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Siebentes Kapitel.

Am nächsten Morgen war er früh schon auf; er hatte die Augen überhaupt kaum geschlossen, denn den größten Theil des Restes dieser Nacht war er auf und ab gegangen, ohne zu einem ruhigen Bedenken zu kommen. Freude und Leid rang in ihm. Die Liebe, welche ihre Binden um ihn geworfen, sträubte sich vor der Hand, welche die Knoten lösen wollte, und bemühte sich die ersten schwachen Lichtstrahlen zu zerreißen, die auf ihn eindrangen.

Es war nicht recht, daß Emma gestern ohne ihn gegangen war, es war Manches nicht recht, das empfand er mehr als je, und doch blieben seine Entschuldigungen dieselben, doch freute er sich auch heut noch, daß sie den Jammer dieser Nacht nicht mit erlebte.

Ein banges, schreckliches Gefühl tauchte in ihm auf, wenn er an die Zukunft dachte, und diese öffnete sich vor ihm, wie sie es nie gethan. Wie in einen schwarzen Abgrund blickte er hinein, und seine Blicke irrten dann über seine Bücher und Arbeiten trostlos umher. Sein Herz war aufgewacht und verlangte nach mehr, verlangte nach etwas, was mit unheimlichem Ahnen und Verlangen ihn erfüllte und ihn zu Vergleichungen trieb, die er nie gemacht hatte.

Warum war Emma nicht wie sie – wie Marie? Sie war so gut, so schön, sie liebte ihn, sie liebte ihr Kind. Warum war es sonst anders gewesen? Warum war sie nicht mehr wie sonst?

Quälende Gedanken überfielen ihn; gewaltsam wollte er sie übertäuben mit den Selbsttäuschungen, die er so oft schon angewandt hatte, um sein Glück zu preisen, allein es gelang nur unvollkommen; die trüben Gedanken kehrten immer wieder zurück. Immer wieder sah er Marie, das Kind auf ihrem Schoos, das blutige Messer in ihrer Hand, und wie sie ihn anschaute, bis ins Herz hinein voll starken Vertrauens. Warum konnte es nicht Emma sein, die in glaubensstarker Mutterliebe so gethan und bei ihm gesessen hätte, verklärt von dieser Liebe, der Schutzgeist seines Hauses?

Er fühlte ein geheimes Widerstreben Emma zu sehen; ein Bangen war in ihm und eine Sehnsucht – die Sehnsucht zu Marien zu gehen, mit ihr zu sprechen, und je mehr die Zeit fortrückte, um so mehr empfand er Beides.

Endlich trat er hinaus und ging den Corridor entlang. Als thäte er etwas Böses, so schrak er zusammen, als Brinkmann ihm entgegenkam, der ihn so freundlich ansah, als wollte er ihm Muth machen.

Nun, mein Herr Doctor, sagte der Alte, es ist alles glücklich vorüber gegangen.

Wie geht es drinnen? fragte er.

Gut, antwortete Peter, das Kind schläft, jetzt aber –

Ist Fräulein Marie bei ihm? fiel der Doctor ein.

Peter schüttelte den Kopf. Schon wieder abgesetzt, sagte er erbittert. Die gnädige Frau Majorin ist drinnen und hat das Fräulein fortgeschickt, damit es ausruhen kann.

Wo ist Marie Fräulein Selben?

Dort ist sie, flüsterte der Alte auf die Thür in der Tiefe des Ganges deutend, wo Marie wohnte. Gehen Sie zu ihr,, mein Herr Doctor. Es wird ihr ein Trost sein, denn – denn ich würde es nicht leiden, daß sie so behandelt würde. Ich bin ein armer, alter Mann, aber ich kann's nicht ansehen.

Leise klopfte der Doctor an der Thür, und als er antworten hörte, trat er ein. Marie kam ihm entgegen. Sie war schon angekleidet, wie sie es gewöhnt war; ihr Haar glatt, ihr Gesicht frisch und klar, nur ein wenig bleicher.

Ich komme, begann Johannes, um Sie zu sehen, liebe Marie. O, nicht um Ihnen Dank zu sagen, denn was sollte ich sagen? Es wären doch alle Worte nicht im Stande das auszudrücken, was sie sollten.

Doch ich danke Ihnen, erwiederte sie, und danke Ihnen um so mehr, weil ich danach verlangte, mit Ihnen zu sprechen, um etwas von Ihnen zu bitten.

Wirklich? rief er erfreut, dann reden Sie schnell. Es macht mich glücklich, wenn ich etwas thun kann, was Ihnen lieb ist.

Sie sollen mir Ihren Rath ertheilen, sagte Marie. Ich könnte Ihnen eine Einleitung dazu geben, allein ich will diese lieber zu einem Nachwort machen, und Sie bitten, diese Briefe zu lesen, welche ich schon seit einigen Tagen empfing. Sie nahm aus einem Kästchen, das auf dem Tische stand, Papiere in Briefform, welche sie aufschlug und sie dem Doctor reichte. Er blickte hinein und erkannte die Handschrift seines Oheims.

»Ich habe es ja immer gesagt,« las er, »Sie sind ein vortreffliches Mädchen, und wenn ich nicht schon so alt wäre, daß die ganze Welt schreien würde: Seht den grauköpfigen Narren! würde ich nicht sagen, mein liebes Kind, ich will wie ein Vater dir rathen. Das thue ich aber, mein Töchterchen, und was Sie mir schreiben, lasse ich nicht gelten. Sie dürfen nicht länger in dem Hause da bleiben; dem Johannes können Sie nicht helfen, und die Anderen wollen Ihre Hülfe nicht. Ich werde zu Ihnen kommen und den mitbringen, der Herz und Augen dafür hat, was Sie werth sind; mit dem Johannes aber werde ich noch ein Wort sprechen, und wenn er davon nicht aufwacht, so muß er schlafen, bis die Trompeten von Jericho ihn aufwecken.«

Lesen Sie das auch sagte Marie, als er das Blatt sinken ließ, hier ist noch eine Einlage.

Mechanisch befolgte er ihre Weisung und starrte die Buchstaben an. Hertner hatte sie geschrieben. Mit wenigen schlichten Worten bekannte er, daß er längst sie aufs Innigste verehre, und sein Lebensglück gesichert sein würde, wenn sie Freude und Leid mit ihm theilen wolle.

