmige Terrain ging es natürlich schwerer, aber im ganzen waren wir sehr zufrieden mit dieser unserer ersten Erfahrung im Schlittenziehen.

Unsere Gedanken bewegten sich hauptsächlich um drei Punkte, während wir uns mit unserer Last abmühten: um das gute Essen, das unser harrte, wenn die Tagesarbeit getan war, um Mutmassungen bezüglich der zurückgelegten Entfernung und um die Beschaffenheit des vorliegenden Weges. Nach Ross' Karte, von der Erebus- und Terrorbucht hatten wir berechnet, dass wir einen süd-südwestlichen Kurs nehmen müssten, um an den innersten Teil der Sidney Herbert-Bay zu gelangen. Jetzt grübelten und berechneten wir, wie lange Zeit wir bis dahin gebrauchen würden, und alle Berechnungen gipfelten in dem einen Wunsch, dass wir eine so ebene, günstige Schlittenbahn behalten möchten.

Das Landeis hob und senkte sich in unregelmässigen, flachen Wellen, und hier und da guckten dunkle, schneefreie, spitze oder scharfgezackte Berggipfel aus der Eisdecke hervor. Quer vor uns lag ein Schneerücken, höher als die vorhergehenden. Es ging eben bergan, und wir mussten oft Rast machen. Aber schliesslich waren wir nahe am Gipfel und eine neue Aussicht breitete sich vor uns aus: Ferne Felsketten und flache Schneekuppen, von dunkeln Bergabhängen begrenzt. Aber – was war denn das da unten? Wir standen still und starrten schweigend, unschlüssig dies neue, sonderbare Bild an. Eine meilenweite Schneeebene, wie wir sie nie zuvor gesehen hatten, wahrlich, man hätte sich einbilden können, eine ganz in Schnee gehüllte Riesenstadt zu sehen mit zahllosen Häusern und Palästen in ewig wechselnden, unregelmässigen Formen, mit Türmen und Zinnen und allen Wundern der Welt!

Dieser Anblick erschien uns im ersten Augenblick ganz unerklärlich, aber es konnte ja nichts anderes sein, als eine Meeresbucht, die mit einer Unmenge von Eisbergen bedeckt war. Das Festlandeis erstreckte sich in einem sanften Abhang bis an die Bucht und schloss mit einem niedrigen Gletscherausläufer ab, der offenbar einstmals diese zahllosen und unregelmässigen Eisberge »ausgekalbt« hatte. Hart am Ufer, der Abbruchstelle des Gletschers zunächst, war das Meereis, das die Eisberge miteinander verband, hier und da zersplittert und zu Wällen und Hügeln aus Eisblöcken und grossen, auf der Kante stehenden Eisschollen zusammengeschoben. Es sah aus, als sei die Bucht lange, mindestens mehrere Jahre hindurch, mit einer zusammenhängenden Eisdecke belegt gewesen. Das Festlandeis, dessen Abbruchsteile überall den Strand der Bucht bildete, hatte, seit die Bucht zugefroren war, ihren Überschuss nicht durch Kalbung absetzen können. Daher war es allmählich weiter und weiter in die Bucht hinausgeschritten, das Treibeis mit unwiderstehlicher Kraft vor sich herschiebend und zusammenschraubend. Nie zuvor hatte ich mir ein solches Bild von der souveränen Gewalt des Eises machen können, wie es diese Landschaft vor unsern Blicken aufrollte. Das Meer mit seiner unzähligen Menge von Eisbergen und Eishügeln Unter Eishügeln sind hier alle aus dem niedrigen Pack- und Landeis aufragenden Eismassen zu verstehen, sei es Schraubeis oder Gletschereis. Erst wenn die Gletschereisblöcke grössere Dimensionen annehmen, werden sie Eisberge genannt. und seine mächtige alte Eisdecke, die stellenweise unter dem Druck der noch mächtigeren Eisdecke des Festlandes zersplittert und zusammengeschoben dalag, das alles bildete eine erstarrte Welt, die mir die Erzählung von dem hypothetischen »altkrystallinischen« Eis des Nordpolarmeeres ins Gedächtnis zurückrief, die in einer Bucht des antarktischen Festlandes zur Wirklichkeit geworden zu sein schien.

Jetzt hatten alle Hoffnungen auf eine gute Eisbahn über Land ein Ende. Die Küste machte in einem weiten westlichen Bogen eine Biegung um die neue Bucht, schon ganz in unserer Nähe fing das Eis an, uneben zu werden; da waren zahlreiche klaffende Spalten, und an der gegenüberliegenden Seite der Bucht schoben sich die Felsen mit ihren zerklüfteten Eisrücken bis an das Ufer heran. Es würde äusserst mühsam und zeitraubend gewesen sein, die Fahrt über das Festlandeis um die Bucht herum fortzusetzen, ja, es erschien sogar sehr zweifelhaft, ob wir überhaupt zwischen den Bergspitzen und Gletscherspalten würden vordringen können. Auf alle Fälle hätte sich unsere Schlittenreise derartig in die Länge gezogen, dass unser knapp bemessener Vorrat an Proviant wohl kaum ausgereicht haben würde. So wiesen uns denn alle Verhältnisse auf einen andern Weg hin: Durch das Labyrinth der Eisstadt auf das ebenere Treibeis hinaus, das wir in der Ferne liegen sahen, bis nach dem Lande, dessen dunkle, steil abfallende Küsten weit vor uns im Süden aufragten. Aber wir wussten nicht recht, wo wir uns befanden. Ross' Karte von der Erebus- und Terrorbucht deutete in keiner Weise, das Vorhandensein dieses weit ausgedehnten, eisbedeckten Gewässers an, das hier vor uns lag. Die uns zunächst gelegene Bucht mündete in einen grösseren Fjord, der uns von dem ganz im Süden aufragenden Lande trennte und nach Südosten zu, wo ein in Nebel gehüllter Bergkamm die Aussicht verschloss, mit dem offenen Meere in Zusammenhang stehen musste. War etwa dieser Fjord identisch mit der Bucht, die Ross auf seiner Karte als Sidney Herbert-Bay bezeichnet? Duse, der im vorhergehenden Sommer mit der »Antarctic« in der Sidney Herbert-Bucht gewesen war, konnte nichts von dem, was er hier sah, wiedererkennen. Deswegen beschlossen wir, unser Zelt dort aufzuschlagen, wo wir jetzt standen, und am nächsten Tag den Bergkamm im Südosten zu besteigen, um eine bessere Übersicht über die Verhältnisse zu gewinnen.

