Tagebücher 1910-1924
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1922

Niederschönenfeld, Mittwoch, d. 4. Januar 1922

La verité est en marche. Mein Brief an Weidner kam noch rechtzeitig an, um der ›Welt am Montag‹ die Feststellung, daß ich verleumdet wurde, schon letzten Montag zu ermöglichen. Ich hatte diesen Brief ganz als Privatbrief fassen müssen, und so hat man auch vorn die Bemerkung passieren lassen, daß mir die Aufklärung für die Presse unmöglich gemacht werde. Bis jetzt ist aus den Zeitungen nur zu entnehmen, daß das Blatt auch das erwähnt hat. Zugleich wird berichtet, Weigel habe im Münchner Stadtrat die Erklärung abgegeben, die von der Zentrale eingesetzte Kommission der KPD habe ihn nach Kenntnisnahme der Urkunden aufgefordert, seine Funktion weiter auszuüben, da alle gegen ihn erhobenen Vorwürfe Verleumdungen seien, und endlich veröffentlichten die ›Münchner Neuesten Nachrichten‹ und wohl eine Reihe anderer Blätter ebenfalls eine Erklärung des Rechtsanwalts Dr. Loewenfeld, die eine volle Rechtfertigung für Zenzl, mich und Weigel und die schwerste Kompromittierung Duskes bedeutet, und aus der übrigens hervorgeht, daß Duske »bis vor kurzem« Vorsitzender des Bezirkes Südbayern der KP war, also inzwischen – wahrscheinlich auf Wink von Eberlein-PieckMax Eberlein (1887–1944), Mitglied des Zentralkomitees der KPD, im sowjetischen Exil hingerichtet; Wilhelm Pieck (1867–1960), Zentralkomitee der KPD, Vorsitzender der Roten Hilfe (in der Mühsam 1925 bis 1929 mit Pieck zusammenarbeitete), bis zu seinem Tod Präsident der DDR. Ihr »Wink« folgte der Anweisung der Komintern, die Radikalen nicht auszugrenzen, sondern in die »Partei neuen Typus« einzubinden (vgl. Eintragung vom 11. Dezember 1919)., die sich sehr anständig – nämlich völlig korrekt – verhalten haben, abgehalftert ist.

(...) Meine Freunde sind ganz glücklich über die günstige Wendung, die die Sache anzunehmen scheint, und ich muß stark bremsen. Denn ich gebe mich keiner Täuschung darüber hin, daß der Weg durch den Kot noch nicht hinter uns liegt. Nur ist soviel gewiß, unsere Ehrabschneider werden schwerer durch den selbstgehäuften Dreck hindurchkommen als wir, die wir drin ersticken sollten.

(...) Die Denkschrift ist insofern wertvoll, als eine Menge von Zitaten aus Briefen von Festungsgefangenen den Beweis dafür erbringen, daß wir von Spitzeln geradezu umstellt sind. – Ich bin überzeugt, daß die Regierung mit dieser haarsträubenden Publikation sich ebenso in die Nesseln setzen wird wie Duske und Schwab mit ihren Fälschungen. Jeder Mensch weiß, daß die gegen Gefangene und an ihrer Verteidigung Behinderte erhobenen Beschuldigungen von Leuten ausgehn, die selbst damit Beschuldigungen von sich abwehren wollen, deren Beweis sie mit allen Mitteln der List und Gewalt hintertreiben. Da muß ja der Dümmste stutzig werden, wenn er nicht selbst Partei ist. – Aus all dem Vielen, was in der Welt geschieht, nur die traurige, aber selbstverständliche Meldung, daß der Eisenbahnerstreik von den Gewerkschaftsführern verraten wurde und mit einem sehr kläglichen Kompromiß, in Wahrheit mit einer glatten Niederlage, geendet hat. Aber warum bin denn ich Verräter und Konterrevolutionär? Weil ich den Arbeitern sage: Solange ihr in den zentralen Gewerkschaften seid, werdet ihr immer betrogen sein. Das liegt am Apparat. Die Marxisten aber plärren nach wie vor: Rein in die Gewerkschaften! Denn wer soll ihnen anders zu Beamtenposten helfen? – Armes deutsches Proletariat!

Niederschönenfeld, Sonntag, d. 29. Januar 1922

Heute wird in Nürnberg, veranstaltet von der ›Proletarischen Tribüne‹ und unter der Regie Rolf Gärtners (meines Festungsgenossen in Ebrach) mit Kräften und im Hause des Nürnberger Stadttheaters mein ›Judas‹ aufgeführt.Regie E. L. Schön. 1928 wurde das Stück an der Piscator-Bühne Berlin unter der Regie von Leopold Lindtberg aufgeführt. Ein Brief von Gärtner, den ich erst vor wenigen Tagen erhielt, war alles, was mit mir persönlich über die Veranstaltung verhandelt wurde, und dieser Brief enthielt nichts über Regie, Besetzung oder Aussichten, Ansichten und Absichten, sondern nur die Bitte, ich möchte auf den Malik-Verlag einwirken, die Tantiemen möglichst billig zu berechnen. Wie immer: Wo etwa mal ein bißchen zu verdienen wäre, was Zenzls Lage erleichtern könnte, soll ich verzichten. Pfemfert zahlt nicht für das Einigungsbuch, mit dem er zuerst mal seine ›Aktion‹ füllt – mir ist es trotzdem lieber, daß die Arbeit wenigstens vor völliger Vergessenheit bewahrt wird –, der Kurt Wolff Verlag hat die Abrechnung über die ›Brennende Erde‹ vorgelegt, aus der sich ergibt, daß das zum Massenvertrieb ungewöhnlich geeignete Buch in wenig mehr als 700 Exemplaren abgesetzt ist, so daß noch längst nicht einmal der Vorschuß gedeckt ist; mein Roman ruht, da ich schon die ersten beiden Kapitel bei der Hauszensur einsargen und infolgedessen wegen der Hoffnungslosigkeit keine weiteren – nach den noch fertigen beiden folgenden schreiben konnte; sonstige Arbeiten werden bestimmt ebenfalls nicht herausgelassen. Meine revolutionären Lieder und mein Rechenschaftsbericht über die Münchener Räterepublik lagern bei irgendwem draußen, und niemand denkt daran, sie herauszugeben; mein Kriegsbuch,›Abrechnung‹. 1916/17 entstandene Abhandlung über die »Kriegsschuldfrage« und die Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs (unvollendet). In: Streitschriften/Literarischer Nachlaß, Berlin 1984. das als Fragment immerhin von Wert ist, wurde von Lederer, der es nicht anbringen konnte, hier hereingeschickt, der Versuch, es nun herauszuschicken, wäre Verlust der Arbeit.

(...) Die Wiener Graphische Werkstätte, die mein altes Lustspiel ›Glaube, Liebe, Hoffnung‹ zum Verlag erworben hatte, ging plötzlich in nationalistischen Besitz über, und ich muß prozessieren. Meine Tagebücher – fünf oder sechs Hefte, die noch bis nach Traunstein (Oktober '18) zurückreichen, sind in den Händen des Oberstaatsanwalts von Augsburg (Kraus!!) oder auch bei Kühlewein selbst und erfüllen die schöne Pflicht, den Ordnungsblock der Bürger und Bauern in Angst und Wut zu setzen, wenn die bayerische Regierung gegen ihren verhaßtesten Gefangenen Stimmung zu machen wünscht (Es werden sich wohl noch viele Brocken darin finden, die ohne Zusammenhang mit dem übrigen Text sehr schrecklich klingen). Herr Steinebach endlich, der meine früheren Arbeiten gegen Entgelt gedruckt und vertrieben hat (Und er hat alles hoch über den Satz bezahlt gekriegt), hat nicht nur den Gewinn in die eigene Tasche geschoben und jede Abrechnung verweigert, sondern einen Teil meiner Bücher (die Kain-Kalender) einfach einstampfen lassen und auf Weigels Drohung mit Schadenersatzklage höhnisch geantwortet: »Herr Mühsam muß wohl viel Geld haben.« Der Schutzverband Deutscher Schriftsteller, der seit anderthalb Jahren aufgerufen ist, nun meine dringlichsten Interessen zu verteidigen, rührt sich nicht, und niemand ist da, der der armen Zenzl ein wenig zur Hand geht, wenn sie in diesen schwierigen geschäftlichen Dingen Rat braucht. Weigel meint es gewiß recht gut mit mir – aber von diesen Dingen versteht er nichts, und ich selbst bin so aus dem Bild über die derzeitigen wirtschaftlichen Verhältnisse draußen (Dr. Mayer,)Dr. Arthur Mayer, sechs Jahre Festungshaft der von seinem vierzehntägigen Urlaub zurück ist, berichtet abenteuerliche Dinge), daß ich ganz hilflos bin.

(...) Die Justizbehörde aber, die mit einer solchen Ausdauer und mit solchem Erfolg diese Not geschaffen hat und unerbittlich steigert, teilt mir mit, daß ich über genügend »Einnahmen« verfüge, um füglich auf fiskalische Bekleidung verzichten zu können. So feiere ich denn die Aufführung in Nürnberg heute in hängenden und dreckigen Lumpen aus der Ferne mit.

(...)

Niederschönenfeld, Montag, d. 30. Januar 1922

Toller hat mir heute eine große Freude gemacht. Er hat mir Hölderlins Werke in der vierbändigen Kiepenheuerschen Ausgabe geschenkt. Damit hat er mancherlei wieder gutgemacht – um so mehr, als das offenbar auch seine Absicht war. Ich war ganz gerührt und hatte Mühe, ihn das nicht merken zu lassen. Ich werde jetzt mein Verhalten gegen ihn etwas ändern, denn ich hab's ihm bisher bei jedem Gespräch zu fühlen gegeben, daß mir seine Unterschrift unter Vollmanns Erpressungsrevers,In der Ansbacher Festung hatte Vollmann den Häftlingen ein Stillhalteabkommen vorgeschlagen, das vorwiegend von den Mitgliedern der USPD unterzeichnet wurde und so zur Spaltung unter den Häftlingen führte. der uns monatelang die gräßlichste Pein verursachte, nicht aus dem Gedächtnis geraten ist.

(...)

