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III.

18. September

Heute, am Sonntag, bin ich morgens zur Kirche gegangen.

Wie schon einmal betont, bin ich nicht gerade bigott, doch ich bewahrte mir meinen Glauben. Da kann einer reden, was er will, mir geht nichts über meinen Glauben. Die Reichen mögen vielleicht darauf verzichten, aber unsereins kommt ohne Religion einfach nicht aus. Natürlich weiß ich, daß manche Leute sich des Glaubens auf recht ungewöhnliche Weise bedienen und daß es eine Menge Geistliche und Nonnen gibt, die ihrem Amt keine Ehre machen. Aber das spielt keine Rolle. Wenn man unglücklich ist – wie oft ist man in unserem Beruf unglücklich! –, gibt es kein besseres Mittel, über all den Kummer hinwegzukommen, da hilft nur der Glaube. Und auch die Liebe. Ja, ja, auch die Liebe ist in ihrer Weise ein Trost. Jedenfalls versäume ich nie die Messe, selbst in Herrschaftshäusern nicht, wo man sich darüber lustig macht. Außerdem ist es oft die einzige Gelegenheit, ein wenig aus dem Trott herauszukommen, sie gewährt eine gewisse Zerstreuung und eine Ablenkung von allem beruflichen Ärger. Dort trifft man Kameradinnen, man hört Histörchen und findet Gelegenheit, Bekanntschaften zu schließen. Ach, wenn ich zuzeiten vielleicht auf die älteren Herren gehört hätte, die mir beim Kapellenausgang so manchen merkwürdigen Psalm ins Ohr flüsterten, dann wäre ich höchstwahrscheinlich woanders als hier.

Endlich hat sich das Wetter etwas gebessert. Die Sonne sickert durch den herbstlichen Frühnebel, das macht das Atmen leichter und sogar die Füße, so daß man beim Ausschreiten seine Sorgen vergißt. Ich weiß nicht warum, aber unter dem Eindruck dieses blaugoldenen Himmels verspürt mein Herz fast so etwas wie Heiterkeit ...

Unser Haus liegt etwa fünfzehnhundert Meter entfernt von der Kirche. Ein hübscher schmaler Pfad schlängelt sich zwischen Hecken dahin. Hier muß es im Frühling eine Menge Blumen geben, wilde, blühende Kirschbäume, dann die Weißdornsträucher, die so betäubend duften. Besonders den Weißdorn habe ich gern, sein Duft erinnert mich immer an meine Kinderzeit. Und sonst ist an dieser Gegend nichts Besonderes. Sie sieht wie alle anderen Gegenden aus. Ein breites Tal, das in einer Hügelkette endet. Im Talbecken fließt ein Fluß, die sanften Hügel haben Waldbestände, alles ist heute so von feinen goldenen Nebelschleiern verhüllt, daß man die Landschaft mehr errät als entdeckt.

Ist es nicht seltsam, daß ich meiner bretonischen Heimat so lange die Treue halte? Sie liegt mir im Blut. Keine scheint mir so schön, keine Landschaft regt meine Seele so an. Auch inmitten der reichen, saftstrotzenden normannischen Gegend habe ich Heimweh nach dem kargen Heideland und nach dem herrlichen dramatischen Meer, an dem ich geboren bin. Und diese Erinnerung senkt plötzlich eine Wolke von Melancholie auf die Heiterkeit dieses Morgens.

Unterwegs treffe ich Frauen und immer wieder Frauen. Ein Gebetbuch unterm Arm, streben sie wie ich zur Messe: Köchinnen, Kammerzofen und Stallmägde. Und diese, breit und grobknochig, trotten heran wie eine Herde. Mein Gott, wie sind sie herausgeputzt an diesem Tag! In den bunten Sonntagskleidern sehen sie aus wie farbige, verschnürte Pakete! Auf zehn Schritt Entfernung riechen sie nach Land und Stall, man weiß sofort, daß sie niemals in Paris gedient haben. Mich mustern sie teils argwöhnisch neugierig, teils mit gutmütigem Interesse, aber mit sichtlich neidischem Blick schätzen sie meinen Hut und mein enganliegendes Kleid ab, mein kleines, milchfarbenes Jäckchen und den in einem grünen Seidenfutteral steckenden Schirm. Meine damenhafte Toilette bringt sie ein wenig aus der Fassung, vor allem aber der kokette Schwung, mit dem ich meine Kleidung trage. Mund und Augen weit aufgerissen, stoßen sie sich gegenseitig mit den Ellbogen und machen sich stumm, aber zugleich vielsagend auf meinen Chic und meine Eleganz aufmerksam, Ich aber schreite beschwingt weiter, schürze mit lockerer Hand das Kleid, daß sie die Unterröcke rascheln hören, und enteile stolz auf meinen spitzen Schühchen. Es macht Spaß, so bewundert zu werden.