Es war bereits Mitternacht, ehe wir unsere Schlafsäcke aufsuchten.

Als wir am nächsten Morgen gegen 9½ Uhr erwachten, schien die Sonne von dem jetzt wolkenlosen Himmel mit blendendem Glanz auf die Schneelandschaft und die Bucht mit den Tausenden von Eisbergen herab. Bei unserer Wanderung auf den Bergkamm trugen wir Schneebrillen; oben angelangt, nahm Duse die seine ab, um bei dem Ausmessen und Skizzieren für die Kartierungsarbeiten besser sehen zu können. Aber er sollte diese Unvorsichtigkeit so schwer büssen, dass es für uns alle eine Mahnung zu grösster Vorsicht war.

Auch oben auf dem Berge war die Aussicht nach dem Meere zu durch hochgelegenes Land in südöstlicher Richtung versperrt. Aber was wir hier oben sahen, diente uns doch in mehr als einer Hinsicht zur Aufklärung. Das Eis auf dem grossen Fjord lag offenbar ungebrochen da, und nur einzelne, zerstreute Eisberge schienen dort aus dem Festeis aufzuragen. Das Land am jenseitigen Ufer dieses Fjords war an den meisten Stellen unzugänglich infolge seiner lotrechten, dunkeln Küstenabhänge, an einem Punkte aber schien das Festlandeis sanft nach dem Meere zu abzufallen. Hier musste es also möglich sein, nach dem Inlandeis hinauf zu gelangen, das sich in ebenen Wölbungen bis an einen völlig schneebedeckten, flach konischen Felsgipfel erstreckte, dessen sich von dem hellen Himmel nur undeutlich abhebende Konturen hoch über die ganze Umgebung emporragten. Dieser mächtige eisumhüllte Kegel musste der auf Ross' Karte als Mount Haddington bezeichnete Kegel sein. Dahinter lagen der Admiralitäts-Sund und Snow Hill! Und der Fjord vor uns musste doch die Sidney Herbert-Bay sein.

Unser Plan lag jetzt klar vor uns. Wir mussten über das Meereis bis an den Punkt des südlichen Landes wandern, wo eine Landung möglich erschien, um auf dem Festlandeise die Reise um den Haddington-Berg bis nach dem Admiralitäts-Sund fortzusetzen. Ob dies Gewässer ein Sund oder eine Bucht war, wussten wir nicht. Die Frage, wie wir hinüber gelangen sollten, mussten wir also der Zukunft überlassen.

Nachdem wir zu unserm Zelt zurückgekehrt waren und den Schlitten beladen hatten, setzten wir uns nach der Bucht zu in Bewegung. Wir schnallten jetzt zum ersten Male unsere Schneeschuhe an, und in schneller Fahrt ging es den ebenen, langen Hügel hinab.

Hier am Abhang machten wir eine eigentümliche Beobachtung. Vom Strande herauf, quer über unsern Weg lief eine breite, zickzackförmige Spur über die ebene Schneefläche. Sie sah ganz frisch aus, und nirgends kreuzte sie unsern Kurs wieder in der Richtung nach dem Strande zu. Leider hatten wir keine Zeit, die Spur zu verfolgen; offenbar musste das Tier, von der sie herrührte, sich irgendwo oben auf dem Abhang befinden. Etwas anderes als ein Seehund konnte es nicht sein. Es war uns sehr überraschend, die Spuren eines vierfüssigen lebenden Wesens hier mitten in der Schneewüste in meilenweiter Entfernung von dem offenen Wasser zu finden. Wahrscheinlich war es irgend ein armes Tier, das, nachdem es sich auf das feste Eis verirrt hatte, vom Hunger getrieben, einen letzten, verzweifelten Versuch gemacht hatte, über Land das ersehnte offene Meer wieder zu finden.

Während wir den Abhang des Festlandeises hinabzogen, grübelten wir über diese geheimnisvolle Spur nach. Wir sollten aber bald erfahren, dass Seehunde (Weddell-Seehunde) hier sehr häufig auf dem festen Eise der Bucht vorkommen, obwohl das offene Wasser weit entfernt liegt. Weshalb sich einer von ihnen auf das Landeis begeben hatte, ist mir noch immer unerklärlich. Jetzt, wo ich die Lebensgewohnheiten der antarktischen Seehunde genauer kennen gelernt habe, bin ich fast zu der Annahme geneigt, dass die Spur auf einen Krabbenfresser (Lobodon) zurückzuführen ist, da diese Art Seehunde nachweislich oft an Land gehen, wo sie sich hinlegen, um zu sterben. Hiergegen spricht jedoch die Tatsache, dass wir niemals einem Krabbenfresser auf festem Eise begegnet sind, wohingegen die Weddell-Seehunde dort zu Hunderten vorkommen.