Niederschönenfeld, Donnerstag, d. 16. Februar 1922

(...) Was heute in der Politik Rußland angeht oder mitbetrifft, ist alles unerfreulich zu erörtern. Mein ganzes Gefühl stemmt sich gegen Lenins Opportunismus – und doch kann ich mit dem Verstand und mit dem Herzen nicht verurteilen, sondern nur klagen. Die Not ist gräßlich in dem Land. Die furchtbaren Naturkatastrophen – alle Plagen Ägyptens scheinen sich potenziert über dieses arme, herrliche Land ergossen zu haben, das allein aller Menschheitszukunft den rechten Weg gewiesen hat. Sonnenbrand und Frost, Heuschrecken und Seuchen – alles ist auf einmal gekommen, und Millionen Menschen verhungern und verkommen, vertieren und verzweifeln. Die wundervolle Hingabe einzelner, die Opferfreudigkeit des gesamten revolutionären Weltproletariats zur Rettung des schöpferischsten Volkes aller Geschichte vermag leider sehr wenig Hilfe zu bringen, da der Weltkapitalismus darüber einig ist, daß man lieber ganze Nationen verelenden und im Kannibalismus versinken lassen soll, als eine Handbewegung zu ihrer Rettung zu tun, die sich nicht verzinst. Fridtjof Nansen,Fridtjof Nansen (1861–1930), norwegischer Polarforscher und Friedenspreisträger. der längst berühmt war als Polarforscher und der nun den besten Ruhm unvergleichlicher handelnder Menschenliebe erwirbt, hat schon in Genf der ersten Versammlung des »Völkerbunds«Der 1919 auf Anregung des US-Präsidenten Wilson gegründete Völkerbund mit Sitz in Genf sollte in internationalen Krisen und Konflikten vermitteln, wurde aber von den wirtschaftshegemonialen Interessen der Großmächte beherrscht. das ganze Grauen der fürchterlichen Katastrophe aufgezeigt; er hat das Gewissen dieser Kapitalverbrecher rühren wollen, aber einsehen müssen, daß sie statt eines Gewissens nur einen Kassenrapport anerkennen. Rußlands Revolutionäre aber sind vom Proletariat Europas im Stich gelassen, zuerst und zumeist vom deutschen. Ich will nicht rechten, wieviel Schuld daran die eigene Politik, die marxistische Verbohrtheit, der Formalismus der 3. Internationale, die konterrevolutionär wirkenden Ausschlußbedingungen der 20 PunkteDie Komintern verkündete im Dezember 1921 ›Leitsätze über die Einheitsfront der Arbeiter‹, die die 1920 gestellten Aufnahmebedingungen weiter verschärften. gegen links etc. trägt; wie die Dinge sich gestaltet haben, mögen die Bolschewiki heute gar nicht mehr anders können als sie tun: Die Zukunft der Gegenwart opfern – einfach um Menschen zu retten.Neue Ökonomische Politik (NÖP). Um den ökonomischen Zusammenbruch der Sowjetunion abzuwenden, beschloß Lenin die begrenzte Wiedereinführung der Marktwirtschaft. Grauenhaft ist der Gedanke, daß die einzig wirksame Hilfe, die dem armen Volk endlich zuteil werden soll, aus geschäftlichen Spekulationen kommt. Fürchterlich zeigt sich daran, was die deutsche Arbeiterschaft gesündigt hat, als sie die Revolution, kaum begonnen, preisgab. Sie hat die Zukunft der Gegenwart nicht geopfert, sondern verraten.

Niederschönenfeld, Mittwoch, d. 8. März 1922

Jeder Tag dieser wahnwitzigen Epoche ist angefüllt von Ungeheuerlichkeiten, die in der Geschichte ihren bleibenden Platz finden werden; aber wir Mitlebende, zumal wir zwischen die Mahlsteine der Zeit Geratenen, erkennen kaum in all dem Sterben und Werden, Schaffen und Zerstören die Drehpunkte des Weltgeschehens und müssen uns bei den täglichen Aufzeichnungen auf ein Säckegreifen beschränken, ohne zu wissen, ob wir nicht die allerbeträchtlichsten und umwälzendesten Ereignisse ganz übersehen. Vielleicht ist der neue Putsch in FiumeFiume (Rijeka), zwischen Italien und Jugoslawien umstrittene Provinz mit der gleichnamigen Hafenstadt an der Adria. Gewaltsame Besetzung 1919 durch d'Annunzio, ab 1920 Freistaat, der von Mussolinis Faschistenpartei bedroht und 1924 von Italien einverleibt wurde. 1945 Rückgabe an Kroatien. in seinen Folgen bestimmt, das ganze italienische und jugoslawische Konfliktslager in Feuer zu setzen, den ganzen noch ungelösten Knoten der Balkanprobleme bloßzulegen und zu lösen. Vielleicht ist es ein gleichgiltiger Nebenvorgang in einem Komplex von Wirrnissen, die wir noch gar nicht überblicken. Die Autonomerklärung IrlandDer langjährige irische Unabhängigkeitskampf führte 1921 zur Abspaltung Nordirlands, das unter britischer Herrschaft mit Selbstverwaltung (Home-rule) blieb. In Irland wurde die Home-rule abgelehnt und 1922 nach blutigem Bürgerkrieg die staatliche Unabhängigkeit hergestellt. innerhalb des British Empire bedeutet wahrscheinlich nicht den Abschluß des irischen Befreiungskampfes, sondern einen Anfang. Darauf deutet die Homerule-Bill für ÄgyptenÄgypten, seit 1914 britisches Protektorat, wurde im März 1922 nach wiederholten Unruhen ein unabhängiges Königreich. hin (die unseren zu Hause in ihrer Freiheitlichkeit so bescheidenen Zeitungen nicht weit genug geht. Sie verlangen Amnestie – für die ägyptischen Verschwörer! ). Irland – Ägypten: England hat sehr weit nachgegeben und steht in beiden Ländern vor weiteren schweren Erhebungen und dabei fühlt man, daß diese beiden Brandherde nur Leuchtfeuer nähren für die Brandstätte, auf der die Glut noch nicht zu offener Flamme aufzuschlagen wagt, für Indien. Dort liegen die gewaltigsten Ereignisse der Weltrevolution in Reserve, aber wir ahnen nur die Kräfte, die der Entfesselung harren, wir ahnen nur die Art, in der sie früher oder später losbrechen werden.Die indische Unabhängigkeitsbewegung unter der Führung Gandhis wurde nach der Einigung der Hindus mit den Moslems 1921 entscheidend gestärkt und zum gewaltlosen (von Aufständen begleiteten) Boykott der britischen Kolonialherrschaft ausgebaut. Wie weit wird bis dahin der erwachte Riese Rußland durch Waffen und Entkräftung, durch Hunger, Dürren und Frost, durch Betrug und Korruption wieder eingeschläfert sein? Davon hängt wohl alles ab – für Europa und fürs Proletariat, die Bauern, die Völker der Welt

(...)

Niederschönenfeld, Freitag, d. 10. März 1922

(...) Nun kündigen die Kommunisten für den 18. März umfassende Demonstrationen mit der Parole: Befreiung der gefangenen Revolutionäre – Amnestie – an, und mir ist soviel gewiß, daß unsere Lage in dem Augenblick ungeheuer aussichtsvoller wird, wo die Straße zum ersten Mal für uns aktiv wird. Als vor einigen Tagen der Seppl aus der Zeitung die Notiz vorlas, in der diese Demonstration zuerst angekündigt wurde, war mein erstes Wort: Dann gibt's in den nächsten Tagen hier oben noch Krach! – Zehn Minuten später erfuhren wir, daß unter »den Kommunisten« bereits eine neue Hetze gegen mich im Gange sei, da ich gesagt oder geschrieben haben soll, es bestehe eine Arbeitsgemeinschaft zwischen dem Mittelgang und der Verwaltung. Taubenberger wollte mich deswegen »niederschlagen«. Hagemeister erzählte mir dann, wie man bei Tisch über mich losgezogen sei (Man tut das in Augusts Gegenwart, eben damit er mir davon berichtet). Lump, Schuft, Verräter, Konterrevolutionär, Antibolschewist sind gewohnheitsmäßige Liebenswürdigkeiten gegen mich. Dann kamen auch gleich die Racheschwüre für dereinst, wenn man die Macht haben würde. Denn alle diese armen, haftkranken Tröpfe bilden sich wirklich ein, die Diktatur des Proletariats werde nur von ihnen ausgeübt werden, sie und nur sie werden frei nach ihrem Haßbedürfnis schalten können, die Aufgabe des Proletariats jetzt sei, nur zu warten, bis sie draußen sind und mit dem Herumhetzen anfangen und später, auf ihr Kommando, an die Wand zu stellen oder einzusperren, wer von ihnen dazu bestimmt wird – vor allem aber Mühsam unschädlich zu machen. So hat der naive Gläubige SeffertHermann Taubenberger (geb. 1892), drei Jahre Festungshaft, und Seffert, Mithäftlinge (KPD). geschworen, ein zweites Mal werde ich nicht so glimpflich davonkommen wie am 7. April im Kindlkeller;Auftritt der KPD-Abordnung bei der Gründungsversammlung der 1. Räterepublik (s. Eintragung vom 7. Juni 1919). die meisten haben verlangt, ich müsse ohne weiteres erschossen werden – die wildesten sinnen dazu sogar spezielle Foltern aus –, aber Kain hat dann milde beschlossen, daß ich »nur« eingesperrt werden soll, aber bei Rauchverbot und Entzug des Bohnenkaffees. – Inzwischen scheint von den Drahtziehern die Richtung des Manövers, mit dem regelmäßig, wenn die Arbeiter sich für die politischen Gefangenen interessieren, ihre Mißstimmung gegen die Niederschönenfelder erregt wird, vorläufig wenigstens von mir abgelenkt zu sein. Man will scheinbar diesmal einen neuen Krach innerhalb der KrachgruppeGruppe Krach – Mühsams Bezeichnung für die Gruppe der »entschiedensten« KPD-Genossen (Mittelgang), s. die nachfolgenden Namen. selbst inszenieren. Im Lauf der Woche wird das wohl noch klarer werden. Aber eins weiß ich gewiß: Kommt wirklich eines Tages die allgemeine Befreiung, und schlägt wirklich dann die Flamme der Revolution wieder hoch – und die heute in Niederschönenfeld delirierenden »Kommunisten« kommen ans Ruder, was in dem Augenblick möglich wird, wo der Rückschlag kommt und die »Disziplin« siegt über das revolutionäre Temperament und den Schwung der Begeisterung –, dann werde ich von der »Freiheit«, die das Regiment Sauber-Schlaffer-Wiedenmann-Schwab-Kain auszeichnen wird, nicht lange Gebrauch machen. Dann passiert mir all das, was die verhetzten Hysteriker jetzt gegen mich herbeiwünschen und noch Ärgeres. Nur eines weiß ich: Möge mich schließlich an die Wand stellen, wer mag – erschossen kann ich immer nur von rechts werden.