Ein schmerzhaftes Lächeln lief über das Gesicht des Doctors, dann hob er seine Augen zu ihr auf. Es war ein langer, brennender Blick, der zitternd über sie hinirrte, und sich niedersenkte, als sie ihn fest und muthig anschaute.

Seit einiger Zeit, sagte sie, weiß ich, daß Hertner mir seine Neigung schenkte. Er ist Ihr Jugendfreund, Sie haben ihn immer brüderlich geliebt, und er thut dies nicht minder. In Sorgen um Ihr Wohl ist er öfter in den letzten Wochen hier gewesen und hat mir dabei gezeigt, welche Herzensgüte und welchen männlichen Ernst er besitzt. Seine Liebe macht mich stolz, aber dennoch – ich möchte nichts eher entscheiden, ehe ich mich Ihnen vertraut: ich möchte dies Haus nicht verlassen ohne Ihre Beistimmung. Sagen Sie mir, was ich thun soll.

Johannes Gerber stand eine Minute lang, ohne Antwort zu geben, dann aber hob er den Kopf zu ihr auf und die alte, schöne Freudigkeit glänzte in seinen Blicken.

O, Marie! rief er, der Schutzgeist wird von uns gehen, doch Hertner verdient es und – Sie lieben ihn! – Die Freundin wird uns bleiben. – Gottes Segen über Sie, theure Marie! Nein! ich verliere Sie nicht, das ist unmöglich, meine edle, meine geliebte Freundin – meine Schwester!

In der Fülle seiner freudigen Begeisterung drückte er sie an seine Brust und schaute sie voll Zärtlichkeit an, bis plötzlich auch Marie die Arme um seine Schultern legte und ihn herzlich und innig küßte.

Und eben jetzt wurde die Thür geöffnet, und die gnädige Tante stand mitten darin. Es war nur ein Augenblick, aber er genügte vollkommen. Der Doctor fuhr, wie von einem Pfeil getroffen, zurück.

Lassen Sie sich gar nicht stören, sagte Frau von Graßwitz mit ihrer gewöhnlichen Würde, wenn Sie aber fertig sind, mein Lieber, so kommen Sie doch zum Frühstück, Emma wartet schon sehr lange.

Johannes stand verstummt und verlegen, als die Tante verschwunden war. Marie nickte ihm freundlich zu. –

Gehen Sie zu ihr, begann sie, ohne seine Bestürzung zu theilen, Emma's Herz ist gut. Sagen Sie ihr Alles, was Ihnen gut dünkt, mein brüderlicher Freund. Vielleicht war es eine gute Schickung, daß Frau von Graßwitz uns überraschte, geben Sie ihr keine Zeit neue böse Saat auszusäen. Niemand darf dulden, daß er verläumdet werde, wenn er die Macht hat, es zu hindern.

Trotz des Muthes, den er fühlte, blieb dem armen Doctor doch eine gewisse Bangigkeit übrig, die ihn auf den kurzen Weg begleitete. Zum ersten Male war die Freundlichkeit erheuchelt, mit welcher er seine schöne Frau begrüßte, denn sein Gemüth war von zu vielen Seiten bedrückt.

Die Tante saß bei Emma und diese hielt den Kopf in ihrer Hand, als er sich ihr näherte und nach den herkömmlichen Wünschen ihre Lippen berühren wollte.

Niemand hatte ihm gedankt, jetzt aber machte die junge Frau eine rasche, abwehrende Bewegung, die ihn erschreckte.

Setzen Sie sich, mein Lieber, sagte die Tante lächelnd. Sie sehen sehr angegriffen aus.

Bist Du krank, liebe Emma? fragte er.

Ich nicht, nein! erwiederte sie. Andere mögen es sein.

Unser armer kleiner Gotthold war sehr krank in dieser Nacht.

Und um dessentwegen bist Du zu Haus geblieben? Um die Nacht über an seinem Bette zu sitzen?

Mit der guten Marie, setzte die Tante hinzu.

Ihr allein haben wir es zu danken, daß das Kind uns erhalten ist, antwortete er lebhafter.

Ihre Dankbarkeit dafür ist jedenfalls unermeßlich groß, unterbrach ihn die gnädige Frau.

Sie wird niemals aufhören, erwiederte er.

Die Tante lachte boshaft. Ich muß Dir sagen, begann er verlegen, indem er sich zu Emma wandte, allein diese ließ ihn nicht weiter reden.

Ich mag nichts hören, fiel sie ein, nur um das Eine muß ich bitten, daß Marie heut noch unser Haus verläßt.

Unser Haus verläßt? fragte er. Das kannst Du nicht wollen. Erlaube mir, daß ich Dir erkläre. – Sie selbst wird Dir etwas vertrauen –

Ich verlange keine Erklärung, rief die Frau Doctorin heftig. Ich verlange, daß sie mich verläßt.

Das wäre mehr als undankbar, sagte er. Das kann nicht geschehen, wenigstens nicht in dieser Weise, nicht heut.

Allerdings heut, sogleich! rief sie noch heftiger. Ich glaube das fordern zu können und bestehe darauf.

Er schüttelte sanftmüthig den Kopf. Ich bitte Dich, liebe Emma, begann er leise, Du darfst nicht auf Marie zürnen, die Du lieben und verehren solltest.

Immer besser, immer besser! fiel sie ein.

Aber, mein Lieber, sagte die Tante, seien Sie doch erkenntlich für Emma's Nachsicht. Sie will ja nichts weiter hören und wissen, sie verlangt nur, daß die gute Marie sich nicht weiter für sie bemüht und das Haus verläßt.

Nicht eher, bis sie das selbst will, nicht eher! antwortete Johannes.

Der Ton war so nachdrücklich und so ungewöhnlich, daß die Frau Doctorin aufstand und mit dem Arm auf den Tisch gestützt stehen blieb. Ihr Gesicht röthete sich, erbittert zog sich der kleine hübsche Mund zusammen, ihre Augen waren voll Zorn.

Ruhig, mein Herzendkind, sagte die Tante. Dein Mann muß einsehen, daß Du Recht hast. Es ist durchaus nicht seine Sache darüber zu bestimmen, ob eine Gesellschafterin, die so überflüssig ist, im Hause bleiben soll oder nicht.

Sie soll fort! rief Emma. Sie soll – die Heuchlerin!

Wie kannst Du es wagen, sie mit solchem Namen zu nennen? erwiederte er. Geh zu ihr, und Du wirst es ihr abbitten.

Das ist zu viel! schrie sie auf, und indem sie gehen wollte, öffnete die Tante ihre Arme und hielt sie darin fest.