Auf dem niedrigsten Teil des Abhanges, ganz unten an den Ausläufern des Festlandeises, hielten wir eine Weile Mittagsrast. Nachdem wir eine Stelle gefunden hatten, wo eine mächtige Schneewehe eine Brücke bildete, die das Festlandeis mit dem Treibeis verband, zogen wir weiter, auf die Bucht hinaus. Aber diese letzten hundert Meter Festlandeis waren sehr beschwerlich; der Schnee war so lose, dass der Schlitten einmal über das andere festsass. Wir mussten unsere Schneeschuhe abschnallen und den Schlitten aus der lockeren Schneemasse förmlich herausgraben.

Unten auf dem Meereis war es nicht viel besser. Es machte grosse Schwierigkeit, einen Weg zwischen den dichten Schwärmen von Eisbergen, zwischen Schraubeiswällen und riesenhaften Schneeschanzen hindurch zu finden. Bald grub sich der Schlitten in den losen Schnee ein, bald sanken die Schneeschuhe durch eine dünne, verräterische Schneedecke in eine darunter befindliche Ansammlung von Schmelzwasser. Wir befanden uns nun mitten in dem weit ausgedehnten Labyrinth der Eisberge, und es erschien zweifelhaft, ob wir einen Weg durch dasselbe hindurch finden würden. Aufs Geratewohl weiter zu ziehen, war offenbar nicht ohne Gefahr; so beschlossen wir denn, einstweilen Rast zu machen und unser Zelt auf einem niedrigen, ebenen Eishügel aufzuschlagen, der uns eine feste und trockene Unterlage gewährte. Während Duse mit dem Zelt beschäftigt war, liefen Grunden und ich auf Schneeschuhen weiter, um den Weg zu rekognoszieren. Nachdem wir uns eine, ganze Weile zwischen unzähligen Eishügeln hindurchgewunden hatten, die uns nach allen Richtungen hin die Aussicht versperrten, gelangten wir an einen ziemlich hohen Eisberg, den wir erkletterten. Von hier aus sahen wir zu unserer grossen Freude, dass sich das Labyrinth der Eishügel in der Richtung, die wir einzuschlagen gedachten, sehr bald lichtete.

Nach dem Zeltplatz zurückgekehrt, wurden wir von Duse mit der Nachricht empfangen, dass er plötzlich auf dem einen Auge schneeblind geworden sei und heftige Schmerzen habe. Ich tröpfelte ihm eine Lösung von Zinksulfat und Borsäure in das Auge, das einzige Mittel gegen Augenleiden, das ich bei mir führte. Duse fand, dass es sehr lindere, und als Schutzmittel gegen Schneeblindheit tröpfelten wir andern uns von nun an auch täglich etwas von dieser Lösung in die Augen.

Überall auf dem Treibeise zwischen den Eishügeln stiessen wir auf Spuren von Seehunden, und auch in der Flutrinne, die das Meereis von den Ausläufern des Festlandeises trennte, hatten wir bei unserer Niederfahrt auf die Bucht ein paar Seehunde bemerkt. Ganz nahe an unserm Zeltplatz, neben einem ziemlich grossen Eishügel, hielten sich ein paar Weddell-Seehunde in einem kleinen Bassin auf. Der eine war auf das Eis hinaufgekrochen, der andere lag schnaufend im Wasser. An dem Boden des Bassins befand sich ein Loch, durch das sie unter das Eis verschwinden konnten.

Es ist doch sonderbar, dass die Seehunde so weit in die Eiswüste hineinwandern, meilenweit von dem offenen Wasser entfernt! Unter dem wahrscheinlich vieljährigen festen Eise muss sich ein reiches Tierleben von Krebsen und Fischen befinden. Aber diese kleineren Tierformen erfordern in erster Linie zu ihrer Ernährung das Vorhandensein eines reichen Pflanzenlebens. Eine Algenvegetation in der Finsternis unter einer vieljährigen Eisdecke! Dies ist eine Annahme, die in krassem Widerspruch zu der biologischen Grundlage steht, welche lehrt, dass Licht die Voraussetzung zu allem Pflanzenleben ist. Aber schon Kjellmans bemerkenswerte Untersuchungen in Bezug auf das Winterleben der Meeresalgen unter dem Eise bei Nordspitzbergen haben dies Gesetz gewissermassen modifiziert, und wahrscheinlich wird eine künftige Untersuchung dieser zugefrorenen antarktischen Bucht lehren, dass die Algen des Polarmeeres eine noch längere Absperrung von dem Sonnenlicht ertragen können. »Man steht vor einem ungelösten Rätsel, indem die von ungebeugter und üppiger Lebenskraft zeugenden klüftigen Pflanzenformen aus der Tiefe des Meeres mit dem Grundnetz heraufgeholt wurden, während eine gewaltige Eisdecke das Meer abschliesst, die Temperatur ausserordentlich niedrig ist und pechschwarze Nacht selbst zur Mittagszeit herrscht.« Kjellman, »Aus dem Leben der Polarpflanzen.« F. A. Nordenskjöld, »Studien und Forschungen«. 1883, S. 545. Vielleicht werden einstmals Naturforscher vom Antarctic-Sunde auf ihren Schlitten über das Festland herüberkommen mit leichten Schleppnetzen und Ketschern. Mit kräftigen Sprengstoffen werden sie grosse Öffnungen in die Eisdecke schlagen, wo sie am dünnsten ist, um dann mit ihren Geräten das unbekannte, dunkle Wasser zu durchfischen.

Es ist wahrlich bitter, über diese eigentümliche Bucht dahinzuwandern, ohne die nötige Zeit und die geeigneten Gerätschaften, um eine so verlockende Untersuchung vornehmen zu können.