Als ich an ihnen vorbeikomme, höre ich sie flüstern:

»Das ist die Neue von Prieuré!« Und eine kurze, dicke, großgesichtige, asthmatische Frau, die ihren Bauch nur mit ziemlichen Schwierigkeiten und mit gespreizten Beinen durch die Gegend trägt, sonst würde sie wahrscheinlich aus dem Gleichgewicht kommen, tritt mit einem schiefen Lächeln auf ihren alten, von Flechten schuppigen Lippen auf mich zu und fragte mich prompt:

»Also, Sie sind die neue Kammerzofe von Prieuré«? … Sie heißen Célestine? ... Sie sind vor vier Tagen aus Paris gekommen?«

Sie weiß also schon alles. Sie ist auf dem laufenden, besser als ich. Am meisten aber amüsiert mich der wehende Musketierhut dieses wogenden Fleischpaketes, denn diese wandelnde Fettwurst trägt tatsächlich einen schwarzen Filzhut, dessen Federn sich leise im Morgenwind aufplustern.

Sie redet weiter:

»Ich heiße Rose – Mamsell Rose ... Ich bin die Wirtschafterin von Monsieur Mauger – gleich nebenan bei Ihnen ... Er ist pensionierter Hauptmann. Haben Sie ihn vielleicht schon gesehen?«

»Nein, Mademoiselle.«

»Oh, Sie könnten ihn ganz leicht über die Hecke, die die beiden Grundstücke trennt, sehen. Er ist immer im Garten beschäftigt. Er ist noch ein sehr stattlicher Mann, wissen Sie!«

Wir gehen etwas langsamer, denn Mamsell Rose ist am Ersticken. Sie hat keine Luft, sie röchelt wie ein zu Tode gehetztes Tier. Bei jedem Atemzug schwillt ihre Brust an und sackt wieder zusammen und schwillt wieder an. Dazwischen keucht sie:

»Ich habe wieder einen Anfall ... Entsetzlich, was man heutzutage auszustehen hat – einfach unglaublich!«

Und dann, abwechselnd zwischen Keuchen und Schlucken, fordert sie mich auf:

»Sie müssen mich besuchen, Kleine. Wenn Sie etwas brauchen, einen guten Rat zum Beispiel oder irgend etwas – genieren Sie sich nicht. Ich habe was übrig für die jungen Leute. Wir schlürfen miteinander ein Gläschen und schwatzen ein bißchen ... Viele von den jungen Fräuleins kommen zu mir.«

Sie bleibt einen Augenblick stehen und ringt nach Luft. Dann fährt sie mit halber Stimme in einem betont vertraulichen Ton fort:

»Passen Sie auf, Mademoiselle Célestine, ich mache Ihnen einen Vorschlag: Sie sollten Ihre Post an uns adressieren lassen! Das ist ungefährlicher, verstehen Sie? Ich gebe Ihnen da wirklich einen guten Rat. Madame Lanlaire liest nämlich alle Briefe, ohne Ausnahme. Dabei ist sie deshalb schon fast vom Friedensrichter verurteilt worden. Also, ich wiederhole Ihnen, nehmen Sie sich in acht, genieren Sie sich nicht.«

Ich bedanke mich für diesen Rat, und wir setzen unseren Weg fort. Ihr unförmiger Leib schlingert und stampft wie ein Schiff bei bewegter See, aber sie scheint jetzt etwas ausreichender Luft zu bekommen. Und das alte Klatschmaul hat eine Menge Neuigkeiten auf Lager:

»Hier werden Sie alles mögliche anders vorfinden, als Sie gewohnt sind. In Prieuré hält sich keine Kammerzofe lange. Entweder Madame Lanlaire befördert sie an die Luft, oder Monsieur macht ihr ein Kind. Ein schrecklicher Kerl, dieser Monsieur Lanlaire. Hübsche oder Häßliche, Junge oder Alte, alle kommen sie dran, und allen macht er ein Kind! Ja, ja, dieses Haus kennt man, und alle Leute werden Ihnen bestätigen, was ich Ihnen da erzähle. Schlechtes Essen, keine Freiheit, massenhaft Arbeit – und immer Krach und Zank, Vorwürfe und Geschrei. Die reinste Hölle! Man braucht Sie bloß anzusehen, Kleine, adrett und manierlich wie Sie sind, und man kann sich ausrechnen, wie lange Sie es bei diesen Ausbeutern aushalten werden.«