An Ihnen ist es jetzt Abbitte zu leisten, mein Lieber, sagte sie. Sie benehmen sich in unverantwortlicher Art. Wie können Sie nach dem Auftritte, den ich mit angesehen habe, verlangen, daß dies Mädchen noch hier geduldet wird?

Aber, mein Gott! rief der Doctor, handelt es sich darum? Marie hat mir anvertraut, daß sie – doch das ist ihre Sache – ich habe ihr gesagt, daß ich sie innig liebe und verehre, wie meine theuerste Freundin, wie meine Schwester. Ja, wie meine Schwester! fuhr er mit erhöhter Stimme fort, als er das Lächeln der Tante bemerkte, und wie wäre es möglich, daß ich ihr Leid zufügen könnte!

Für Ihre Frau, die Ihnen so viel geopfert hat, werden Sie dies Opfer dennoch bringen müssen, antwortete die Tante.

Geopfert? fragte er, bestürzt über das Wort. Was hat sie mir geopfert?

Ihre Jugend, ihre Aussichten, ihre Stellung zur Welt, ihren Namen sogar, fuhr Frau von Graßwitz fort. Ich denke, Sie müssen das einsehen, mein Lieber.

Oh – o! Emma! sagte er einen flehenden Blick auf seine Frau werfend, indem er beide Hände nach ihr ausstreckte.

Wenn Du mich liebtest, würdest Du darnach handeln! rief sie zurückweichend.

Wenn ich Dich liebte! murmelte er und mit einer Hand seine Stirn bedeckend fügte er hinzu: Wenn das nicht wäre – Mein Gott! wenn Deine Liebe nicht wäre, ich würde verzweifeln!

In diesem Augenblick kam Brinkmann herein und meldete, daß Herr von Sternau gekommen sei und den Herrn Doctor in dessen Zimmer erwarte.

Ein Wink der Frau Majorin entfernte den Diener sogleich wieder, dann wandte sie sich an Johannes.

Leopold kommt zur rechten Zeit, sagte sie, gehen Sie, er wird Ihnen gewiß Manches mitzutheilen haben. Dem Geheimrath war es gestern nicht angenehm, daß Sie fortblieben, er wollte mit Ihnen sprechen. Es ist Alles so gut wie abgemacht, Sie werden die Stellung erhalten, aber seien Sie jetzt vernünftig, kränken Sie Emma nicht mehr, überlassen Sie ihr zu thun was nöthig ist, um – Ihre Irrthümer gut zu machen. – Ich bitte Sie, mein Lieber, nur jetzt keine weiteren Erörterungen, fuhr sie fort, als sie bemerkte, daß er etwas erwiedern wollte. Emma ist aufgeregt, Sie müssen beide ruhiger werden. Gehen Sie doch, gehen Sie, wir wollen nachher das Versöhnungsfest feiern.

Er war noch immer gehorsam genug, diesen Weisungen Folge zu leisten, aber es kostete ihm große Ueberwindung, sich zu entfernen. Emma lehnte den Kopf auf die Schulter ihrer Tante und blickte nicht auf, als er traurig und verlangend sie betrachtete. Sein Herz war wund von dem Weh, daß sie auf ihn zürnte, wund von dem Unrecht, das er erfuhr, und doch nicht hoffnungslos. Ja, diese Hoffnung regte sich lebendiger, als er, draußen zögernd, die gute Tante lachend sagen hörte:

Aber Emma, ich glaube wirklich, Du bist alles Ernstes eifersüchtig. Ich dächte, dazu könnte Dein Mann Dir keine Veranlassung geben.

Ehe Emma etwas erwiederte, ließ sich Sternau auf dem Gange vernehmen, und als der Doctor die Thür des Vorzimmers aufmachte, trat er ihm entgegen; aber diese wenigen Augenblicke reichten hin, um Johannes ruhiger und muthiger zu machen. Die Tante vertheidigte ihn, sie ermahnte Emma, das waren gute Zeichen; selbst der Vorwurf, daß sie eifersüchtig sei und keinen Grund dazu habe, brachte ein eigenthümliches, freudiges Empfinden in ihm hervor. O, er wollte sie versöhnen, sie sollte ihn hören, und er wollte ihre Eifersucht, die ihn heimlich freute, mit verdoppelter Liebe lohnen. – Sein Gesicht hellte sich bei diesem Gedanken auf, und Sternau wurde von ihn mit Freundlichkeit begrüßt.

Nun, sagte der junge Held, ich sehe, Ihr Unwohlsein von gestern hat nichts zu bedeuten, aber es ist Schade, daß Sie nicht bei uns waren. Wir haben uns köstlich vergnügt, Cousine Emma tanzt göttlich; überhaupt, Doctor, Sie sind beneidenswerth!

Johannes rieb sich lächelnd die Hände:

Ich hoffe es zu sein, sagte er. Emma ist sehr liebenswürdig. Es freut mich, wenn sie vergnügt war und – ja, das freut mich noch mehr, daß Sie es auch heut sein kann.

Herr von Sternau verstand den Sinn seiner Antwort nicht, oder er verstand ihn falsch.

Sie meinen wegen dessen, was Köller ihr gesagt hat. Die Sache ist richtig, lieber Doctor, der Staatskanzler wird seinen ganzen Einfluß geltend machen und dem kann der Minister nicht widerstehen, obwohl er allerdings einen anderen Candidaten für die Professur sich schon ausgesucht hatte. Lassen Sie uns in Ihr Zimmer gehen, ich habe Ihnen noch etwas darüber mitzutheilen. Mein Schwager hat mir nämlich Ihre Arbeit mitgegeben, die er in vieler Beziehung ganz vortrefflich findet, nur Einiges wünscht er umgeändert, wie ich es Ihnen schon andeutete. Da Sie nun gestern nicht gekommen sind, habe ich das Manuscript mitgebracht und werde Ihnen die rothen Striche erklären.

Die Bogen fanden sich auf dem Schreibepult des Gelehrten, und Herr von Sternau schlug sie auseinander und deutete auf die Zeichen, welche sein Schwager gemacht hatte.