Niederschönenfeld, Freitag, d. 24. März 1922

23. Todestag meiner guten Mutter. Sie könnte – mit 73 Jahren – noch gut leben. Aber ich glaube nicht, daß sie mein Wesen und Tun anders verstanden hätte als nur mit dem Willen, den Sohn nicht direkt schlecht zu finden. Ihr früher Tod hat ihr viel erspart, mir infolge der Verbitterung des Verhältnisses zum Vater, zwischen dem sie als Ausgleich fehlte, viel auferlegt. Mit all der Liebe, die mir so völlig abhanden gekommen ist, wenn ich an den Vater denke, pflege ich das Gedächtnis an die Frau, die mit endlos gütigem Herzen mich zu verstehen suchte, was ihr doch nie gelang und wohl auch nie gelungen wäre. – Vielleicht hätte sie Zenzl noch kennenlernen müssen, um mir ganz folgen zu können. Diese wunderbare Frau – in jedem neuen Brief wird sie mir schöner – hätte wohl vermocht, aus ihrer glühenden Frauenseele heraus der Mutter das Wissen des Herzens zum Erkennen des Verstandes zu erweitern. – Ich habe Zenzl gebeten, herzukommen. Trotz allem. Es ist wieder ein volles halbes Jahr herum, seit wir uns zuletzt sahen. Ich weiß im voraus, daß der Besuch unter den Umständen, die ihn begleiten werden, eine entsetzliche Depression hinterlassen wird – aber das Heimweh verlangt einmal seinen Tribut. Ich erwarte nun ihre Antwort, ob sie es über sich zu bringen meint, unter der quälenden Aufsicht eines jedes Wort, jeden Handdruck belauernden Polizisten mit mir zu sprechen. Und dann kommt es noch darauf an, ob die Verwaltung nicht etwa einen Strich durch unsere Rechnung macht.

(...)

Niederschönenfeld, Montag, d. 27. März 1922

(...) Dann erfahre ich, daß auch Professor v. Stieler tot ist, unser »Vater Rhein« vom Schachtisch im Stefanie. Auch ihm ist ein gutes Andenken bei mir gesichert: unsere amüsante Kutschenfahrt am Tage der Beerdigung des alten Prinzregenten; und dann die Geschichte, die mir Zenzl einmal bei einem Ansbacher Besuch erzählte. Als die Weißgardisten im Mai '19 ins Café Stefanie kamen und die Wirtsleute ihnen alle Gäste denunzierten, die mit mir oder Levien dort verkehrt hatten, sprang der alte Herr wütend auf und rief: »Und hier – ich auch. Ich habe mit Mühsam hundertmal Schach gespielt. Denunzieren Sie mich nur auch gleich! Ich bin der Syndikus der Kunstakademie Geheimrat v. Stieler – und jetzt gehe ich, und mich sehen Sie hier nicht mehr wieder!« Und damit verließ der prächtige Alte sein Stammlokal, in dem er fast zwanzig Jahre lang täglich gesessen hatte, und kam nicht mehr wieder. Das will ich ihm nie vergessen.

(...)

Niederschönenfeld, Montag, d. 3. April 1922

(...) Wie weit die Bourgeosie bereits auf die schiefen Bahnen der Tobsucht geraten ist, zeigen täglich die Artikel des ›Miesbacher Anzeigers‹, der zweifellos in all seiner Hemmungslosigkeit den wirklichen Geisteszustand der in Bayern herrschenden Mächte wiedergibt. Gestern wurde der tote ErzbergerMatthias Erzberger (geb. 1875). Zentrumspolitiker, setzte sich für die Annahme des Versailler Vertrags ein; 1919/20 Reichsfinanzminister, mußte nach einer Diffamierungskampagne der Rechtsparteien zurücktreten, wurde 1921 vor Wiedereintritt in den Reichstag von nationalistischen Offizieren ermordet. in ganz unglaublicher Weise besudelt und zum Schluß die Vermutung ausgesprochen, er tanze wohl längst mit Rosa Luxemburg zusammen in der Hölle einen Foxtrott. Der heutige Leitartikel ist noch gemeiner und abgeschmackter. Kurt TucholskyKurt Tucholsky (1890-1935) war Mitarbeiter der ›Weltbühne‹ 1913 bis 1933 hat in der Weltbühne eine Reihe roh ermordeter Revolutionäre aufgezählt, deren Tod nicht gesühnt ist, und sie als edle Menschen gerühmt. Daraufhin fordert der Miesbacher völlig unverblümt das Blut Tucholskys, indem er ausdrücklich die Offiziere und nationalen Studenten in Berlin angreift, daß der »Lumpenhund« sich noch auf der Straße zeigen dürfe. Dabei werden Rosa Luxemburg, Liebknecht, Jogiches,Leo Jogiches (geb. 1867), Führer der polnischen Arbeiterbewegung, Mitbegründer der KPD, am 10. März 1919 im Gefängnis Moabit ermordet. Landauer, Eisner mit einem Zynismus beschimpft und mit den rohesten Bajuwarismen beworfen, wie ich es doch noch nicht gelesen habe. Selbstverständlich wird die krasse Aufforderung zum Mord, für die ein kommunistischer Arbeiter jahrelang ins Zuchthaus müßte, straffrei bleiben – Klassenjustiz ist hierzulande ein unbekannter Begriff –, aber es wird Material geschaffen, dessen sich eines Tages die passiv Mitschuldigen schämen werden; und das garantiert den Zusammenbruch dieser »Politik« an der Morschheit ihrer eigenen Moral. Bayern stinkt vom Blut Ermordeter.

(...)

Niederschönenfeld, Freitag, d. 7. April 1922

Grad jetzt habe ich zum xten Mal meine Bibel gelesen: Kropotkins Werk über die gegenseitige Hilfe. Das Buch ist geschrieben (es wird einmal das Lesebuch der Jugend in allen Schulen sein), der einmal ausgesprochene Gedanke hat seine Wirksamkeit in sich. In diesem Buch ist der Staat, der Zentralismus, die Partei, die Obrigkeit ein für allemal widerlegt. Unsere »Utopia« war Wirklichkeit zur Zeit der Gilden und Brüderschaften im Mittelalter – es wird an uns liegen, den zähen Willen aufzubringen, der allein sie wieder zum Leben bringen kann. Und die groteske Übersteigerung der nationalistischen Haßkapriolen zeigt mehr als alles andere, wie innerlich unwahr die Idee schon ist, die mit ihnen verteidigt werden soll. Eben bekam ich einen Brief von meinem Bruder Hans, in dem er mir eine neue Heldentat der Münchner Studentenschaft berichtet. Professor Einstein,Albert Einstein (1879-1955), trat mit Aufsätzen, Vorträgen und Aktionen für den Pazifismus ein. mit dem er eng befreundet ist, war eingeladen worden, München zu besuchen, um über seine Relativitätstheorie zu sprechen. Der Rektor berief den Studentenausschuß ein und fragte, ob bei den Vorträgen Einsteins Ordnung, Ruhe und persönliche Sicherheit des Referenten zuverlässig verbürgt sei. Antwort: Die Studentenschaft lehnt die Bürgschaft ab! – Der größte Gelehrte unserer Zeit, der in Frankreich – gerade jetzt – gefeiert wird, der nach Japan eingeladen ist, damit man ihn sehen, hören und feiern kann, darf sich im eigenen »Vaterland«, wo es am allervaterländischsten ist, drei Jahre nach der Revolution nicht blicken lassen, ohne befürchten zu müssen, von den Jüngern der Wissenschaft erschlagen zu werden.

Niederschönenfeld, Mittwoch, d. 31. Mai 1922

(...) Der Markkurs kreist nun schon seit vielen Wochen um den ungefähr gleichen Stand herum – 270 bis 310 vom Dollarkurs aus: Aber die Preise gehen rapider in die Höhe, als wir's je gesehen haben. Die Zeitung, für die ich im Mai 24 Mark zahlen mußte, kostet vom 1. Juni ab 40 Mark. Meine Ovomaltine, die Kraftnahrung, die ich der Nerven wegen täglich zum Frühstück brauche (Friedenspreis drei Mark) ist seit sechs Wochen von 35 auf 45 Mark gestiegen. Milch kostet – statt früher zehn Pfennig jetzt zehn Mark pro Liter. Mit Kartoffeln, Brot und allen wichtigen Nahrungsmitteln, auch Obst, sieht's noch windiger aus. (Aber in diesem Hause hält man daran fest, daß mehr als fünf Mark Taschengeld für einen Festungsgefangenen die Ordnung und Sicherheit stören müßten. Da ein Pfund Kirschen 25 Mark kostet und ein Postpaket neun Mark, so erhellt, daß jemand, der ein Paket heimgeschickt hat, sich in der gleichen Woche den Genuß von Kirschen versagen muß oder noch keine Postkarte schreiben kann. Das Recht, sich auf Bestellzettel von seinem Konto weg beliebig Käufe besorgen zu lassen, das früher bestand, ist ja auch schon lange aufgehoben. Daß die Festungsgefangenen jedoch unter Kuratel gestellt seien, wird schlankweg bestritten).

(...)