Und jetzt bekam ich alles vorgesetzt, was mir schon gestern von der Krämerin geboten wurde, nur noch mit peinlicheren Details. Dieser Fettbauch ist so darauf erpicht, Leute auszurichten, daß sie ihr eigenes Leiden dabei vergißt, die Böswilligkeit ist stärker als das Asthma. Mademoiselle Rose fährt fort, die Lanlaires in den Dreck zu ziehen, und unterbricht dieses Thema höchstens, um andere böse Legenden aus der Gegend einzuflechten. Obwohl ich schon genügend Klatschereien kenne, sind Roses Details so niederschmetternd, daß ich schließlich wieder ganz melancholisch bin. Vielleicht sollte ich wirklich gleich abreisen? Warum einen Versuch machen, wenn es ohnedies für mich hier nicht die geringste Chance gibt?

Andere Frauen schließen sich uns aus Neugierde an und bekräftigen jede von Roses Enthüllungen mit nachdrücklichem: »Sie hat recht, so ist es!«, und Rose, deren Luftmangel merkwürdig nachläßt, fährt in ihrem Geplapper fort:

»Im Gegensatz zu den Lanlaires ist mein Monsieur Mauger ein seelensguter Mensch. Und alleinstehend, kein Kind, ohne Familie. Natürlich heißt es, ich sei seine Geliebte. Na ja. Freilich lastet der ganze Haushalt auf mir. So ein pensionierter Hauptmann hat doch keine Ahnung vom Haushalt. Aber er freut sich, wenn seine Wäsche saubergehalten wird, seine Eigenheiten respektiert werden, und wenn man ihm hie und da einen Leckerbissen serviert. Er läßt sich eben gerne von mir pflegen und verwöhnen. Wäre ich als Vertrauensperson nicht an seiner Seite, man würde ihn schön ausbeuten. Schmarotzer gibt es in dieser Umgebung haufenweise!«

Wie sie mir diese kleinen, abgerissenen Phrasen vorsetzt, wie sie sie betont, und wie sie dabei vielsagend mit den Augen klimpert, das verrät mir aufs genaueste, was es mit ihrer Stellung im Hause des Hauptmanns Mauger auf sich hat.

»Habe ich nicht recht? Ein alleinstehender Mann, noch in bester Verfassung – und übrigens gibt es im Haus Arbeit genug. Wir werden demnächst einen kleinen Jungen engagieren, der uns dabei ein bißchen unter die Arme greift.«

Ja, diese Rose hat Glück. Auch ich habe oft davon geträumt, bei einem Alten zu dienen. Das kann selbstverständlich ekelhaft sein, aber man lebt doch wenigstens ruhiger, und man hat bessere Aussichten für die Zukunft. Anspruchsvoll scheint dieser Hauptmann ja nicht zu sein, für einen Mann, der noch gut erhalten ist, das müßte ein lustiger Anblick sein, diese beiden unter der Daunendecke!

Wir bummeln durch den Ort. Hübsch ist er nicht, keine Ähnlichkeit mit dem Boulevard Malesherbes. Schmutzige Ecken, krumme Gäßchen, Plätze mit windschiefen Häusern, die sich kaum noch aufrecht halten. Schwarze Häuser aus altem wurmstichigem Holz, hohe Giebel mit vorspringenden Stockwerken, die sich im altertümlichen Baustil übereinanderschichten. Auch die Menschen, denen wir begegnen, sind häßlich, sehr häßlich sogar, weit und breit kein einziger hübscher Kerl zu sehen. Hauptindustrie dieser Gegend: Tuchschuhe. Die meisten Schuhmacher sind Heimarbeiter, die für die Fabriken arbeiten, aber sie sind mit ihrem Wochenpensum noch nicht fertig, weil ich hinter den trüben Fensterscheiben ihre bleichen, vergrämten Gesichter sehe, ihre gekrümmten Rücken und ihre schwarzen Hände, die Stifte einklopfen.

Der Anblick erhöht die düstere Atmosphäre des Ortes. Man kommt sich wie auf einem Gang durch ein Gefängnis vor.

Ah, hier steht ja auch die Krämerin auf ihrer Türschwelle und lächelt uns einen Gruß zu.