Ich will ihnen zunächst einfach wiederholen, begann er, was Köller mir sagte. Die Arbeit, sagte er, ist außerordentlich geistreich, gedankenvoll und prächtig, ich habe sie mit dem größten Interesse gelesen. Doctor Gerber hat mit bewunderungswerther, kühner Freimüthigkeit seine Anschauungen darin niedergelegt, daß die Kunst in die Bildung des Volks eingreifen müsse, um dies zur sittlichen Freiheit zu erziehen, und wie mit dieser Volksfreiheit erst die rechte Entwickelung der Kunst in ihrer höchsten Vollendung zu erwarten stehe.

Ganz recht, sagte Johannes. Der Geheimrath hat gut gelesen. Erst wenn die Kunst wirklich Eigenthum des Volkes geworden ist, wenn das Volk lebendigen Antheil daran nimmt, wenn sie im Volke lebt und der Schönheitssinn aus ihm heraustritt, kann die moderne Kunst die Wechselwirkung ihrer Veredelung und Erhebung durch die Veredelung und Erhebung des Menschengeschlechts erreichen. Und dazu gehören freie Staatsformen, ein freies Entfalten aller menschlichen Thätigkeit und aller Geisteskräfte, eine glückliche Harmonie der Belebung der ganzen Gesellschaft, die den Staat bildet, der selbst ein Kunstproduct ist.

Sie haben mit edler Begeisterung und mit poetischem Feuer Ihren Aufsatz geschrieben, lieber Doctor, antwortete Sternau, aber Sie haben die praktische Seite vergessen. Sie sind von den Ideen ausgegangen, nach denen die beste Welt gemacht werden könnte, ohne zu bedenken, wie sie in der Wirklichkeit vorhanden und schon fertig ist.

Ein schwermüthiges Lächeln zog um die Lippen des Gelehrten. Er dachte an die Fabrikvorstadt und was ihm dort eingefallen.

O! erwiederte er, allerdings darf man nicht zu viel erwarten, allein die Menschen sind ursprünglich gut, und ihr Streben geht nach dem Göttlichen. Man muß ihnen den Weg zum Wahren und Schönen wenigstens zeigen, so weit man ihn selbst zu erkennen vermag.

So weit man dies thun darf, fiel Sternau ein. Ich will Ihnen jetzt weiter mittheilen, wie Köller urtheilt und was ich selbst für das Richtige halte. Diese Abhandlung soll Ihnen zur Empfehlung bei dem Minister dienen, trotz aller ihrer Vorzüge wird sie dies jedoch nicht thun, wenn Sie dieselbe nicht umarbeiten. Der Minister wird davor erschrecken und dem Staatskanzler sagen, wie ist es möglich einen solchen Mann anzustellen, der ohne alle Scheu die gefährlichsten Grundsätze predigt! In dieser ganzen Abhandlung ist kein Wort von den christlichen Grundlagen der Kunst zu finden.

Es giebt keine christliche Kunst, sagte Johannes sanftmüthig den Kopf schüttelnd.

Nun gut, es giebt keine christliche Kunst, aber die Kunst soll doch das Ziel haben, die Zwecke des Staates und das religiöse Gefühl zu unterstützen.

Die Kunst hat gar keinen Zweck, antwortete der Doctor hartnäckig, sie ist sich selbst ein Zweck und Ziel, sie will nichts als das Schöne, und darüber läßt sich keine Erklärung geben. Es müßte denn sein, fügte er lächelnd hinzu, daß man sagen wollte, sie ist der Messias, den die duldende Menschheit erwartet, der das irdische Leben leicht, schön und glücklich machen soll.

Bester Doctor! rief Sternau belustigt, es hilft uns kein Schwärmen, wir müssen nüchtern die nüchternen Dinge betrachten, wie sie sind. Hat die Kunst keine Zwecke, so hat der Staat dergleichen und darf nichts dulden, was diesen entgegen ist. Kein sogenannter Messias verträgt sich damit, Christus selbst würde übel fortkommen; und wenn jemand Professor werden, ein Staatsamt einnehmen will, so darf er mit keinem Programm auftreten, das damit beginnt zu verkündigen, die Kunst sei dazu da, die Völker zur Freiheit zu führen, und könne nur gedeihen, wenn die Republik proclamirt werde.

Das habe ich nicht gesagt, erwiederte Johannes Gerber.

Gleichviel, man legt es Ihnen so aus. Mit dieser Abhandlung, wie sie da ist, dürfen wir also dem Minister nicht kommen. Alle die schönen Gedanken über Kunst und Bildung durch Kunst können Sie beibehalten, allein ihre Entwickelung muß darauf hinausgehen, daß es die eigentlichste Aufgabe der Kunst sei und bleibe, das religiöse Gefühl zu beleben, das patriotische Gefühl zu stärken, kurz überhaupt Staat und Kirche zu unterstützen.

Aber das glaube ich nicht, sagte der Gelehrte.

Ich glaube es auch nicht, lachte Sternau, aber darauf kommt es ja gar nicht an. Der Staat hat seine Zwecke und Sie haben die Ihrigen, es kommt also darauf an beide zu vermitteln.

Das werde ich niemals thun! erwiederte der Doctor im festen Tone, denn das wäre – Er schwieg still und seine Unmuth machte einer plötzlichen Freude Platz, denn sein Onkel steckte wie gewöhnlich den Kopf zur Thür herein, ehe er nachfolgte, und mit einem Male dachte Johannes daran, was dieser Besuch zu bedeuten habe.

Was willst Du niemals thun? schrie der alte Herr mit dem Stock aufstampfend und dann wandte er die schelmisch blickenden Augen auf den Herrn von Sternau, schwenkte seinen Hut und machte ihm eine eben so tiefe Verbeugung, wie er sie vor der Frau Majorin gewöhnlich machte.

Es sollte mir leid thun, fuhr er dabei mit seiner krähenden Stimme fort, wenn ich eine vertraute Unterhaltung unterbrochen hätte.

Ich glaube, wir werden uns darin nicht stören lassen, sagte Sternau, denn es handelt sich um etwas, worin Sie mir beipflichten werden. Der Doctor soll eine Professur erhalten, er hat eine Abhandlung geschrieben.

Wie das Volk durch die Kunst glücklich gemacht werden soll, fiel der alte Herr ein. Bleiben Sie mir mit dem Zeug fort, es ist doch nichts als Schwindel. Wollt ihr das Volk glücklich machen, so gebt ihm Brot, gebt ihm Ordnungssinn, und Zeit zum Nachdenken. Hebt's heraus aus dem Schmutz der Armuth und der Sünden, die daran kleben, und macht, daß Jeder sein reines Hemd und seine reinen Hände lieb hat. Könnt Ihr das, so wird sich alles andere finden; könnt Ihr es nicht, so ist Eure ganze Kunsterziehung dummes Zeug, und es wird im ganzen Leben nichts daraus.