Niederschönenfeld, Sonnabend, d. 3. Juni 1922

Böse Tage. Mein Zustand wird nicht besser, sondern eher schlimmer. Ich fühle mich krank, obwohl die eigentlichen Symptome der ersten Tage nicht mehr vorhanden sind. Die Übelkeit ist weg, aber ich bin so schwach, daß es mir schwer wird, mich auf den Beinen zu halten. Die vom Arzt verordneten Tropfen – anscheinend Anis-Äther mit ausgeprägtem Absinthgeschmack – haben insofern Wirkung, als akute Schwindelanfälle damit überwunden werden, doch fühle ich die Kräfte allgemein derartig schwinden, daß ich mich ernstlich fragen muß, wie lange es mir noch gelingen wird, dagegen anzugehen, ohne mich hinzulegen. Die Sache beunruhigt mich insofern, als Zenzls Besuch bevorsteht, und wenn sie mich krank vorfindet – man muß mir das schlechte Befinden deutlich anmerken –, dann ist nicht nur die Freude am Wiedersehen verdorben, sondern es bleibt vor allem nachher die ärgste Angst, die bei der Pein, gar nichts zur Hilfe tun zu dürfen, auf ihre eigene Gesundheit schlimmste Wirkungen haben muß. Es ist klar, daß mein Zustand mir den Gedanken daran, daß ich in der Gefangenschaft werde sterben müssen, sehr nahelegt. Wenn ich auch nicht glaube, daß die Attacke jetzt mich gleich umbringen wird, so erkenne ich doch recht deutlich an ihr, daß es mit dem Herzen nicht zum besten bestellt ist. Jedenfalls habe ich die Erschöpfungsanfälle, die sich ja mitunter früher schon einstellten, noch nie in dieser Zeitdauer und auch noch nie in dieser Intensität erlebt und täusche mich nicht über den Ernst der Sache, wenn die Festungskur noch lange genug dauert, um weitere Stöße dieser Art zu fördern. Daß die Befreiung aus der Haft für lange Zeit auch die Erlösung von der Krankheit wäre, steht wohl fest. Aber anders habe ich wohl bestimmt mit dem Tode in nicht sehr langer Zeit zu rechnen. Ich fürchte den Tod nicht, mache mir auch kein altruistisches Theater vor, indem ich mir einbilde, Zenzls wegen sei ich absolut notwendig. Sie verhungert nicht, wenn ich sterbe. Nicht einmal schlechter würde es ihr wirtschaftlich gehen, da ich ihr in den letzten drei Jahren schon eher Kosten verursacht als ihr geholfen habe. Und im Gegenteil: Bin ich tot, so werden meine Bücher plötzlich marktgängig werden, mein Nachlaß wird unendlich mehr einbringen als je meine Produktion, solange ich da bin. Trotzdem müßte ich lügen, wenn ich mich gegen den Gedanken an den Tod hier drinnen ganz gleichgültig stellen würde. So wenig Schreckliches der Tod an sich für mich hat, so habe ich doch durchaus noch nicht den Wunsch, das Leben hinter mich zu legen. Ich sehne mich unsinnig nach dem Leben draußen, und wäre es das Leben der größten Armut. Aber ich möchte die Liebe noch mal schmecken, ich möchte küssen – ohne daß ein Kühlewein-MärtyrerIn Erwiderung auf die öffentlichen Proteste gegen die Zustände in den bayerischen Festungshaftanstalten bezeichnete die bayerische Regierung die Wachmannschaften als die eigentlichen Märtyrer. dabei Voyeur spielt –, ich weiß, daß Zenzl sich ebenso nach mir sehnt wie ich nach ihr, ich möchte zu ihr ins Bett, und erst, wenn wir beide aneinander keine Lust mehr finden, mag mich der Teufel holen. Und dann möchte ich auch noch allerlei schaffen, wozu hier drinnen ja doch die Seelenruhe sich nicht einstellt: Ich möchte meinen Bröschke-Roman fertig schreiben und noch allerlei Literarisches schaffen – an Ideen mangelt's mir wahrhaftig nicht –, vor allem aber – und hier ist der einzige Punkt, bei dem der Gedanke an den Tod mich ängstigt – möchte ich meine große entscheidende Revolutionsidee, die mir für das Gelingen der Revolution wesentlich zu sein scheint, in geeignete Hände gelegt haben, ehe ich demissioniere: Nicht auf die Herbeiführung der Revolution kommt es an – die führt sich schon selber herbei, wenn ihre Stunde da ist (nur dürfen wir sie nicht aufhalten, indem wir mit der Konterrevolution langfristige Kompromisse schließen, uns in ihre Parlamente einnisten und an Stelle des Kampfes die »Realpolitik« treten lassen). Auch über die Formen der Revolution in ihrer destruierenden Periode brauchen wir uns nicht zu sorgen: Die deutsche – ganz besonders die bayerische – Arbeiterschaft hat Anschauungsunterricht in genügendem Maße genossen, um zu wissen, daß Schwäche gegen den Feind Selbstmord ist. Aber das darf nicht wieder sein, was noch jede Revolution nach ihrer heroischen Gebärde in den Sumpf gestoßen hat: daß das Neue nicht vorbereitet war. Wir brauchen den rechtzeitigen Plan einer Revolutionsmobilisation, sonst geht's uns genau wie den Franzosen, die nach dem 9. Thermidor nicht weiterwußten und das Direktorium – nach Babeufs ErledigungFrancois Babeuf (1760-1797), französischer Jakobiner und Frühkommunist; nach Aufstandsvorbereitungen (1796) hingerichtet. – Bonaparte zum Konkursverwalter einer aus herrlichem Material bestehenden, aber nicht rechtzeitig zusammengefügten Masse machen ließen, wie uns selbst, als wir mit der richtigen Idee der Räterepublik und des Kommunismus eine planlose »Sozialisierungs«-Orgie nach revolutionärer Laune und Temperament einreißen ließen; wie den Russen, die die ganze Destruktionsperiode prachtvoll bewältigten und dann anstelle eines vorbereiteten Aufbauplans eine akademische Theorie praktizierten, als ob die Erneuerung der Gesellschaft sich um Parteirichtlinien scherte und als ob es bei der Umgestaltung der gesamten Wirtschaft auf Buchweisheit und nicht auf ganz nüchterne Berechnungen statistischer und praktisch-detaillierter Art ankäme. Es ist zu errechnen, wie trotz der Zerschlagung des gesamten Funktionsapparats durch umfassende, ins Einzelne – sogar auch ins Personale gehende Wirtschaftsmaßnahmen – nicht gesetzliche Dekrete! sondern fahrplanartige Direktiven – die gesamte Produktion in Industrie, Landwirtschaft und Handwerk mitsamt aller Zirkulation in Bank und Handel, Warenbeschaffung und Austausch, Güterverkehr und Krediten – durch Abstellung und Umstellung von Betrieben, Vermehrung oder Verminderung von Personal, Beständen und Verarbeitungen, kurzum durch eine Art ökonomischen, revolutionären Aufmarschplan für die Arbeiter- und Bauernräte auf den Bedarf der Konsumenten einzustellen ist. Dann ist ein Knochengerüst der neuen Gesellschaft geschaffen und Aufgabe bleibt nur, ihm im eigentlichen Revolutionskampf mit Waffen und Begeisterung Fleisch und Blut zu geben; zu kämpfen, ohne fürchten zu müssen, mit dem vollen Sieg über die Bourgeoisie den Abstieg von der Höhe antreten zu brauchen, indem man nach Genua und Rapallo geht und des geordneten Rückzugs wegen die besten und konsequentesten Räterevolutionäre mit den inquisitorischen Mitteln der tückischsten Reaktion dem kapitalistischen Retter aufopfert. – Das ist also mein inniger Wunsch: nicht zu sterben, ehe ich die Idee der revolutionären Mobilisation in Angriff genommen wüßte. Dazu müßte ich sie solchen Genossen entwickeln, die Kenntnis und Fähigkeit haben, ihr Unterlagen zu geben, und dazu müßte ich Niederschönenfeld im Rücken haben. Vielleicht wären Laufenberg und WolffheimHeinrich Laufenberg (1872-1932) und Fritz Wolffheim (1888-1942), Hamburger Gründungsmitglieder der KPD, auf dem Heidelberger Parteitag 1919 wegen Linkssektierertum (Aufruf zur revolutionären Offensive; Vorschlag eines deutsch-sowjetischen Militärbündnisses gegen die Ententestaaten) ausgeschlossen, Gründer einer links-nationalistischen Splittergruppe. die richtigen Männer, um die Sache organisatorisch in die Hand zu nehmen; sie wären jedenfalls nützlicher beschäftigt als mit dem Betreiben ihrer Kateridee eines Ludendorffschen Revolutionskriegs, und die Idee wäre vor der größten Gefahr beschützt, einer halbrevolutionären Partei in die Finger zu geraten, die sie opportunistisch verbiegen und das Proletariat zugunsten einiger Bonzen von ihrer Realisierung ausschalten würde. – Nein, es wäre ärgerlich, wenn ich in diesem Hause sterben müßte. Die Revolution litte Schaden. Ich möchte noch leben!

Niederschönenfeld, Montag, d. 26. Juni 1922

Bloß ein paar Worte kurz vor dem Abendessen. Zenzl war hier. Es war sehr schön, es war sehr scheußlich. – Durch sie erfuhr ich die große Neuigkeit: Am Samstag – also am Johannestag – ist Walter RathenauWalter Rathenau (1867-1922), Industrieller und Politiker der Deutschen Demokratischen Partei; 1922 Außenminister. Wegen Unterzeichnung des Rapallo-Vertrags mit Sowjet-Rußland von der rechtsradikalen ›Organisation Consul‹ ermordet. Protestdemonstrationen in vielen deutschen Städten. in Berlin ermordet worden. Näheres wissen wir fast noch gar nicht. Die Aufregung draußen soll ungeheuer sein. Alle Urteile sind zurückzustellen, besonders über die Folgen. Ich bin entschieden der Ansicht, daß es sich – wie im Falle Erzberger – um ein Signal zum Losschlagen handelt, und wenn Wirth nicht diesmal außerordentlich kräftiger zuschlägt als damals, dann kann in diesen Tagen bestimmt mit dem Ausbruch des revolutionären Massenterrors gerechnet werden. Alle Möglichkeiten erheben sich wieder zu aktueller Geltung. Sollten die Arbeiter aus allen früheren Erfahrungen immer noch zu wenig gelernt haben, so ist die wahrscheinlichste ohne Zweifel die, daß am Ende auch dieser Affäre lange Freiheitsstrafen stehen werden, deren Objekte wie immer nur das Proletariat stellen wird. – Die nächsten Stunden müssen für unser persönliches Schicksal über mindestens die nächsten Monate entscheiden.

Niederschönenfeld, Dienstag, d. 27. Juni 1922

(...) Ich unterlasse vorerst alle Prophezeiungen, aber im Gegensatz zu allen meinen Genossen sehe ich die Offensive der Nationalisten noch lange nicht als gescheitert an und erwarte Endgültiges zum Verlauf des heutigen und der nächsten Tage. Ich habe Zenzl gebeten, im Moment, wo es anfängt, brenzlich zu riechen, die Wohnung zu verlassen und zu sicheren, unverdächtigen Freunden zu gehen (hierbei wurde das Gespräch unterbrochen; das sei politisch! – Wenn man das Leben seiner Frau geschützt sehen möchte!). Übrigens liegen alle Möglichkeiten offen. – Und das hebt meine Stimmung ungemein, obwohl ich nicht verkenne, daß auch die Möglichkeit darunter ist, daß wieder alles beim alten, wir hier drinnen, Ebert-Wirth an der Spitze der Deutschnationalen bis zum nächsten Mal mit dem Finger am Abzug bleiben. Jede andere Lösung des Konflikts wäre mir lieber und keineswegs die unliebste der Sieg der Angreifer, der mitten in der gefährlichsten Wirtschaftskrise die inneren Gegensätze zugleich mit schärfsten Auslandskonflikten auf die Spitze treiben und dadurch die revolutionäre Situation schaffen müßte, die nur noch revolutionär benutzt zu werden brauchte, um mit einem Schlage das Unterste zuoberst zu kehren und ganze Arbeit möglich zu machen. Daß die Zeit bis dahin für uns hier drinnen schrecklich sein würde, ist mir klar. Darauf kann es aber nicht ankommen.