Es war 3 Uhr geworden, ehe wir am Neujahrsmorgen in unsere Schlafsäcke krochen, und nach 17 stündiger Arbeit schliefen wir nun ununterbrochen bis um 3 Uhr nachmittags. Beim Erwachen war Duses krankes Auge sehr schmerzhaft und empfindlich gegen das Licht. Da ausserdem der Sonnenschein den Schnee sehr weich machte, so dass wir überall in der Nähe des Zeltes bis an die Hüften versanken, sahen wir uns gezwungen, bis Sonnenuntergang müssig liegen zu bleiben. Duse benutzte diese Zeit, um sich eine Binde mit einem dunkeln Stofflappen als Schlitz für das kranke Auge anzufertigen.

Gegen 10 Uhr abends brachen wir auf. Der Schnee war anfänglich so lose, dass der Schlitten sich oft fest fuhr, das Eis war uneben, und zwischen den unzähligen Eisbergen lagen hohe Schneewehen. Allmählich aber kamen wir auf ebeneres Eis mit nur vereinzelt liegenden Eishügeln. Schnell besserten sich alle Verhältnisse. Bei nächtlicher Kälte wurde der Schnee härter und das dünne Eis auf den Süsswasserteichen trug besser, gleichzeitig nahm sich der Nordwind auf, und von ihm getrieben, sausten wir über die Schneefläche dahin. Nach mehrstündigem strammen Marsch waren wir draussen an dem grossen Fjord, dessen Mündung in der Erebus- und Terrorbucht jetzt sichtbar vor uns lag. Zur Rechten hatten wir eine Insel mit hohen, schneefreien Bergabhängen, deren deutliche, leicht schalenförmige Schichtung mich zu einer näheren Untersuchung verlockte. Die Kameraden machten eine Weile Rast bei dem Schlitten, während ich einen Abstecher nach der Insel unternahm. Die Schneeschuhe glitten leicht, in langen Zügen über das dünne Nachteis der Schmelzteiche dahin, das zuweilen so schwach war, dass es sich unter mir bog und brach. Nie zuvor hatte ich einen annähernden Begriff von der Vorzüglichkeit der Schneeschuhe gehabt. Ein Fussgänger hätte sich schwerlich auf dies Eis wagen können, bei jedem Schritt würde er in das fusstiefe Wasser gesunken sein, während mich jetzt die Schneeschuhe leicht über die frisch gefrorene Tiefe trugen.

Das Gestein der Insel besteht aus einem groben, deutlich geschichteten vulkanischen Tuff. Von den hohen, dunkeln Felsabhängen und den mächtigen Steinhaufen stürzten ansehnliche Schmelzbäche unter brausendem Getöse in schäumenden Kaskaden bis auf den Strand hinab.

Diesmal schlugen wir unser Zelt auf dem Fjordeise auf. Wir hatten nun die bestimmte Anordnung getroffen, des Tags zu ruhen und des Nachts zu arbeiten, da dann das Eis besser trug und das Licht weniger angreifend war.

Als wir am Abend des 2. Januar abermals aufbrachen, blies noch immer ein nördlicher Wind. Mit Zuhilfenahme eines langen Schneeschuhstabes aus Bambusrohr, den wir als Mast benutzten, wie zwei kürzerer Stöcke, die als Segelstangen aufgetakelt wurden, fertigten wir uns aus unserm Zeltboden ein Segel für unsern Schlitten. Es war eine lustige Segelfahrt, die mehrere Stunden währte. Wir hatten uns vor den Schlitten geschirrt, um zu steuern und zu ziehen, wenn sich unser Gefährt in einer kleinen Schneewehe festgefahren hatte, zuweilen aber sauste der Schlitten mit einer solchen Fahrt dahin, dass wir Mühe hatten, ihm zu entrinnen. Wenn eine kleine Böe sein Segel schwellte, fing er förmlich an zu springen, und wir mussten schnell nach der Seite ausweichen, um nicht überfahren zu werden. Aber die Freude war nicht von langer Dauer. Der Wind wurde immer stärker und wir gerieten zwischen zahlreiche Eisberge und grosse, tiefe Schmelzwasserteiche. Die letzteren erstreckten sich oft heimtückischerweise quer über unsern Weg und bildeten ein verwirrendes Netzwerk, das wir nicht umgehen konnten. Vorwärts mussten wir, und das dünne, frisch gefrorene Eis brach fortwährend unter Schneeschuhen und Schlitten. Bis über die Knie wateten wir in dem eiskalten Wasser und hatten grosse Mühe, den Schlitten loszumachen, der sich in das Eis und den Schneeschlamm festgerannt hatte. Es war jetzt nicht mehr möglich, die auf dem niedrigen Schlitten liegenden Gegenstände gegen Nässe zu schützen; so blieb uns denn nichts übrig, als uns in die Verhältnisse zu finden und alle Kräfte daran zu setzen, um das Land, das vor uns aufragte, so bald als möglich zu erreichen.

Gegen 2 Uhr morgens machten wir Rast im Schutze eines hohen Eishügels, um unser Mittagessen zu kochen. Die warme Suppe mundete vorzüglich, aber durchnässt, wie wir waren, sassen wir da und zitterten beim Essen vor Kälte und freuten uns, als wir erst wieder in Bewegung waren.

Zwischen uns und dem Lande lag jetzt Eis von ganz anderer Art, als wir es bisher befahren hatten. Es war ganz eben und völlig frei von Eishügeln. Offenbar war hier bis an den unebenen, an kleinen Eisbergen reichen Rand des Eises noch im vorhergehenden Sommer offenes Wasser gewesen.

Es tat gut, auf das ebene Eis hinaus zu kommen, aber grosse Schmelzteiche hatten wir auch hier. Bald ging es schnell und leicht dahin über festes, trockenes Eis, bald patschten wir langsam durch fusstiefes Wasser, während das dünne, frisch gebildete Eis unter unsern Schritten krachend zerbrach.