»Sie besuchen die Achtuhrmesse? Ich war schon um sieben Uhr in der Kirche. Wollen Sie nicht ein bißchen zu mir hereinkommen? Sie haben noch Zeit.«

Rose lehnt mit einem Kopfschütteln ab. Sie warnt mich vor der Krämerin, sie sei eine böse Person, die von jedem nur Schlechtes zu berichten wisse, eine wahre Landplage. Dann beginnt sie wieder, ihren Herrn und die Vorzüge ihrer Stellung zu loben. Ich frage sie:

»Hat denn Ihr Hauptmann wirklich keinen Anhang?«

»Keinen Anhang, meinen Sie? Na, Kindchen, da sind Sie aber falsch im Bilde! Es gab massenhaft Cousinen und Cousins, eine Horde von Faulenzern, Strolchen und Blutsaugern! Von diesem Ungeziefer habe ich das Haus ausgeräuchert – die hätten ihn ja geschröpft bis zum letzten Sou, sage ich Ihnen. Jetzt ist er natürlich froh, daß er das Gesindel los ist, der arme Mann!«

Sie nickt vielsagend.

Aha, jetzt war es soweit, gleich würde sie Farbe bekennen. Scheinheilig und mit kaum verhohlener Ironie, die sie aber nicht mitbekommt, frage ich sie:

»Ohne Zweifel wird er Sie, Mademoiselle Rose, in seinem Testament bedenken?«

Zurückhaltend antwortet sie:

»Das wird Monsieur wohl halten, wie es ihm behagt. Ich beeinflusse ihn nicht. Schließlich ist er noch immer Herr seiner Entschlüsse. Ich frage nichts, ich verlange nichts von ihm, mir braucht er nicht einmal Gehalt zu zahlen, ich bin aus purer Anhänglichkeit bei ihm. Aber er ist ein Mann, der das Leben kennt. Er weiß genau, daß er von einer Person, die ihn uneigennützig pflegt, verwöhnt und geliebt wird. Er ist nicht so dumm, wie gewisse Leute behaupten, Madame Lanlaire an der Spitze. Was die alles über ihn kolportiert! Über uns! Im Gegenteil, Mademoiselle Célestine, der Herr Hauptmann ist ein schlauer Herr. Und er weiß genau, was er will!«

Und nach dieser Verteidigungsrede betreten wir die Kirche.

Die dicke Rose weicht nicht mehr von meiner Seite. Sie nötigt mich, in einem Stuhl neben ihr Platz zu nehmen, und dann geht es ans Gebetemurmeln, Niederknien, Wiederaufstehen und das Kreuzschlagen. Ach, diese Kirche! Mit ihren ungefügen Balken, die das altersschwache Gewölbe stützen, hat sie eher Ähnlichkeit mit einer Scheune als mit einem Gotteshaus, und wenn man die Gemeinde betrachtet, die sich hustend und spuckend in den Bänken rekelt und mit den Stühlen lärmend auf dem Steinboden scharrt, glaubt man, man befinde sich auf einem Dorfrummelplatz. Rundherum nur einfältige, ausdruckslose Gesichter, verzerrte Münder, armselige Kreaturen, die zur Messe gekommen sind, um vom Herrgott gegen irgend jemanden Böses zu erbitten. Hier ist es unmöglich, sich in Andacht zu versenken. Und eine große Kälte senkt sich auf mich herab. Vielleicht liegt es daran, daß es in dieser Scheune keine Orgel gibt. Eine Orgel hätte selbst diesen stimmungslosen Raum verzaubert, und es mag sonderbar klingen, aber ohne Orgelmusik bin ich nicht imstande zu beten. Sowie ich aber das Brausen einer Orgel höre, weitet sich mir die Brust und zart zieht sich ein seltsames Gefühl bis zum Magen. Schließlich werde ich davon so berauscht wie von der Liebe. Wenn immer Orgelklang um mich wäre, würde ich niemals sündigen. Aber hier gibt es auf der Empore statt einer Orgel nur ein altes verstimmtes Klavier, das von einer kurzsichtigen Dame mit Brille auf der Nase und einem löchrigen Schal um die mageren Schultern mühsam bearbeitet wird. Die Predigt des Priesters wird vom Gehuste und Gespucke der Gläubigen übertönt, auch den respondierenden Gesang der kleinen Sakristane hört man nicht. Das schrecklichste aber ist die Luft hier! Eine widerliche Mischung aus Stall, Erde und Düngerdüften mit einer Beigabe von Geruch nassen Leders und billigsten Weihrauchs. Wahrhaftig, die Provinzler sind völlig unkultivierte Leute.