(...) Mich juckt's in allen Poren nach Aktivität; ich fühle mich als junger Kerl, Zenzls Küsse haben mir wohlgetan – wenn ich auch den Aufseher hätte erwürgen mögen –, und meine Himmel haben blauere Tiefen, es ist wieder Leben unter der Erdoberfläche, und vielleicht gibt's auch für mich zu tun in der Welt. Selbst die Kerkerhaft schmeckt heut nach Freiheit.

Niederschönenfeld, Mittwoch, d. 28. Juni 1922

Kritischer Tag höchster Ordnung. Heut – vermutlich in der Nacht von heut auf morgen – wird die Entscheidung zu erwarten sein, darüber nämlich, ob die Völkischen nachstoßen oder das Feld wieder räumen werden. Das zweite – was meine Genossen fast ausnahmslos annehmen – kann ich schwerlich glauben. Nach dem Erzberger-Mord ließen sie sich von Wirths Entschiedenheit zurückschrecken. Aber niemand wiederholt seine eigenen Dummheiten (Jeder macht immer neue, indem er die Dummheiten anderer Leute nachmacht.) Wenn mir entgegengehalten wird, dann hätten sie unmittelbar nach dem Mord losschlagen müssen, so überzeugt mich das nicht. Ich denke mir, die Schüsse auf Rathenau bedeuteten: Klar zum Gefecht! (Die Sprache der Marine ist am Platze, weil fast immer nur Marineoffiziere an die gefährlichsten Posten geschickt werden. So ist jetzt auch in München (!) ein Kapitänleutnant Hoffmann verhaftet worden, der verdächtig sein soll, die Blausäurespritze gegen Herrn ScheidemannIm Mai 1922 fanden eine Reihe von Mordanschlägen auf prominente Gegner der Nationalsozialisten statt, u.a. auf Scheidemann, Thälmann, Harden. benutzt zu haben.) Wahrscheinlich haben die Rebellen Mobilisationstage vorbereitet, die vom Abknallen des Ministers an zu rechnen sind – und eines Nachts (vermutlich eben heute), wenn alles an Ort und Stelle ist, die Waffen ausgegeben sind, die letzten Vorbereitungen und Parolen herum sind, klappt's: Verhaftungen, Tötungen, Besetzungen der strategisch und politisch wichtigen Plätze etc. Ob's gelingt, ist fraglich, aber keineswegs ausgeschlossen. Es käme darauf an, ob dem Generalstreik der Arbeiterschaft hinreichende Abwehrmaßnahmen entgegentreten können. – So ergeben sich eine Fülle von Möglichkeiten – auch für uns. Wird der Putsch unternommen und gelingt, dann haben wir persönlich allerlei neue Bedrückung zu erwarten. Dagegen teile ich die Furcht, man werde uns umbringen, durchaus nicht. Erst, wenn die Hakenkreuzler ihre Positionen eines Tages wieder räumen müssen – sei es durch Arbeiterrevolten, sei es, was eher zu glauben ist, durch Einschreiten ausländischen Militärs – wären wir gefährdet. Ich denke da an den Rückzug aus der Picardie 1916 und an den endgültigen Abbruch der Front in Frankreich 1918; in der Verzweiflung – nicht im Siegen sind sie sinnlos brutal.

(...)

Niederschönenfeld, Montag, d. 31. Juli 1922

Ich hatte Besuch! Mein Bruder Hans war da, und wir waren vier Stunden beisammen, nachdem wir uns sieben Jahre lang nicht gesehen hatten. Er ist inzwischen ein stattlich proportionierter, allmählich ergrauender und zu Embonpoint neigender Herr geworden und gefiel mir besser als jemals früher, viel freier im Wesen und toleranter in den Auffassungen, dabei sichtlich erschüttert von dem Eindruck dieses Gefängnisses. Zu seiner seelischen Weichheit mag wohl auch das Ergebnis der gründlichen Untersuchung beigetragen haben, der er mich unterzog und die sich auf Herz, Lunge, Bauch, Rückenmark, Nerven etc. erstreckte. Ich hatte den Eindruck, als ob er von meinem Zustand recht bedenkliche Empfindungen bekam und insbesondere mein Herz unerfreulich krank fand. Was die beabsichtigte Briefstellerei mit unserm Dr. SteindlSteindl, Anstaltsarzt. für Ergebnisse haben wird, werden wir ja sehen. Große Erwartungen auf intensiver betriebene Heilmethoden hier drinnen hege ich einmal nicht. Hans hatte, was ich deutlich wahrnahm, von den Verhältnissen hier drinnen einen niederschmetternden Eindruck. Meine Erfahrungen aber, die er ja nicht hat, hätten ihm bestätigt, daß sein Besuch in ungewöhnlich entgegenkommender Art vor sich ging. (Ein studierter Mann hat hier, wo Klassenunterschiede bekanntlich nie gemacht werden, immer eine bessere Behandlung zu erwarten als unsere Frauen oder Besucher weniger angesehener Berufszugehörigkeit.) Krumbholtz überwachte und unterbrach kein einziges Mal, obwohl ich und noch mehr Hans in mancher Kritik ziemlich weit ging. Vielleicht ist der Mann nach dem Eingriff bei Zenzls Besuch, als er die Besprechung geschäftlicher Angelegenheiten verhinderte, so zusammengestaucht worden, daß er es jetzt vorzieht, lieber etwas zu überhören als noch mal vorbeizuhauen. – Nun, Hans sah die jammervolle Gefängniszelle mit der vergitterten Fensterluke, er sah die käfigartigen Verliese, in denen wir hausen müssen, und sah, daß man Niederschönenfeld nennen kann wie man mag, nur nicht »Festung« im Sinne des Strafurteils. Er versprach denn auch, alles mögliche zu unsern Gunsten zu versuchen. Er habe Beziehungen zu Wirth, werde auch zu Radbruch gehen (dem ich zu bestellen auftrug, er soll, nachdem er schon sonst nichts für uns erreicht habe, wenigstens das Reichsstrafvollzugsgesetz beschleunigt durchzusetzen suchen). Ferner hat Hans einen Reichstagsabgeordneten der Deutschen Volkspartei zum Patienten. Es kann natürlich nicht schaden, wenn auch so ein Mann mal Bescheid bekommt, was für Niederträchtigkeiten ihn seine politische Disziplin billigen lassen muß. Erfreut war ich von der Frage, die mir Professor Einstein stellen ließ, ob er sich in irgendeiner Form, bzw. in welcher, unserer annehmen kann. Natürlich konnte ich nicht aussprechen, daß er ja nur eine öffentliche Erklärung mit seinem Namen unterzeichnet loszulassen brauche, um Niederschönenfeld neuerdings in den Mittelpunkt des Weltinteresses zu rücken. Ich hab's, da sonst der Besuch in Gefahr geraten wäre, abgebrochen zu werden, so gut ich konnte, angedeutet. – Was Hans mir erzählte an persönlichen, prinzipiellen, allgemeinen und sonstigen Dingen, informierte mich wieder ein bißchen besser über die wilde Verwirrung aller Lebensbeziehungen draußen. So ist Einstein z.B. trotz seines Weltruhms, der ihm Einladungen in alle Weltgegenden einträgt, im eigenen »Vaterland« seines Lebens nicht sicher. Er ist Jude und Pazifist – infolgedessen droht ihm in dieser glorreichen Republik auf Schritt und Tritt der Tod. – Die Preise müssen ins absolut Aschgraue gehen (Der Markkurs steht augenblicklich mit 630 – auf den Dollar bezogen – auf seinem vorläufigen Höchstpunkt.) Was werden soll – niemand weiß es, und wie es scheint, steigt selbst in Bürgerkreisen die Hoffnung wieder, eine Revolution werde einmal mindestens Klarheit schaffen.

(...)