Ganz vortrefflich! lachte Sternau, und sehr weise. Es kommt nichts darauf an, was man über ein so unfruchtbares Thema sagt. Der Stein wird niemals Brot werden, allein unser eigen Brot darf sich nicht in Stein verwandeln. Aendern Sie die Schrift da, lieber Doctor, es sind ja nichts als Buchstaben. Die Welt will betrogen sein, das ist die einzige Wahrheit, die durch Jahrtausende immer dieselbe geblieben ist. Dann geben Sie mir den Aufsatz zurück, und in acht Tagen wird Ihnen nichts mehr zu wünschen übrig bleiben.

Johannes stützte seine Hand auf das Papier, seine Augen ruhten darauf. Plötzlich hob er den Kopf auf und sagte mit voller Stimme:

Ich ändere nichts! Was Sie Buchstaben nennen, sind keine gleichgültigen Zeichen, sie drücken meine Ueberzeugungen aus; wenn ich andere dafür hinsetzen könnte, würden es Lügen sein. Es kann sein, daß ich mich irre, allein es ist meine Meinung, ich glaube daran. Wer verläugnen kann, was er glaubt, der verräth sich selbst und ist aller Schande fähig.

Die harten Worte brachten ein erneutes Lächeln auf Sternau's Lippen.

Aber, bester Doctor, sagte er, mein Schwager kann Ihre Abhandlung in dieser Form nicht zu Ihrem Vortheil benutzen.

Und Vortheil muß doch Alles bringen! rief der Onkel. Gewissen, Ehre, Ueberzeugung, es ist nichts als Hokuspokus, wenn es nichts einbringt. Was ist Rechtlichkeit, was ist Treue, was ist Freundschaft? Nichts als lächerliche Einbildung, die man verachten muß. Die Welt will betrogen sein. Das ist die einzige Wahrheit! Und so betrügt man alle Einfältigen und Leichtgläubigen. Man betrügt sie und verlacht sie, nimmt ihnen ihr Geld nicht allein ab, sondern tritt ihren Glauben, ihre Ehre unter die Füße, brandmarkt sie mit Schande und Hohn jeder Art, und es geschieht ihnen recht, denn warum sind sie nicht klüger!

Der alte Herr lachte vergnüglich und stampfte mit seinem Stock auf, indem er sein Gesicht mit den spottsüchtigen scharfen Augen nach allen Seiten wandte.

Herr von Sternau war unangenehm dadurch berührt, allein er war seiner Ueberlegenheit zu gewiß, um die Ungeschliffenheit dieses Pfalbürgers zu fürchten. Er wußte, welche Macht die Tante ausübte, was eine Bitte der hübschen Frau vermochte, daher lächelte er mit vornehmer Geringschätzung dazu.

Wir wollen unsere Zeit nicht mit Geschwätz verderben, so belustigend dies auch sein mag, sagte er. Ueberlegen Sie wohl, was Sie thun, lieber Doctor, und ich denke, Sie werden das Richtige, das heißt das Verständige thun. Inzwischen gehe ich zu den Damen und werde deren Beistand in Anspruch nehmen. Auf Wiedersehen also!

Die letzte Erklärung klang drohend genug und verfehlte ihre Wirkung nicht. Johannes dachte sogleich daran, was die Tante und was Emma sagen würden, wenn er bei seinem Willen verharrte; wenn Sternau ihnen mittheilte, daß nichts aus dem ganzen schönen Plane werde könne, und wenn dann Alle über ihn herfielen. Ein zaghaftes Gefühl überkam ihn, verdüstert und verwirrt sah er dem lächelnden klugen Freund nach, der wohl überzeugt sein mußte, was endlich doch das Ende sein werde, denn mit Siegesgewißheit nickte er dem Doctor zu.

Kaum aber war er fort, als der alte Herr auf seinen Neffen los ging und nicht weniger siegesfreudig ihn umarmte.

Gut gemacht, Johannes! rief er, das ist ein Taugenichts von der rechten Sorte, Du bist jetzt in der letzten Stunde; da muß also gesprochen sein. Weißt Du denn, was in Deinem Hause vorgeht? Marie soll heut noch hinausgeworfen werden. Die Frau Tante, die hier commandirt, hat es ihr eben angekündigt.

Das kann nicht sein, sagte der Doctor bestürzt.

Und den Peter werfen sie hinter her, fuhr der Onkel fort. Der alte Narr steht draußen und heult wie ein Weib, weil er in ein Spital soll.

Nein, nein! antwortete der Doctor noch verlegner, er soll seine Tage in Ruhe verleben.

Bei mir, fügte der alte Herr hinzu, aber – er blickte scharf zu ihm auf – es giebt noch andere schlimmere Sachen, die Dich selbst betreffen. Weißt Du denn, daß Deine Frau mit dem Herrn Vetter und seinen Freunden spazieren reitet?

Ihre Gesundheit, sagte Johannes stockend, und sie liebt es und –

Und das Pferd, das er ihr verschafft hat, gehörte seiner Geliebten, einer berüchtigten Person, und die galanten Herren lachen und spotten über den klugen Mann, der das zugiebt und darnach behandelt wird.

Man muß nicht Alles glauben, stotterte der Doctor, indem er seine Abhandlung zusammenpackte.

Der sich um sein Geld bringen läßt, wie ein Kind, fuhr der alte Herr fort. Heut in aller Frühe ist ein arger Wucherer bei mir gewesen, den der feine Herr da hatte rufen lassen, um ihm Wechsel von meinem Neffen zu verkaufen. Johannes! Johannes! es liegt ein Abgrund vor Dir, rette Dich davor und rette, was Du liebst. Rette Deine Frau, denke an Deine Ehre.

Oh! Emma! murmelte Johannes und plötzlich schwieg er still, eine dunkele Gluth bedeckte sein Gesicht. Sie ist schuldlos, sagte er leise.

Ich will es glauben, daß sie es noch ist, antwortete der Onkel, allein hier habe ich ein Billet, das hat der Zufall in meine Hände geführt, ich will Dir sagen wie. Heut in der Frühe ist es angekommen für die Frau Majorin, die hat es auch gelesen und eingesteckt, dann hat sie es wahrscheinlich verloren, und ich kam eben dazu, wie es Jemand gefunden hatte, nämlich Marie in ihrem Zimmer. Da es offen war, ich Deinen Namen darin sah und Emma's Namen, habe ich es gelesen und es wird nöthig sein, daß Du es auch thust, wenn es auch nicht schön ist, daß man anderer Leute Briefe liest.