Hier und da lagen einzelne Seehunde in träger Ruhe auf dem Eise. Aber in der Ferne, nach dem Lande zu, gewahrten wir eine Menge beweglicher Gestalten. Von einer Insel, die in einer Bucht nahe dem Ufer gelegen war, ergoss sich ein Strom dieser Zwerge auf das Eis, und andere Scharen befanden sich auf der Wanderung nach der Insel zu. Offenbar war dort eine ansehnliche Pinguinkolonie, und die Tiere hatten sich in diesem harten Eisjahr nicht durch die ungewöhnliche Ausbreitung des festen Eises abschrecken lassen, ihren alten Brutplatz aufzusuchen, obwohl sie nun eine Wanderung von mehreren Kilometern über das feste Eis zurücklegen mussten, ehe sie an ihr Fischgewässer am Rande des Eises gelangten. Grosse Scharen und einzelne Vögel setzten sich jetzt in Bewegung, in der Richtung auf uns zu, um die drei Riesenpinguine, die sich ihrer Insel näherten, genauer in Augenschein zu nehmen. Nie zuvor war uns die Ähnlichkeit der Pinguine mit den Menschen so aufgefallen, wie hier auf dem ebenen Eise. Untersetzte Gestalten, breitbeinig, mit watschelnden Schritten, mit den ausgestreckten, kurzen Flügeln balanzierend, kamen sie in eifrigem Laufmarsch auf uns zu. Es glich dem Sturmlauf einer kleinen Armee, die hier in geschlossener Ordnung, dort in zerstreuten Gruppen angerückt kam. Plötzlich aber, nur wenige Meter von uns entfernt, macht die Sturmkolonne des Zwergvolkes Halt. Sie standen jetzt alle still, starrten uns an unter verwirrtem Krächzen aus Hunderten von groben Kehlen und setzten ihre gackernde Beratung fort, während wir nach der Insel weiter zogen.

Es fing an zu schneien, und mit dem milderen Wetter, das mit dem Schneefall eintrat, verlor das schwache Eis der Süsswasserteiche seine ganze Tragkraft. Durch das Wasser und den Schneeschlamm watend, arbeiteten wir uns mühsam nach der Insel durch, die wir in dem Schneegestöber zuweilen ganz aus den Augen verloren. Endlich waren wir da! Aber die steilen Tuffsteinwände sahen keineswegs einladend aus, und um nicht möglicherweise hier draussen auf einem unsicheren Eissockel bei anhaltendem Tauwetter abgeschnitten zu werden, beschlossen wir, uns sofort nach dem Festland hindurchzuarbeiten, das ja keine hundert Meter entfernt liegen konnte, wenn es jetzt auch von dem Schneegestöber völlig verhüllt wurde. Durchnässt waren wir ja nun doch einmal, deswegen konnten wir unsern Weg gern fortsetzen. Hier drinnen aber waren die Schmelzlöcher heimtückisch tief. Plötzlich versank der Schlitten gänzlich in einer solchen Vertiefung, und es war klar, dass wir ihn mit seiner ganzen schweren Last nicht von der Stelle bewegen konnten. Wir mussten einen grossen Teil der Sachen abladen und sie an Land tragen. Das aber war ein Kampf ums Leben! Duse, der mehr als halb blind war, strauchelte und fiel kopfüber ins Wasser. Er ward auch über den ganzen Oberkörper klatschnass, und das Eiswasser spülte den Schutzlappen von seinem kranken Auge weg. Aber er raffte sich wieder auf und strebte weiter dem Lande zu. Schliesslich, nachdem wir dreimal hin und hergewatet waren, fanden wir uns alle auf trockenem Boden vereint wieder.

Ermattet von fünfzehnstündiger Arbeit, triefend von Wasser und vor Kälte klappernd, aber von jubelnder Freude erfüllt, festen, trockenen Boden unter den Füssen zu haben, standen wir auf dem niedrigen Landeisrande. Bald summte der Primus seine muntere Melodie in dem kleinen Zelt, und nach dem Essen und einer guten Tasse Kaffee tranken wir noch einen kleinen Kognak. Dann krochen wir in die nassen Schlafsäcke, und die Müdigkeit machte uns unempfindlich gegen Kälte und Nässe. Duse schwatzte noch ein wenig, nachdem er schon in seinem Schlafsack lag, doch bekam er keine Antwort mehr. Mich entrückte bald ein tiefer Schlaf allen Grübeleien über eine schwere Vergangenheit und eine ungewisse Zukunft.