Niederschönenfeld, Freitag d. 11. August 1922

(...) Schandbar ist, daß das russische »Revolutionstribunal« – mit welchem Recht können die Leute, die nach Genua gegangen sind, eigentlich noch Revolutionstribunale arbeiten lassen?Sowjetrußland nahm an der Weltwirtschaftskonferenz in Genua (April/ Mai 1922) teil, um politische Verständigung und wirtschaftliche Zusammenarbeit mit dem Westen zu suchen. – gegen die Sozialrevolutionäre tatsächlich fünfzehn Todesurteile gefällt hat. Es heißt, die Vollstreckung solle sistiert werden, bis sich zeige, ob die Sozialrevolutionäre – also andere Personen als die Verurteilten – nun Ruhe geben werden. Mithin: Man behält die politischen Gegner als Geiseln, um sie, wenn sich revolutionäre Erhebungen zur Wiedereinführung des Sowjetsystems oder gegen die Konzessionen an den Privatkapitalismus ereignen sollten, zu erschießen. – Meine Empfindungen bei dieser Entscheidung sind hauptsächlich die einer großen Traurigkeit. Ich bin durchaus nicht aus sentimentalen Gründen für die Angeklagten – die sich übrigens prachtvoll tapfer vor das Gericht des Exekutivkomitees, dessen Mitglied der Jammerkerl BrandlerHeinrich Brandler (geb. 1881), Führer des rechten Flügels der KPD; Ausschluß 1928. ist, gestellt haben – ich bin überhaupt gar nicht für die Opfer, sondern soweit sie Kerenski-LeuteAlexander Kerenski (1881-1970), Sozialrevolutionär; Ministerpräsident der Provisorischen Regierung Rußlands von Juli 1917 bis zu seinem Sturz durch die Oktoberrevolution. Seine Truppen wurden von den Bolschewiki geschlagen, Flucht nach England. und Verbündete der SawinkowhordenBoris Sawinkow (1879–1924), Sozialrevolutionär und Schriftsteller, zahlreiche Attentate gegen den Zarismus. Bekämpfte die Bolschewiki nach deren Sieg und nahm sich im Gefängnis das Leben. Sozialrevolutionäre Gruppierungen und Truppen, auch solche, die anfänglich die Oktoberrevolution unterstützt hatten, bekämpften in den Jahren darauf die Alleinherrschaft der Bolschewiki und verbündeten sich teilweise mit weißen Truppen oder zogen als bewaffnete Banden umher. Das unklare Feindbild trug dazu bei, daß die Sowjetmacht unterschiedslos alle ihre Gegner verfolgte. Mühsam konnte sich in der Haft kein genaues Bild von den Vorgängen machen, nahm aber Partei für die russischen Anarchisten und Maximalisten, weil sie für die Anarchie bzw. einen »reinen« Kommunismus kämpften. sind, schroff gegen sie. Aber ich habe die Bewegung von 1905Die Februarrevolution in Rußland 1905 war spontan entstanden und wurde nach wenigen Tagen niedergeschlagen. zwar aus der Ferne, aber mit tiefster Herzensbeteiligung miterlebt, und mich kränkt die Demagogie, daß das Weltproletariat bewußt falsch informiert wird, indem man verschweigt, daß der linke und der rechte Flügel der Sozialrevolutionäre weniger miteinander zu tun haben als Menschewiki und Bolschewiki unter sich. Man wirft das alles zusammen, wie man ja auch die Anarchisten und Maximalisten, die man gefangen hält, einfach als Konterrevolutionäre denunziert, gerade weil sie revolutionäres Gewissen genug gerettet haben, um sich mit der Halbheit in Rußland nicht zufrieden zu geben. – Trotz alledem kann ich, so sehr ich den Drang hätte, mich öffentlich zu rühren – und einen Protest würde GollwitzerGollwitzer, Zensor der Festung Niederschönenfeld. am Ende durchlassen, um keinem Zwist zwischen Revolutionären Abbruch zu tun–, das keinesfalls probieren. Denn niemand kann einen so tiefen Ekel gegen die Proteste empfinden, die in der Sache von der Sozialdemokratie herausgeplärrt werden. Die Partei Noskes, die Liebknechts und Rosa Luxemburgs Ermordung begünstigte, die Leviné erschießen ließ, die in Berlin, Bremen , München, im Ruhrland – ach, wo in Deutschland eigentlich nicht? – Proletarierleichen über Proletarierleichen häufte, die uns, weil wir gegen ihre durch unsere Revolution ermöglichte Regierungserschleichung revolutionäre Mittel ergriffen, von den Offizieren der alten Armee zu vielen Tausenden von Jahren Zuchthaus, Gefängnis und Festung verurteilen ließ, nach dem »Hochverratsgesetz« der Monarchie!, – die nichts getan hat, um uns nach all den Jahren wieder freizubringen – die in Bayern speziell sogar gegen jede, auch nur teilweise Amnestie ausdrücklich gestimmt hat und RoßhaupterAlbert Roßhaupter (1878–1949), rechtssozialistischer Politiker, 1907–1933 im bayerischen Landtag, Minister für militärische Angelegenheiten im Kabinett Eisner. die Bewilligung aussprechen ließ, man dürfe uns so rechtlos behandeln, wie man wolle, nur Jämmerlinge könnten sich beklagen, wenn man sie infolge ihrer Taten mißhandle – die Verräter an allem, was Revolutionären heilig ist, die Schleppenträger der Hohenzollern und ihrer Lakaien und die Erbschleicher der Revolution, die von ihr selbst sagten, sei »ohne ihr Zutun« gemacht und also gegen ihren Willen (wozu hätte AuerErhard Auer (1874–1945), bayerischer Rechtssozialist, Landessekretär der SPD 1907 bis 1918, Innenminister der Regierung Eisner. sonst Militär gegen die Republik angefordert, deren Minister er 36 Stunden später war?) durchgeführt, die damit ausgesprochen haben, daß sie auch gegen die Republik waren, die sie heute als ihr Palladium ausgeben und mit ihren Amtsschurkereien vergiften – sie sollen es nicht wagen, ihr Schmutzmaul aufzureißen für Revolutionäre, die andere zum Tode verurteilen und gegen Revolutionäre, die nicht, um der Bourgeoisie gefällig zu sein wie sie, die Opfer wählen, die sie glauben fordern zu sollen. Man möchte glauben, sie seien neidisch, daß nicht sie diesmal wieder die Henker machen dürfen, da doch ihre Hände von Arbeiterblut so triefen wie nie die Hände eines Klassengegners davon getroffen haben. – Nein, – mit denen mache ich keine Proteste zusammen. Ihnen mein Ekel, mein Haß, meine Verachtung und mein Wille zu Rache, zur Abrechnung. Mir ist Mord keine Freude und Hinrichtung keine Befriedigung. – Aber säße ich im Tribunal, das die Ebert, Scheidemann, Auer, Noske, Schneppenhorst e tutti quanti abzuurteilen hätte, ich käme mir als Verräter vor an der Sache der Revolution, an den Opfern der Revolution, stieße ich den Daumen nicht nach unten: Auslöschen!

Niederschönenfeld, Montag, d. 28. August 1922

In München war wieder großer Spektakel und zwar einer, der der ganzen Aufmachung nach auf Endgiltiges abgezielt zu haben scheint. Die völkischen Hakenkreuzler, die Nationalsozialisten, die Bünde von Frontsoldaten, deutschgesinnten Kriegsbeschädigten und was noch alles zum »Ordnungsblock« zählt, hatten zu Freitag abend zu Riesendemonstrationen gegen die Berliner Abmachungen und gegen den Umfall der bayerischen Regierung aufgerufen.Der bayerische Ministerpräsident Lerchenfeld (September 1921 bis Oktober 1922) verfolgte mit seiner Mitte-Rechts-Koalition einen gemäßigteren Obstruktionskurs gegen die Reichsregierung als sein Vorgänger Kahr und wurde von bayerischen Rechtsgruppierungen einschließlich der NSDAP zu einem offenen Konfrontationskurs gedrängt. Zahlreiche Aufmärsche, Hetzkundgebungen und antisemitische Drohungen gipfelten vorerst im Hitlerputsch, November 1923. Pistolen und Schlagwerkzeuge seien mitzubringen – und das Ganze war auf große Aktion angelegt. Die Polizei verbot diesmal den Rummel auf dem Königsplatz und sperrte ihn sogar ab. Da aber der Karolinenplatz nahebei und auch ziemlich groß ist, demonstrierte man trotzdem recht tüchtig und Herr Xylander war in Person da, um die Sache zu schmeißen. Gott weiß, was passiert sein mag, daß die grünen Polizisten und die, die sie auseinandertreiben sollten, den Moment zum Fraternisieren verpaßten, jedenfalls wurde nichts Rechtes aus der Sache. Dafür ging's im Kindlkeller hoch her. Hitler referierte mit der Vorsicht, die ihm angesichts des Scheiterns der Straßenmache als Österreicher geboten schien, und trat dann seinem Freund EsserHermann Esser (1900–1981), Mitbegründer der NSDAP. das Wort ab.

(...) Wie ich mir den zukünftigen Verlauf dieser Bewegung vorstelle, ergibt sich aus den eigenen Erfahrungen im Winter und Vorfrühling '19. Damals standen wir Revolutionären Internationalisten und Kommunisten, die wir als offizielles Hauptquartier zur praktischen Machtausübung über den Revolutionären Arbeiterrat verfügten, den republikanischen Regierungen Eisner – und dann besonders Hoffmann in ganz ähnlicher Position gegenüber wie heute die Hitler und Genossen der gegenwärtigen. Wir dirigierten das meiste von der Straße und den Versammlungen aus; bei gelegentlichen Versuchen, uns mit Gewalt stillzukriegen, traten die Massen auf den Plan, und ihr Wille war schließlich und endlich maßgebend. Was wir bei der ständig zunehmenden und von uns lebhaft erstrebten Radikalisierung der Massen übersahen, war die Strohfeuerqualität der um uns jubelnden Begeisterung. Wir nahmen den Lärm besoffen geredeter Volksmengen für Macht, und wir taten, wozu uns diese Menge tatsächlich drängte, was wir tun mußten: Wir erhoben die Hand zum entscheidenden Griff an die Machtkurbel. Dann setzten die Widerstände von außen ein, denen wir deshalb nicht positiv entgegenwirken konnten, weil das Strohfeuer der Anhänger vor der Gefahr erlosch. Die lautesten Jünger verrieten uns, und wir sahen zu spät, wieviel im Innern widerstrebende Anhänger aus Opportunismus so lange zu uns gestanden hatten, bis sie fanden, daß unser Gaul am Ende das Rennen doch nicht so sicher machen würde, wie es schien, und teils passiv abwarteten, teils gleich zum Gegner abschwenkten. Und die regierende Partei – die Sozialdemokratie – tat mit uns mit, soweit es anging, solange sie vermutete, wir würden recht behalten, und sie dürfe dann den Anschluß nicht verpassen. Die Massen, die heute hinter dem Hakenkreuz herlaufen und johlen, drohen und zu Taten drängen, sind durchaus keine anderen als die, die damals hinter der roten Fahne marschierten, johlten, drohten und zu entscheidenden Taten drängten, ja, sie bestehen zweifellos aus den gleichen Personen, die, ohne viel zu kritisieren, die Verhältnisse unerträglich finden und die Schuld daran denen zuweisen, die von den gerade modernsten Parolegebern als Schuldige angegeben werden. Die Enttäuschung an ihnen steht den Xylander-Leuten noch bevor. Freilich ist ihre Aussicht insofern besser, als sie die wichtigsten Posten in der Staatsverwaltung in den Händen ihrer Anhänger wissen, vor allem in der Polizei und in der Justiz. Da hatten wir – dank Eisners irrsinniger Entgegenkommenspolitik, die überall alle Monarchisten auf ihren Plätzen ließ und sie selbst dahin zurückrief – im Gegenteil da das größte Minus, wo sie das größte Plus haben. Dafür aber haben sie tatsächlich nichts der inzwischen unsinnig vergrößerten Volksnot entgegenzusetzen als Phrasen, während wir praktische Mittel wußten und auf das russische Beispiel verweisen konnten. – Wenn es nach meinen Wünschen geht, dann gelingt den Nationalisten in Bayern zunächst ihr Griff. Sie werden dann in dieselbe Lage kommen wie wir im April '19. Ganz plötzlich werden sie sich zugleich unmöglichen Ansprüchen an ihre Organisationsfähigkeiten, den ungeheuersten Widerständen von außen und innen – sie zumal noch mehr durch die Arbeiterschaft als wir durch die Bauernschaft – und dem Abfall und Verrat der unsicheren Kantonisten gegenübersehen, die scheinbar zu ihnen halten und in Wirklichkeit in ihnen nur das Sprungbrett sehn, um selbst schwimmen zu können. Es wird, wenn den Xylander-Hitlern der Schwung gelingt, eine ganz kurze Zeit dauern, in der man freilich mehr Ursache haben wird als zu unsern Tagen, von »Schreckensregiment« zu reden – und dann wird die Seifenblase zerplatzen, und Bayern wird auf Gedeih und Verderb die Politik mitmachen müssen, die in Berlin und im übrigen Deutschland gemacht wird.