Ich will nichts lesen! rief der Doctor das Billet abweisend, das sein Onkel ihm hinhielt.

So will ich es für Dich thun, sagte dieser und will alle Sünde daran auf mich nehmen. Halt still Johannes und höre zu, es ist Wahrheit genug darin, um Gott dafür zu danken.

»Beste, gnädigste Cousine:

Sie haben mir gestern Muth gemacht, mein Herz vor Ihnen auszuschütten und haben mir Rath und Warnungen ertheilt, die meinen innigsten Dank erfordern. Ich werfe mich Ihnen zu Füßen und überliefere mich und mein Schicksal Ihrer Gnade. Ja, ich liebe Emma, ich bete sie an. Ein Mann, der ohne alles Verdienst diesen Schatz besitzt, ihn nicht kennt, nicht achtet, seiner nicht würdig ist, steht zwischen ihr und mir, aber kann diese Trennung uns hindern, kann das Hinderniß nicht fortgeräumt werden? Sie liebt ihn nicht, sie hat es mir gestanden; er ist ihr gleichgültig, wie könnte es auch anders sein! Ein unbehülflicher Gelehrter, der keinen Sinn für so viele Liebenswürdigkeit hat, ist kein Gatte für Emma, die einer edleren, höheren Sphäre angehört. Beschützen Sie uns, theuerste Cousine, ich beschwöre Sie darum! Beschützen Sie Emma, besänftigen Sie die Zweifel, welche sie vielleicht noch bestürmen, helfen Sie uns zu unserem Glück. In kurzer Zeit werde ich die Stellung einnehmen, welche ich wünsche; dann kann uns nichts mehr hindern, allen Widerstand zu überwältigen, dann werden wir uns auf ewig vereinigen und unsere innige Dankbarkeit wird Sie segnen. Bereiten Sie Emma vor auf meine Geständnisse; sagen Sie ihr, wie unaussprechlich elend ich bin, wenn sie mich nicht erhört.

Leopold.«

Während der Onkel langsam Silbe vor Silbe und Wort vor Wort las, veränderte sich das Gesicht und die Gestalt seines Neffen in erschreckender Weise. Alles Blut drängte sich in seinen Kopf zusammen und wie Einer, der, vom Schwindel ergriffen, von der Zinne eines Thurmes in schauerliche Tiefe schaut, umklammerte er krampfhaft das Geländer seines Schreibtisches. Sein starker Körper beugte sich zusammen, seine Augen hingen flehend an dem Mund des alten Oheims, mit solcher Gewalt, als wollte er ihn zwingen aufzuhören. Kein Laut kam über seine Lippen, und je weiter der greise Mann las, je höher richtete er sich auf, je größer und starrer öffneten sich seine Augen, je mehr verlief sich die blutige Farbe seines Gesichts und dies selbst wurde schmaler und spitzer, bis es eingesunken und graubleich wie das Gesicht einer Leiche aussah.

Als der alte Herr geendet hatte und zu ihm aufsah, erschrak er vor Mitleid und vor Furcht. Er legte seine Hand auf ihn und sagte voller Bewegung: Mein Sohn, Johannes, sei ein Mann!

Ja, ja! murmelte der Doctor. Weiter! weiter!

Es ist alles, was hier steht, erwiederte der Onkel.

Alles – er streckte die Hand nach dem unheilsvollen Papiere aus, und seine Blicke hafteten auf der Stelle, die sein Herz durchbohrte. Gleichgültig! flüsterte er in sich hinein, und ein unsäglicher Schmerz krampfte Nerven und Muskeln zusammen. Verrathen, getäuscht, vernichtet, der einzige letzte Stab seiner Hoffnungen zerbrochen, sank sein Kopf auf seine Brust nieder, und die Liebe darin, um die er Alles freudig getragen, wand seine Wunden in ihr Sterbetuch.

Sie hat es ihm gestanden! schrie eine schreckliche Stimme in sein Ohr, und er bebte zusammen. Das Hinderniß muß fortgeräumt werden! schallte es wie ein furchtbares Echo in seinem Herzen wieder. In wenigen Minuten lebte er ein langes entsetzliches Leben. Die Angst, welche sein Gehirn mit Fieber füllte, das Grauen, dessen Ahnung schon gestern wie ein Gespenst aus dem Boden stieg und seinen feuchten kalten Nebelmantel um ihn schlug, sie stritten sich jetzt mit Glut und eisigem Erstarren um ihre Beute.

Wie in eine endlose Ferne sah er in seine Zukunft, die nackt und brennend, einer Wüste gleich, vor ihm lag. Kein grünes Blatt, kein Brunnen, keine Kühlung darin; nichts zu erblicken, als öde Wildniß, und er allein, ohne Trost, ohne Licht, in grenzenloser Vereinsamung. Er rang nach Athem, und seine Hände griffen nach seiner Brust, als wollte er diese aufreißen, um den Tag hinein zu lassen. Plötzlich sanken seine Finger wieder. Mit seinen Schmerzen mischte sich ein anderes Gefühl. In seinen innersten Eingeweiden sprang ein Funke auf, der zur Flamme wurde, und diese loderte aus seinen Blicken, als er den Kopf aufhob, bis dieser fest ihm auf dem Nacken stand.

Der Zorn ringend mit seinem Stolze war in ihm aufgewacht und sammelte die edelsten Streiter, die dem Menschen zur Seite stehen gegen Unrecht und Schmach), unter seiner Fahne. Das Bewußtsein seiner Liebe und seines Werthes, sein Selbstgefühl und sein Recht richteten sich in ihm auf, und ein Strom von Kraft und Gedanken rollte durch sein Gehirn.

Wer war er und wer war der Mann, der ihm vorgezogen wurde? Ein leichtsinniger, gewissenloser, wüster Mensch, dessen Erbärmlichkeit er jetzt durchschaute: Wer war diese eitle, hochmüthige Frau, die ihn und sein ganzes Haus mißhandelte? Schaam und Verachtung stürmten auf ihn ein, und mitten in diesem Kampfe klärte sich sein Gesicht, vergeistigten sich seine Züge und prägten sich zu einer Festigkeit aus, die des alten Onkels Bestürzung nicht verminderte, denn er hatte ihn noch nie so gesehen.