Als wir am 3. Januar gegen 11 Uhr nachts ziemlich erquickt, aber nass und durchgefroren erwachten, galt unser erster Gedanke dem Trocknen unserer durchnässten Sachen. Bald schien die Morgensonne auf unser Zeltlager herab, das einer bunten Ausstellung glich: die Schlafsäcke waren über das Zelt und den Schlitten gebreitet, Kleider, Strümpfe, Handschuhe und Schlafmützen hatten wir auf improvisierten, zwischen Schneeschuhstäben gespannten Leinen aufgehängt. Wir selber hatten nur die notdürftigsten Kleidungsstücke anbehalten, die an unserm Leib trocknen mussten. Von Zeit zu Zeit wendeten wir unsere armseligen Lumpen und priesen den warmen Sonnenschein, den wir verflucht hätten, wenn wir noch draussen auf dem Meereise gewesen wären. Die Stimmung stieg mit dem Trocknen der Kleider, und wir waren von den besten Hoffnungen für die nächsten Tage erfüllt. Jetzt lag die Sidney Herbert-Bay hinter uns. Auffallend war es allerdings, dass wir ein so schmales Land zwischen dem Ausgangspunkt unserer Schlittenfahrt und der Bucht der tausend Eisberge gefunden hatten, aber der breite Fjord nördlich von uns musste doch die Sidney Herbert-Bay sein, falls es nicht ein ganz neuer, auf Ross' Karte nicht angegebener Fjord sein sollte. Wir hofften, jetzt bis zum Admiralitäts-Sund auf dem Landeise, weiter vordringen zu können. Es würde eine Wanderung über viele Eisrücken hinweg, um den mächtigen Haddington-Berg herum werden, aber wir würden uns doch auf trockenem Lande bewegen, bis wir an das Wasser kamen, an dessen jenseitigem Ufer die Winterstation lag. Wie wir über den Admiralitäts-Sund hinübergelangen sollten, wussten wir nicht zu sagen. War es in der Tat eine Bucht, so konnten wir versuchen, sie zu umkreisen, war es aber ein Sund mit von Schmelzwasser bedecktem Eis, so konnten wir im Notfall Schlitten, Zelt und Schlafsäcke am Strande zurücklassen, um mit ganz leichter Ausrüstung nach Snow Hill zu waten. Waren wir aber wirklich schon über die Sidney Herbert-Bucht hinübergelangt, so brauchten wir ja nicht unsere ganze schwere, Proviantausrüstung mit uns über das Inlandeis zu schleppen. Deshalb beschlossen wir, einen Teil derselben hier zurückzulassen; dies würde uns sehr zu statten kommen, falls wir späterhin im Sommer mit den Kameraden von Snow Hill aus auf demselben Wege zurückkehren sollten. Das kleine Depot, das wir auf einem aus dem Schneeabhang aufragenden Berggipfel errichteten, war folgendermassen zusammengesetzt:

Ein Sack Schiffsbrot 20 kg
Zwei Dosen boiled beef 7 kg
Margarine 2,5 kg
Eine Flasche Spiritus 1 kg
Eine nicht ganz gefüllte Kanne Petroleum 5 kg
  ______
Summa 35,5 kg

Ich machte mich auf meinen Schneeschuhen auf, um eine Auffahrtstelle für den Schlitten zu suchen. Das Festlandeis fiel nach dem Lande zu sanft ab, und nach einer Wanderung von einigen Kilometern war ich an eine ausgedehnte Schneeebene gelangt, die, soweit das Auge reichte, in leichten Wellenformen sanft anstieg. Einen bessern Weg konnten wir uns nicht wünschen.

Jetzt, wo alle Abenteuer und Widerwärtigkeiten dieser Fahrt der Vergangenheit angehören, ist es höchst sonderbar, sich unserer sanguinischen Stimmung beim Aufbruch von unserm »Kleidertrockenlager« zu erinnern. Wir hofften, in 8-10 Tagen auf der Winterstation zu sein. Vielleicht würden wir gezwungen sein, unsern Kameraden dort unten den Vorschlag zu machen, sobald wie möglich den Rückzug nach Norden anzutreten, ehe das Meereis ganz unbefahrbar wurde. Im glücklichsten Falle aber konnte auch die »Antarctic« einen Weg durch das Packeis finden, so dass wir alle unten bei Snow Hill zusammentreffen würden. Auf alle Fälle zweifelten wir nicht daran, dass wir uns bald persönlich würden überzeugen können, wie es auf der Winterstation stand. Wir riefen uns ins Gedächtnis zurück, welche Neuigkeiten von der Aussenwelt wir den Kameraden berichten konnten und überlegten, wie wir Nordenskjöld am schonendsten die Trauerbotschaft von dem Tode seines Vaters übermitteln sollten.

Gegen 8 Uhr abends (4. Januar) setzten wir uns in Bewegung. Der Aufstieg auf das ansteigende Ufer war nicht leicht, der Schnee lag lose, und der Schlitten glitt nur beschwerlich weiter, wir mussten oft unsere Schneeschuhe abschnallen und tüchtig anziehen, um den Schlitten aus einer Schneewehe herauszubringen. Während dieser harten Arbeit traten wir oft die schwachen Schneebrücken durch, die über den Spalten des Inlandeises lagen. Aber die Risse waren hier ziemlich schmal, so dass wir leicht hinübergelangen konnten. Als wir eine ganze Strecke aufwärts gelangt waren, wurde es uns schliesslich ganz unmöglich, den schweren Schlitten weiter zu schaffen. Deswegen beluden wir uns mit den drei Rucksäcken und liessen den Schlitten stehen, um auf Schneeschuhen die sanft ansteigende Schneeebene zu erklimmen.

Eigentümlich verwirrend war die Wanderung über das weisse Feld. Ganz dicht vor uns schienen die Höhenzüge des Festlandeises uns mit einer freien Aussicht auf das Unbekannte locken zu wollen, oben angekommen, sahen wir aber nur ein flaches Tal und dahinter einen etwas höheren horizontalen Kamm. Lange glitten wir Seite an Seite gen Südosten weiter. Aber nun waren wir in der Nähe des Gipfels, ein dunkler, steiler Fels, der aus dem Landeise aufragte, wurde sichtbar. Nachdem wir wieder eine Weile dahingeglitten waren, machten wir plötzlich mit einem lauten Ausruf der Bestürzung Halt.