(...)

Niederschönenfeld, Sonntag, d. 3. September 1922

Ich erhielt gestern folgende Eröffnung (etwa): Die für den F.G. Mühsam eingetroffene Postanweisung von 340 Mark, Absender F. W. Reiwers, Arbeitsgemeinschaft revolutionärer Gruppen in Köln, wurde unter Verweigerung der Annahme zurückgesandt, weil nicht ersichtlich ist, ob und wie das Geld verteilt werden soll und weil über den propagandistischen Zweck der Sendung kein Zweifel besteht. – Mich kostet diese neue Liebenswürdigkeit der Verwaltung 1 Mark 55 für die Karte, auf der ich den Genossen in Köln Bescheid geben mußte, und die Proletarier, die das Geld gesammelt haben, müssen auch noch den Ärger schlucken, daß ihnen alle möglichen Schikanen gemacht werden, bis sie es überhaupt an Ort und Stelle schaffen können, und daß sie eine Verteilung in ihrem Sinne – wahrscheinlich hatten sie mich aufgefordert, die syndikalistisch und unionistisch gerichteten oder einfach die von mir erwählten Genossen zu bedenken – gar nicht durchsetzen können. – Seit einigen Tagen scheint es, als ob die Märtyrer Auftrag hätten, uns zu provozieren. Sie benehmen sich wieder ganz so wie immer, wenn »Fälle« von Kühlewein bestellt worden sind. So gab es gestern abend Anstände, weil es infolge eines Gewitters ziemlich früh dunkel wurde, die Märtyrer aber sich weigerten, das Licht in unseren Zellen einzuschalten, obwohl sie in ihrer Wachstube längst Licht hatten.

(...) Die Wut dieser Subalternseelen gegen uns ist mir manchmal ganz gut verständlich. Wir rennen rauchend in den Gängen rum, laufen und turnen täglich fünf Stunden im Hof, disputieren in unsern Zellen von früh bis spät, spielen Karten, essen gut, ohne zu arbeiten, liegen, wenn wir mögen, den ganzen Vormittag im Bett, sitzen sonst vor den Büchern oder Schreibereien, wie wir selbst es bestimmen – während sie das stundenlang mitansehen müssen, ja dieses Mitansehen ihren eigentlichen Dienst ausmacht. Sie müssen uns die Stunden ausrufen, wann die Gitter für den Hof aufgemacht werden, müssen dann für jeden, der es verlangt, die schwere Eisentür auf- und einschieben, müssen uns, während wir wie die Herren bei Tisch sitzen, das Essen aufladen und sind für richtige Verteilung der Portionen etc. verantwortlich. Daß wir dabei Gefangene sind und noch dazu eine Gefangenschaft erleiden, die unendlich härter ist, als unser Urteil bestimmt hatte, vergessen die Leute, deren Leben ja ganz gewiß auch eine Gefangenschaft ist, die sie ebenfalls vergessen haben. Was wissen sie von Freiheit, die sie nie innerlich erlebt haben und deren Ehrgeiz ist, in ihrem Geschäft des Menschenquälens eine gute Note zu kriegen? Die haben mit uns kein Mitleid; es ist viel, wenn sie keinen direkten Haß gegen uns haben, zu dem sie doch von der Obrigkeit mit allem Raffinement hingestoßen werden. Aber beneiden werden sie uns wohl alle, weil wir zu essen haben, ohne uns zu rühren; und in den Minuten, wenn sie uns abends in den Schlafzellen abzählen und dann das Gitter hinter uns zuschließen können – dann kosten sie es aus, und mancher von ihnen zeigt uns das Gefühl, Rache zu genießen, so deutlich, daß ich manchmal darüber lachen mußte. Wahrhaftig, arme Teufel sind's, Kühleweins »Märtyrer«. Menschen, die Gefangene beneiden – die sind gewiß nicht zu beneiden! – Die letzten Tage also trat die Neigung des Aufsichtspersonals, uns zu hunzen, besonders stark hervor, und vielleicht steht diese – von vielen gemachte – Beobachtung in einem Zusammenhang mit der auffälligen Tatsache, daß sich gestern unter den konfiszierten Zeitungen die ›Bayerische Staatszeitung‹ und der ›Bayerische Kurier‹ befanden, also die beiden eigentlichen Regierungsorgane. Dabei ist zu bemerken, daß die Konfiskationen im allgemeinen weniger geworden sind: durchschnittlich täglich sechs bis acht Blätter gegen zwanzig bis dreißig in den letzten Wochen. Der Verdacht liegt vor, daß beim bevorstehenden Zusammentritt des Landtags wieder über Amnestie oder über Niederschönenfeld gesprochen werden soll und daß Kühlewein dazu Vorbereitungen trifft, indem er seine Presse über neue Exzesse berichten läßt, die den schmutzigen und gierigen Charakter der politischen Gefangenen beweisen. Vielleicht sind wir wieder nackt und unter schamlosen Gebärden an besuchenden Frauen und Kindern vorbeipassiert, oder man hat etwas Neues dieser Art erfunden. Herr Gollwitzer aber läßt uns keinen Einblick nehmen in dergleichen Berichte, und so werden sie historische Wahrheit, da ja die Angegriffenen selbst kein Wort drauf erwidern – und daß sie niemals von den Behauptungen etwas erfahren haben, braucht man ja in Bayern dem mit Recht empörten Publikum nicht zu sagen. Dessen Empörung gegen die Gefangenen genügt, die braucht man. Christen!

(...)

Niederschönenfeld, Sonnabend, d. 16. September 1922

(...) Zenzl saß jüngst mit Fritz Weigel in einem Lokal und kam mit einem am Tisch sitzenden Herrn ins Gespräch, das im Verlauf auf die politischen Gefangenen überging. Der Bürger, ohne Ahnung, wen er vor sich hatte, legte gegen uns los; es gebe denn doch gar zu suspekte Gestalten unter den Festungsgefangenen, so wisse er z.B. von dem Mühsam, daß der ein ganz perverser Wüstling sei. Die Frage Zenzls, wieso und woher er seine Kenntnisse habe, wurde erstaunlich genug beantwortet: Er habe kürzlich in der Bahn zwischen Nürnberg und Augsburg die Bekanntschaft eines Herrn gemacht, der selbst lange in Niederschönenfeld in Festung gesessen hätte und Mühsam also in der Nähe kenne, eines gewissen Elbert.Johann Elbert (geb. 1889), zwei Jahre Festungshaft. Es sei ganz haarsträubend, was der alles erzählt habe, wie Mühsam die ganze Anstalt mit seinen Perversitäten verseuche. Zenzl meinte dann, daß sie davon doch etwas wissen müsse und gab sich als Frau Mühsam zu erkennen. Der Herr glaubte ihr nicht, und schließlich kam er der Einladung zu einer Tasse Tee bei Mühsams Frau nach und überzeugte sich, daß sie's wirklich war, wie hübsch und wohnlich dort alles ist und daß am Ende der Mann dieser Frau, der Besitzer dieser Bücher und Bilder, doch das Schwein wohl kaum sein werde, als das er ihm geschildert war. Der Herr, ein Bankdirektor, sandte am nächsten Tag an Zenzl einen großen Blumenstrauß. Das ist also die revolutionäre Tätigkeit des großen Kommunisten in der Freiheit, daß er in den Eisenbahnen den Bourgeoisreisenden, Bankdirektoren und ähnlichen, die von ihm selbst in Niederschönenfeld gezettelten Mißhelligkeiten ausbreitet und Menschen verleumdet, die in der Revolution im Gegensatz zu ihm vornedran zu sehen waren und nicht wie er zweieinhalb, sondern fünfzehn Jahre dafür aufgebrummt gekriegt haben. Ich bin mir ja über die Eigenschaften des Elbert schon lange im klaren. Aber wissen möchte ich eins: Reisen heutzutage die Bankdirektoren schon dritter Klasse, um zu sparen, oder sind die Auftraggeber Elberts so nobel, daß sie ihm gestatten, für die Erfüllung der Pflichten, für die er engagiert ist, bei den jetzigen Preisen Spesen für Reisen zweiter Klasse in Rechnung zu stellen?

(...)

Niederschönenfeld, Donnerstag, d. 19. Oktober 1922

(...) In Bayern gedeihen Zustände, die allmählich ans Traumhafte streifen. Die Nationalsozialisten läßt der Ruhm der italienischen Faszistenhorden nicht schlafen, und sie gehen nun auf fröhliche Abenteuer aus. Herr Hitler streift mit seinen stark bewaffneten Banden im bayerischen Oberland herum und wirbt Anhänger für Pogrome und gegen die brandrote Lerchenfeld-Gürtner-Regierung. Kürzlich hat er mit 180 Jüngern ein reguläres Kriegsbiwak auf dem Rosenheimer Marktplatz aufgeschlagen, von keiner Polizei, von keiner Regierung in seinem patriotischen Tun gestört. Jetzt hat er aber sein Hauptstück geliefert. Zu einem in Coburg einberufenen »Deutschen Tag« berief er alle seine Mannen, die in gratis eingelegtem Extrazug(!) mit Gummiknüppeln und anderen Schlagwaffen versehen und unter den Klängen der Wacht am Rhein und verwandter Lieder (»Schmeißt die dreckige Judenbande, schmeißt sie aus dem deutschen Lande, jagt sie nach Jerusalem!«) ihre Reise antraten. Auf dem Bahnhof in Nürnberg ging der Krach schon los gegen die Reisenden des dort haltenden Schnellzugs Berlin-München. In Coburg selbst aber ging's hoch auf. Man verprügelte mit den mitgebrachten Instrumenten friedliche Passanten und drohte den höflich mahnenden Behörden, wenn man sie störe, werde man ein Judenpogrom inszenieren. Und die bayerischen Behörden störten denn auch Herrn Hitler nicht weiter. Im Gegenteil. Nach späteren Berichten von offiziösen Stellen haben sogar Hitlerleute zusammen mit blauer Polizei Arbeiteransammlungen im Sturm gesprengt. Man erteilt diesen Demonstranten also schon behördliche Rechte und Aufgaben. Und das Reich wird sich die Finger erst recht nicht verbrennen wollen wegen solcher Auslassungen bayerischer Eigenart. Die Noske-Exekutive darf grundsätzlich nur gegen Proletarier mobilisiert werden. Die war da, als in Bayern keine ähnlichen Zustände herrschten, sondern ohne Gewalt ein revolutionäres Regime aufzurichten versucht wurde, das ernstlich entschlossen war, mit Not und Elend, Schieberei und Wucherei aufzuräumen.