Was willst Du thun? fragte er, als er sah, daß Johannes das Billet zusammenfaltete und einsteckte, zugleich aber das Zimmer verlassen wollte.

Was ich muß! antwortete der Doctor.

Halt ein! laß uns überlegen, rief der alte Herr.

Die Zeit dazu ist vorbei, erwiederte der beleidigte Mann, indem er seinen Weg fortsetzte.

Mit raschen, sicheren Schritten ging er, und das Lachen der guten Tante war das Erste, das er hörte. Er hielt nicht ein, wie er sonst wohl gethan, um furchtsam zu horchen und die Hand leise und scheu nach der Thür auszustrecken. Mit einem festen Druck öffnete er sie, mit festen Blicken sah er auf die Anwesenden. Emma richtete die Augen vor sich nieder, sie schien leidend und erregt zu sein, Sternau saß in nachlässiger Stellung ihr gegenüber und betrachtete sie, während er der Tante zustimmte, die das Wort genommen hatte.

Dieser tugendhafte Gemahl, sagte sie, wird Dir doch keine Launen machen, mein Kind? Leopold begleitet Dich auf Deinen Spazierritt, während dessen werde ich ihn zur Einsicht bringen.

Eben zeigte sich Johannes; und ohne ihren Ton zu wechseln, oder ihren Platz zu verlassen, fuhr sie fort:

Da kommt er ja selbst! Wie ist es möglich, mein Lieber, daß Sie Ihre Schreiberei nicht ändern wollen, wo Alles darauf ankommt, daß – Ihr Eigensinn –

Sie stand auf, denn der Doctor ging an ihr vorüber ohne sie anzusehen, und durch die Thür, welche er offen gelassen hatte, trat der abscheuliche alte Mann herein, der sie hinter sich schloß und, beide Hände auf seinen Krückstock gelegt, sich vor dem Eingange aufstellte.

Sieh mich an, Emma, sagte Johannes inzwischen, als er dicht an seine Frau gelangt war. –

Der ungewöhnlich ernste, harte Klang seiner Stimme schreckte sie auf, und ein sonderbares Zittern lief über sie hin, als sie in sein Gesicht schaute. Sie war gewöhnt, ein sanftes Lächeln darin zu finden, gewöhnt, in seinen Augen einen Strahl jener bittenden Gläubigkeit zu erkennen, die Alles gut und schön preist, was die Geliebte thut. Statt dessen blickte er, nicht zornig oder streng, aber mit solcher durchdringenden, kalten Bestimmtheit auf sie, daß sie es mühsam ertragen konnte.

Er zog den Brief hervor, schlug ihn auf und reichte ihn ihr hin.

Lies das, sagte er den Arm mit dem Papier ausstreckend.

Sie überflog die Worte; dunkle Röthe bedeckte ihre Stirn, er beobachtete ihre Verwirrung.

Ist das wahr? fragte er, indem er mit dem Finger auf die bestimmte Stelle deutete. Hast Du ihm das gestanden?

Johannes! – O! mein Gott! rief die junge Frau.

Ich bin Dir gleichgültig. Du trägst Fesseln! fuhr er mit derselben markigen Fassung fort. Sprich, oder schweig, wenn reden Dir zu schwer wird. Du bist noch ehrlich genug, um nicht zu lügen.

Sie sind ein Barbar! schrie die Tante. Sie tödten Emma! Mein heißgeliebtes Kind, richte Dich auf. Und wie kommen Sie zu diesem Billet? Wer giebt Ihnen das Recht, meine Briefe zu lesen?

Mit edler Hoheit und den überwältigenden Blicken, die so oft schon ihn gedemüthigt hatten, rauschte sie an ihm hin, um Emma in ihre Arme zu schließen, aber er vertrat ihr den Weg und wies sie zurück. –

Schweigen Sie, sagte er, und behalten Sie Ihren Platz. Was ich mit meiner Frau hier abzumachen habe, verträgt Ihre Einmischung nicht. Diesen Brief habe ich gelesen, Rechenschaft bin ich Ihnen darüber nicht schuldig.

Mir aber sind Sie diese schuldig, fiel Sternau ein, oder gleichviel, wenn Sie meinen, ich hätte sie zu geben. Ich läugne nichts. Da die Sache bis zu diesem Punkte gekommen ist, so können wir sämmtlich nichts weiter thun, als in ehrenwerther Weise uns verständigen.

Der Doctor kehrte sich von ihm ab. –

Es ist wahr, sagte er, ich bin ein unbehülflicher Mann, kein Gegenstand der Liebe für eine schöne, junge Frau. Ich habe nicht bedacht, daß Du ein Opfer brachtest, als Du Dein Leben mit dem meinen verbandest. – Opfer! Fesseln! ich ahnte das nicht, denn ich liebte Dich. Furchtbarer Gedanke! rief er mit äußerster Gewalt sich zur Ruhe zwingend, um seine Bewegung zu verbergen. Die ein Opfer, Die in Fesseln, deren Glück wir mit Seele und Leben erkaufen möchten; aber es ist genug. Deine Fesseln fallen ab, Du bist frei!

Emma hielt ihre Hände vor ihr Gesicht gedeckt, jetzt ließ sie diese fallen und starrte ihren Gatten entsetzt an.

Ich werde alle Sorge tragen, fuhr er fort, die nöthig sind für Dein Wohl. Nur das Kind – das Kind! das, bleibt mein, das gebe ich nicht, Niemand in der Welt soll es mir nehmen!

Sie hob die Arme zu ihm auf. Seine Augen strahlten, alle seine Muskeln drückten sich mit eiserner Kraft zusammen.

Erbarmen! habe Erbarmen! sagte sie kaum hörbar – ich bin schuldig – aber Du weißt nicht – o, Johannes! Du weißt nicht. – Nein! es ist nicht wahr; schrie sie verzweiflungsvoll auf.

Herr von Sternau, sagte er ungerührt davon, besitzt eine Geldsumme, welche ich Dir zunächst überweise. Sei glücklich mit dem Manne, den Du liebst! sei glücklich!

Höre mich! höre mich! rief sie in Schmerz und Leidenschaft sich an ihn klammernd. Dich liebe ich, Dich allein! Nur Dich, nur Dich!

Ob er sich selbst bewahren wollte, ob er vor einer Schwäche seines Herzens erschrak – er wich vor ihr zurück und machte seinen Arm mit solcher Gewalt frei, daß sie taumelte. Du hast gewählt, murmelte er, kein Betrug mehr!