Der Weg versperrt! Das war der erste Gedanke, der bei dem unerwarteten Anblick blitzschnell unser Gehirn durchzuckte. Schnelle, eifrige Fragen schwirrten durcheinander. Ein Meeresarm lag vor uns. War das der Admiralitäts-Sund? Lag die Winterstation auf dem jenseitigen Ufer? Unmöglich! Duse erkannte die Landschaft wieder, die er im vergangenen Sommer von der »Antarctic« aus gesehen hatte. Dies war die Sidney Herbert-Bay! Ich entsann mich Larsens Beschreibung: der Sund verengert sich nach innen zu einer Meerenge und erweitert sich dann zu einem grösseren Gewässer. Das stimmte alles mit dem überein, was hier vor uns lag, und es sah aus, als befänden wir uns auf einer grossen Insel. Die Sidney Herbert-Bay ist scheinbar ein Sund, der innerhalb unserer Insel mit dem neuen, hinter uns gelegenen Fjord in Zusammenhang steht.

Hier hinüber zu gelangen, war unmöglich. An der schmalsten Stelle des Sundes, dort wo das südliche Land sich in einer Landzunge nach unserer Insel zu vorschob, war das Eis ganz zerfressen mit offenen Waken an den Ufern. Draussen im Sunde, so weit das Auge reichte, hatte das Eis die blaugrüne Farbe, deren Ursache wir auf unserer letzten nassen Wanderung über das Treibeis kennen gelernt hatten. Wenn wir auch einen Weg von hier hinunter auf das Meereis gefunden hätten, so würden Tage mühseliger Arbeit im Schmelzwasser darüber hingegangen sein, ehe wir an die nächste fahrbare Stelle in dem südlichen Lande gelangen konnten. Wären da draussen nur einige Eishügel gewesen, auf die wir des Nachts hätten hinaufklettern können, um wenigstens im Trockenen zu schlafen! Aber nein, nicht eine einzige Erhöhung unterbrach das ebene, wasserbedeckte Bay-Eis. Der Weg war versperrt!

Im Osten ragte das äusserste Vorgebirge unserer Insel auf, das Kap Gordon der Ross'schen Karte. Wir liefen dorthin, um einen Überblick über die Eisverhältnisse im Golf zu gewinnen. Von hier aus sahen wir hoch oben im Norden, vor jenem Teil des Festlandes, der südlich von unserm Ausgangspunkt liegt, ein grosses, eisfreies, blaues Gewässer, das sich nach Osten zu ausbreitete, soweit wir es in der nebeligen Luft zu erkennen vermochten. In gewisser Weise war es eine freudige Überraschung, so viel offenes Wasser im Golf zu sehen, und wir versuchten, die Verstimmung über unser eigenes Missgeschick zu überwinden, indem wir uns der Hoffnung hingaben, dass es der »Antarctic« gelingen würde, einen Weg nach der Winterstation zu finden.

Während wir, unserer alten Spur folgend, nach dem Schlitten zurückliefen, fing es an zu schneien, und als wir das Zelt aufgeschlagen und gegessen hatten und gegen 10 Uhr in unsere Schlafsäcke kriechen wollten, hub ein Schneesturm an um das Zelt zu heulen. Über unsere trübselige Lage grübelnd, lagen wir da, ohne schlafen zu können.

Für uns hatte die Sache vorläufig ein Ende. Unser Versuch, zu den Kameraden in Snow Hill zu gelangen, war verfehlt, der noch übrige Teil des Sommers war für uns verloren, wir konnten uns freuen, wenn das morsche Eis auf dem Fjord nördlich von uns nicht während des Sturmes aufbrach und uns damit den Rückzug nach dem Festlande abschnitt.

Um 11 Uhr abends krochen wir aus den Schlafsäcken heraus, kochten Kaffee und etwas Essen, stampften eine Weile vor dem Zelt in dem Schneegestöber umher und sassen nun am Morgen des 6. um 2 Uhr klappernd vor Frost auf den zusammengerollten Schlafsäcken.

Würde es uns gelingen, den Schlitten durch die Schmelzteiche zurückzuschleppen, oder mussten wir den grösseren Teil der Ausrüstung zurücklassen, um mit leichtem Gepäck nach dem Festlande hinüber zu waten? Wir erwägten diese Fragen und berechneten, was wir am leichtesten würden entbehren können, wenn wir gezwungen sein sollten, das meiste von der Ladung im Stich zu lassen.

Zuweilen lichtete sich das Schneegestöber ein wenig, so dass wir die Bucht unter uns sehen konnten, wo wir am Morgen des 3. unser kaltes Bad genommen hatten, und die Insel, an deren Uferrand die Adeliae-Pinguine nisten. Es war eine dunkle, einige hundert Meter lange Tuffsteinklippe, deren wildes, düsteres Aussehen uns veranlasste, ihr den Namen Teufelsinsel zu geben.

Im Laufe des 7. besserte sich das Wetter, so dass wir gegen 5 Uhr nachmittags die Rückfahrt antreten konnten. Zu unserm Glück sank die Temperatur schon früh am Abend bis auf einige Grad unter dem Gefrierpunkt; und im Verein mit dieser nächtlichen Kälte kam uns das voraufgegangene Schneegestöber sehr zu statten. Die Oberfläche der Schmelzwaken verwandelte sich schnell in einen zähen, unter unserer Last sich biegenden Schneebrei, der nur selten unter uns brach.

Wir schlugen nun eine östlichere Richtung ein, um weiter nach der Mündung des grossen Fjords, zu auf das Festland zu gelangen und damit das verwirrende und beschwerliche Labyrinth der tausend Eisberge zu umgehen. Die Kälte nahm gegen Morgen zu, so dass es unter unsern Schneeschuhen und Stäben krachte. Das Geschick hatte uns ein selten günstiges Wetter für die Fahrt über das Treibeis beschert, und wir waren eifrig bemüht, das Land zu erreichen, ehe ein Umschlag in der Witterung eintrat. Nach einem angestrengten Marsch fuhren wir am 8. morgens 6 Uhr auf das Strandeis hinauf. Wir waren gerade noch rechtzeitig hinübergelangt, denn einige Stunden später heulte abermals der Schneesturm um unser kleines Zelt. Jetzt fanden wir uns mit Geduld in das durch das Unwetter verursachte Stillliegen, wussten wir doch, dass wir auf demselben Lande lagen, wie das Depot am Antarctic-Sunde.