(...)

Niederschönenfeld, Sonnabend, d, 28. Oktober 1922

(...) Die Vorgänge in ItalienMussolinis Machtergreifung, der »Marsch auf Rom« am 28. Oktober 1922. sind deshalb so wichtig, weil sie als Vorbilder gelten können für das, was die verwandten Reaktionsorganisationen in ganz Europa, besonders in Deutschland und ganz speziell in Bayern, für Pläne haben. Es ist gar nicht zu bezweifeln, daß die Mussolini-Bande, die Hitler-Garde und die Hejas-HordeMilitärische Terroreinheit unter der ungarischen Horthy-Regierung (seit 1920). längst in gegenseitigem Einverständnis miteinander arbeiten und daß es sich um eine im Ausbau begriffene internationale Bewegung militärisch-antisemitischen Gepräges handelt. In Neapel haben sich die Faszisten zu vielen Tausenden eingefunden, und zwar schon in militärischen Kadres divisionsweise eingeteilt. Diesem Treiben sieht die römische Regierung völlig machtlos zu, ja, sie muß es dulden, daß die Rebellen – ganz ähnlich wie in Bayern – mit Extrazügen von faszistischen Eisenbahnern von Tirol abgeholt und durch ganz Italien an Ort und Stelle transportiert werden. Bis jetzt hört man, daß diese Krachnationalisten ihre Aufnahme in der italienischen Regierung verlangen und zwar gleich durch Inanspruchnahme etwa der Hälfte aller Ministerien, und es sieht durchaus nicht unwahrscheinlich aus, daß die nächste Regierungsbildung unter ihrer Beteiligung vor sich gehen wird. Die italienischen Arbeiter, gegen die diese Leute den schamlosesten Terror ausüben, werden furchtbar gestraft für das Versäumnis, sich rechtzeitig von ihren »Führern« zu befreien, die ihnen noch jede notwendige Aktion sabotiert haben. Jetzt haben sie die Konterrevolution in ihrer scheußlichsten Gestalt, ohne überhaupt die Revolution gehabt zu haben.

Niederschönenfeld, Dienstag, d. 31. Oktober 1922

(...) Mit dem Faszisten-Aufstand ist ein furchtbares Novum in die Weltgeschichte getragen worden. Zum ersten Mal hat sich eine wirkliche Volksbewegung – es wäre albern, ihr diesen Charakter abstreiten zu wollen – gegen das arbeitende Volk der Sozialisten erhoben. Die Angelegenheit ist furchtbar ernst. Niemand kann voraussagen, ob die Aktion gelingt, zu welcher Konsequenz sie führen wird. Aber daß jetzt in Italien Schicksal entsteht, Schicksal für das europäische, zumal aber für das deutsche Proletariat, das steht fest. Die Weltrevolution hat einen ihrer verborgenen Krater geöffnet. Ein mächtiges Erdbeben hat eingesetzt. Wird es noch einmal zur Ruhe kommen oder wird der Lavastrom sich nun unaufhaltsam ergießen und die vom Krieg unterwühlte Weltordnung ganz niederreißen? Und wird es unter seiner glühenden Asche die kapitalistische Schandwirtschaft ersäufen oder müssen wieder die eigenen Kinder der Revolution dran glauben? – In Italien geschieht jetzt, was Verhängnis oder Rettung werden kann. Alles, was sonst jetzt vorgeht, ist fauler Zauber, ist das törichte Händebewegen von Leuten, die den Anschein erwecken möchten, sie täten was, da doch all ihr Wirken sich erschöpft in Kunststücken, um den in allen Fugen geplatzten Boden, auf dem sie stehen, als festen Erdgrund erscheinen zu lassen.

(...)

Niederschönenfeld, Sonnabend, d. 25. November 1922

(...) Gestern aber soll in München eine Versammlung der Nationalsozialisten angekündigt gewesen sein mit dem Thema: Vom Kommunismus zum Nationalsozialismus! – Referent: mein Freund von Ansbach – Max Weber! Dem habe ich diesen Werdegang prophezeit. Er wird nun jedenfalls den Hitler-Trotteln erzählen, was ich für ein Schurke sei, daß ich ungeheure Vorräte an Kaffee, Zigarren und Lebensmittel gestohlen und bei mir aufgespeichert gehabt hätte und daß ich vor ihm auf den Knien herumgerutscht sei. Er möge. Bei diesem törichten Gesindel wird an meinem guten Ruf wohl sowieso nicht mehr viel zu ruinieren sein; vielleicht läßt sich Weber beikommen, auch öffentlich derartige Verleumdungen gegen mich loszulassen, und ich kann ihn mal greifen, zugleich seine Charakteristik – als Gesinnungslumpen, als Lügner, Spitzel, Plagiator und Erpresser – publik werden lassen und hätte danach vor all dem üblen Gerede endgiltig Ruhe; und schließlich ist die Selbstentlarvung der schäbigen Kreatur insofern wichtig, als viele ehrliche Arbeiter ihre auf seine Verdächtigungen aufgebauten Urteile über mich und über manchen anderen noch von selbst revidieren werden.

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Niederschönenfeld, Dienstag, d. 5. Dezember 1922

Abschrift: »An den Herren Festungsvorstand. Ich beabsichtige, eine Eingabe an das Justizministerium zu richten, die eine Anfrage über die Lebenssicherheit der Festungsgefangenen für den Fall bestimmter Ereignisse zum Gegenstand haben soll. Da ich keinesfalls den Verdacht aufkommen lassen möchte, in diesem Schritt könne ein Angriff gegen die Verwaltung beabsichtigt sein und im Gegenteil Wert darauf lege, die Formulierung der Eingabe zurückzustellen, bis ich mich dem Herrn Festungsvorstand gegenüber mündlich zur Sache geäußert habe, ersuche ich um eine Besprechung. N'feld 5. Dez.

Mühsam«

Mit diesem Schreiben an den Vorstand, das ich heute vormittag hier abschrieb und mittags einem Aufseher zum Abgeben übergab, hat es folgende Bewandtnis. Wir haben erfahren – durch Andeutungen in Briefen, Versammlungsberichte in Zeitungen und Äußerungen eines Besuchers –, daß Hitler seinen Leuten in einer Versammlung auch verraten hat, was er mit uns beabsichtigt. Er soll schauderhaft über uns geschimpft und dann erklärt haben, die Niederschönenfelder Revolutionäre würden einfach massakriert werden. (Vermutlich ist die Bereicherung seiner Schar durch den Ehrenjüngling Max Weber Ursache der Aufmerksamkeit, die uns seit bald vier Jahren Eingeklosterte mit Morddrohungen beehrt.) Nun bin ich persönlich zwar von solchen Anrempelungen nicht leicht zu beunruhigen. Ich kenne die Atmosphäre erregter Volksversammlungen zu gut, um nicht zu wissen, daß dort viel leichter ein Wort gesagt, als eine Tat veranlaßt wird. Trotzdem haben wir Ursache, uns um die Sache zu kümmern. Mag Hitler selbst nicht im Traum an die Ausführung seiner Ankündigungen denken, ich kenne doch auch die Menschen, die ihm zuhören, die sich von ihm begeistern lassen. Es sind bestimmt zum großen Teil dieselben Empörten, die uns 1919 nachliefen und immer denen nachlaufen werden, von denen die hoffen, zur Betätigung ihrer urgesunden und durchaus achtbaren Aktionswut geführt zu werden. Das Unglück dieser naiven Rebellen ist, daß sie ganz unkritisch sind und gar nicht überlegen, welche Konsequenzen aus ihrem Tun erwachsen können. Ich werde nie leugnen, daß im Anhang Hitlers – sowohl bei den verirrten Proletariern als auch bei seinen Studenten und Offizieren – ein hohes Maß opferfreudigen Idealismus lebendig ist – Männer wie Fischer und KornHermann Fischer und Erwin Korn, Mitglieder der rechtsterroristischen ›Organisation Consul‹; Mörder Walther Rathenaus. beweisen es eindringlich –, ja, daß sogar wirklich revolutionäres Gefühl in ihnen die treibende Kraft ist. Das bezeugt z.B. die scharfe Ablehnung des Parlamentarismus, die von Hitler, Xylander, Gräfe,Albrecht von Gräfe (1868–1933), preußischer Offizier und deutschnationaler Politiker, Reichstag ab 1912. Gründete 1922 die Deutschvölkische Freiheitspartei, 1924 vorübergehender Anschluß an die NSDAP. HergtOskar Hergt (1869–1967), Gründer der Deutschnationalen Volkspartei; ab 1920 im Reichstag, 1927/28 Reichsjustizminister. etc. gepredigt wird, die Einsicht, daß Kampf die Einsetzung jedes einzelnen Körpers, jedes einzelnen Lebens bedingt und nie durch Wählerei, Abstimmerei und Vertretung durch Schwatz- oder Zählbonzen ersetzt werden kann. So heftig ich die Völkischen in sämtlichen sachlichen Aufstellungen bekämpfe, mit einer Gegnerschaft, die nirgends die geringste Möglichkeit zur Verständigung läßt, so erkenne ich in ihnen doch aufrechte Gegner an, die mit revolutionärem Schmiß gegen die bestehende Republik ankämpfen. Sie sind der Auffassung, es sei 1918 ein furchtbarer Umsturz erfolgt, der revolutionär eliminiert werden müsse; ich bin im Gegenteil der Auffassung, daß 1918 der Umsturz, wie er nach der Kriegs- und Niederlagekatastrophe hätte sein müssen, nicht fertiggebracht wurde und daß daher eine wirkliche konzessionslose Revolution noch erfolgen muß.

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