Mein Kind! rief die Tante, armes Kind! Er mißhandelt Dich. Das ist verächtlich. Wir gehen, ja, wir gehen Alle!

Sie wollte Emma unterstützen, doch noch ehe sie dies vermochte, näherte sich der Onkel von der anderen Seite der leidenden, jungen Frau, die mit einem Schrei sich an seine Brust warf.

Ich will nicht fort! rief sie. Er hat mich von sich gestoßen, mein Vater! Retten Sie mich – Vergebung! O! mein Gott, Vergebung!

Der Greis legte seine Arme um sie und blickte seinen Neffen an, der unbeweglich blieb. Die Lippen zusammengepreßt, die Augen tief in ihre Höhlen zurückgezogen, ein unheimliches Feuer darin.

Soll ich richten zwischen Euch, sagte der Onkel, so werfe ich den ersten Stein auf Dich, Johannes. Warum littest Du es, daß ein Herz, das Dich liebte, von Dir gerissen wurde? Warum warst Du kein Mann in Deinem Hause? Warum zeigtest Du herrschsüchtigen Weibern und Gecken nicht längst so, wie Du es heut thust, daß Du ihre Nähe nicht länger dulden willst? Hebe Deine Augen auf und sieh der Frau hier ins Gesicht, die gefehlt hat, und um Vergebung ruft. Sie liebt Dich noch, sonst würde sie Dich jetzt verlassen, wo sie es thun kann. Die alte Liebe ist in ihr aufgewacht, denn Du hast ihr gezeigt, daß Du ein Mann sein kannst. Du willst nicht? Du schüttelst den Kopf? Du glaubst es nicht?

Er stemmte den Arm in die Seite und legte den anderen Arm um Emma.

Dann wirf sie von Dir, dann versuche es, bis die Reue kommt. Komm mit mir, mein Töchterchen, zieh wieder ein in mein Haus. Setze Dich wieder in die Laube und erwarte ihn, bis er kommt, bis die Sehnsucht ihn treibt, bis sein Herz ihm sagt, daß auch er Vergebung nöthig hat, und bis – hier glänzte das Gesicht des alten Herrn wieder voll Schelmerei – bis der Satan ausgetrieben ist!! schrie er, indem er den dürren Hals mit dem weißen Kopf gegen die gnädige Tante vorstreckte.

Aber je länger er redete, um so größere Ruhe überkam die junge Frau, und als der alte Oheim ihr seinen Arm reichte, wandte sie sich von ihm zu ihrem Mann, vor dem sie demüthig stehen blieb.

Johannes, sagte sie leise, ich will thun, was Du befiehlst, denn Du bist mein Herr und die Schuld ist mein. Du hattest mich verwöhnt mit Deiner übergroßen Güte und Liebe, und als ich vor mir selbst bange wurde, als ich zu Dir fliehen wollte, verstandest Du mich nicht, und ich wähnte mich zurückgesetzt gegen Deine Bücher, Deine Gelehrsamkeit. Das kränkte mich, das verwirrte mich. Ich bin jung, ich folgte üblem Rath, ich sah, wie viel ich vermochte, wie mein Wille Dir Alles galt, und ich überließ mich meiner Eitelkeit, meinen Thorheiten; ich – ich wandte mich von Dir in meinem Sinn, ich vergaß mein Kind, ich haßte die, von denen ich wußte, daß sie Dir werth waren und mich tadelten. –

Sie hielt einen Augenblick inne, um tief Athem zu schöpfen, dann fuhr sie den Kopf senkend fort:

Stoß mich von Dir, entferne mich von meinem Kinde, nenne mich Betrügerin, ich will es dulden. Du hast den Glauben verloren, und ohne Glauben giebt es keine Liebe.

Emma! rief Frau von Graßwitz, demüthige Dich nicht so entsetzlich, ich kann es nicht länger ertragen. Als meine nächste Verwandte wirst Du bei mir Schu6z und Hülfe finden.

Eines glaube mir, Eines schwöre ich Dir! fuhr Emma fort ohne darauf zu achten. Nie werde ich bei meiner Tante Schutz suchen, und niemals wird der Mann dort, Sternau, mir nahen dürfen. Ich liebe ihn nicht! das ist mein letztes Bekenntniß, und nun bin ich bereit, jetzt sage mir, daß ich gehen soll.

Johannes hatte die Augen zu ihr erhoben, ihre Blicke trafen zusammen. Plötzlich hielt er sie an seinem Herzen und beugte sich über sie hin.

Wähle, sagte er mit tiefer Stimme, wähle – noch ist es Zeit! Aber nein, nein! fuhr er fort, es ist zu spät, Du hast gewählt. Meine Emma! ich glaube wieder!

Victoria! schrie der alte Onkel, indem er seinen Stock fortwarf. Kommen Sie näher, gnädigste Tante, und freuen Sie sich an Ihrem Werke.

Diese Freude werde ich Ihnen überlassen, erwiederte die Frau Majorin. Ich habe nichts mehr mit einer Frau zu thun, die sich so herabwürdigen kann.

Glückliche Reise! rief der alte Herr, als die gnädige Frau Sternau ihren Arm reichte; aber warten Sie noch einen Augenblick. Die Wechsel, mein lieber Herr von Sternau, welche Sie von meinem Neffen erhalten haben, werden Sie zurückliefern. Geld braucht er nicht; sollte er davon nöthig haben, so bin ich da. Es sind alle Vorkehrungen getroffen, damit kein Schaden geschehen kann. Und hier noch etwas zu Ihrer Beruhigung, meine liebe, gnädige Frau – hier kommt Marie, die sobald als möglich, ganz wie Sie es befohlen haben, dies Haus verlassen wird, denn ihr Bräutigam will nicht länger warten.

An Hertners Arm war Marie eingetreten, und hinter ihnen zeigte sich Peters treuherziges Gesicht mit seinem seligsten Grinsen.

O, Marie! rief Emma, die der Freundin entgegeneilte und freudig weinend sie umarmte.

Mach die Thür auf, Peter! schrie der Onkel, damit die gnädige Tante hinaus kann, aber Ihr, meine Kinder, her zu mir! Unter Eurem Apfelbaum sollt Ihr sitzen, und seine Blüthen sollen Euch ein Wahrzeichen sein. Den dürren Zweig aber brecht ab, und niemals laßt einen neuen wachsen!



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