Zurück nach dem Depotplatz. Im Hintergrunde die Nunatak-Pyramide

Am Abend des 9. klärte sich die Luft auf, und wir begannen uns zum Aufbruch zu rüsten. Das Festlandeis fiel hier so steil ab, dass wir den Schlitten mit der vollen Ladung nicht hinaufzuziehen vermochten. Deswegen nahmen wir jeder einen Teil des Gepäcks auf den Rücken und stiegen, einen mächtigen Moränenwall hinan, der sich vom Strande, aus parallel mit der Wand erhob, auf der wir den Schlitten hinaufziehen mussten. Neben einen grossen Steinblock am Abhang des Moränenwalles legten wir die Sachen nieder, prägten uns ein paar Steine ins Gedächtnis, die aus dem Landeise in der Nähe aufragten, und eilten dann hinab, um den Schlitten hinaufzuschaffen. Plötzlich aber überfiel uns der Schneesturm mit verdoppelter Gewalt und zwang uns zur Untätigkeit. Wir lagen im Schutze eines hohen Moränenabhanges trotzdem aber rüttelte der Sturm derartig an unserm Zelt, dass wir mehr als einmal ängstlich besorgt waren, es möchte zerrissen werden. Nur mit Gefahr konnte man sich auf einige Minuten hinauswagen, um Proviant hereinzuholen.

Unsere Gedanken schweiften nun zu der »Antarctic« hinüber. Wo mochte sich wohl unser gutes altes Schiff befinden? Wie erging es den Kameraden in diesem Unwetter? Wir riefen uns ins Gedächtnis zurück, wie standhaft die alte Schute, den schweren Sturm im Treibeis unterhalb der Shetlands-Inseln überstanden hatte, und hofften, dass ihr das Glück auch fernerhin hold sein möge. Später, nachdem viele einsame Tage vergangen waren, sollten wir dann erfahren, dass der »Antarctic« in der Frühe dieses Morgens, am 11. Januar, während wir in unserm Zelt sassen und ihr eine glückliche Fahrt prophezeiten, durch gewaltsame Eisschraubung die Wunde zugefügt wurde, die sie schliesslich in die Tiefe des Golfes versenkte.

Als wir, unserer Gewohnheit getreu, gegen Morgen in die Schlafsäcke gekrochen waren und um 5 Uhr nachmittags erwachten, hatte sich der Sturm völlig gelegt, und ein angenehmes, klares Wetter mahnte zum Aufbruch. Wir zogen den Schlitten den ersten steilen Hügel hinauf, ahnungslos, wie schwer es uns werden sollte, die am Abend des 9. hinaufgetragenen Sachen wiederzufinden. Dort oben aber war alles verändert. Mannshohe Schneewehen verbargen den grossen Felsblock, neben den wir die Sachen niedergelegt hatten, wir gruben ein paar Stunden mit den Schneeschuhen in der Gegend nach, wo wir sie versteckt glaubten, jedoch ohne Erfolg. Schliesslich mussten wir die Arbeit aufgeben und weiterziehen. Es war ein fühlbarer Verlust, den wir hier erlitten: zwei kleine Kodaks mit fast sämtlichen Platten und Films, der Messtisch mit einem Teil des kartographischen Materials, die Apotheke und eine Menge nützlicher Gegenstände, wie Schere, Nägel, Zwingen usw. Glücklicherweise befanden sich nur wenig Proviant, einige unwesentliche Kleidungsstücke und keinerlei Schuhzeug unter dem Verlorenen. Es war jedoch eine harte Mahnung, die äusserste Vorsicht in den verräterischen Schneestürmen zu beobachten.

Von dem Inlandeise, hatten wir eine freie Aussicht über den Golf bis nach der Cockburn-Insel und den Seymour-Inseln, und wir gewahrten oft eine dunkle Wasserfläche draussen im Treibeis.

Aber das klare Wetter sollte nicht von langer Dauer sein. Alles um uns her war in dichten Nebel gehüllt, und wir sahen uns gezwungen, ziemlich aufs Geratewohl Stunde für Stunde weiterzuziehen, oft nur durch den Kompass geleitet.

In langsamer Steigung führte uns unser Weg höher und höher. Allmählich kamen wir an einen Abhang, der immer steiler aufstieg. Es sah bedenklich aus, und in der Erwartung, dass sich der Nebel lichten sollte, schlugen wir unser Zelt an dem Abhang auf, der so steil war, dass wir einen Platz für das Zelt ausschaufeln mussten. Kaum hatten wir uns häuslich niedergelassen, als der Nebel sich lichtete und ein überraschender Anblick sich vor uns aufrollte. Tief unter uns, am Fuss des Abhanges, breitete sich ein ebenes, sonnenbeschienenes Landeisfeld aus, und ganz in der Nähe, nördlich von uns, gewahrten wir die tiefblaue Wasserfläche des Antarctic-Sundes. Wir hatten wahrlich in der zwölften Stunde Halt gemacht, denn hart an unserm Lagerplatz, in derselben Richtung des Kurses, den wir innegehalten hatten, bildete das Festlandeis einen mächtigen Absturz, der von grossen, klaffenden Spalten durchzogen war.

Unter uns aber lag der Weg zum Depotplatz offen da, und am Morgen des 13. schlugen wir dort inmitten der schreienden Pinguinscharen unser kleines Zelt auf.


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