Die Messe zieht sich in die Länge, und ich langweile mich furchtbar. Ich bin von einem Publikum umgeben, das, ordinär und häßlich, nicht imstande ist, mich gebührend einzuschätzen. Keine Spur von Schönheit, nicht ein bißchen Glanz, nicht ein einziges hübsches Kleidchen, an dem meine Gedanken ausruhen und meine Augen sich ein wenig erfreuen könnten. Nie in meinem Leben habe ich so deutlich erkannt, daß ich für die Eleganz und den Chic geboren bin. Mein ganzes Wesen sträubt sich gegen eine derartige Umgebung. Wie anders erhebt mich der Besuch einer Messe in Paris. Um mich von dem traurigen Schauspiel des Publikums abzulenken, beschäftige ich mich jetzt mit dem Priester, der die Messe zelebriert. Danke schön! Auch dieser große junge Kerl mit seinem derben roten Gesicht, dem ungepflegten Haar verdient meine Aufmerksamkeit nicht. Mit seinem Raubtiergebiß, den feuchten Lippen und den stechenden kleinen Augen ist er der Prototyp eines obszönen Kerls. Der futtert bei Tisch wie ein Drescher. Und im Beichtstuhl? Da wird er mit Schweinereien kommen und einen bei den Unterröcken packen.

Rose ist meine Aufmerksamkeit, die ich ihm widmete, nicht entgangen. Sie drückt sich an mich und flüstert ganz leise:

»Das ist der neue Kaplan. Den kann ich Ihnen nur empfehlen. Ich versichere Ihnen, keiner versteht es so, der Frau die Beichte abzunehmen. Der Herr Pfarrer ist bestimmt ein heiliger Mann – aber ich finde, er ist zu streng … Hingegen der neue Kaplan ...«

Sie schnalzt mit der Zunge und versenkt sich wieder in ihr Gebet, den Kopf tief auf den Betschemel gedrückt. Na schön, mir gefällt er nicht, der neue Herr Kaplan. Er kommt mir unappetitlich und brutal vor und hat viel eher Ähnlichkeit mit einem Fuhrknecht als einem Geistlichen. Ich brauche Zartheit, Poesie, etwas Jenseitiges ... Weiße Hände. Ich habe Männer gern, die elegant und sanft sind wie Monsieur Jean.

Nach der Messe schleppt mich Rose zu einer Händlerin, und mit einigen rätselhaften Worten deutet sie an, daß man sich mit dieser Frau gutstellen müsse, und daß sich sämtliche Dienstmädchen weit und breit um ihre Gunst bemühen.

Und wieder ist es eine kleine Kugel. Anscheinend bin ich hier ins Lager der dicken Weiber geraten. Ihr Gesicht ist mit Sommersprossen übersät, das schüttere sandfarbene Haar deckt kaum die Kopfhaut und ist am Hinterkopf mit einem komischen Knoten zusammengedreht. Der formlose Busen in seiner braunen Bluse schwappt hinter dem Stoff bei jeder Bewegung wie die Flüssigkeit in einer Flasche, die rotgeränderten Augen glotzen krötenartig, der unschöne Mund verzieht sich beim Lächeln zu einem unangenehmen Grinsen.

Rose stellt mich vor:

»Madame Gouin, hier bringe ich Ihnen die neue Kammerzofe von Prieuré.«

Die Händlerin – sie ist Gewürzkrämerin mustert mich aufmerksam, und dann, nachdem ihr Blick meine Figur abgeschätzt und merkwürdigerweise auch meinen Bauch betrachtet hat, sagt sie mit einer farblosen Stimme:

»Ich heiße Sie willkommen, Mademoiselle. Mademoiselle ist ein hübsches Mädchen. Mademoiselle ist Pariserin, nicht wahr?«

»Stimmt, Madame Gouin, ich komme aus Paris.«

»Das sieht man – auf den ersten Blick ... Da braucht man nicht zweimal hinzuschauen. Ich speziell habe eine Schwäche für Pariserinnen. Oh, die verstehen zu leben. Auch ich habe einmal in Paris gedient, als ich jung war. bei einer Hebamme in der Rue Guénégaud, Madame Tripier. Kennen Sie sie vielleicht?«

»Nein ...«

»Macht nichts! Herrgott, ist das lange her. Aber kommen Sie doch zu mir herein, Mademoiselle Célestine!«

Sie läßt uns unter großen Zeremonien in die Hinterstube eintreten, wo sich bereits vier Dienstmädchen an einem runden Tisch befinden.

»Ich prophezeie Ihnen. Sie werden hier allerhand Wunder erleben«, sagt die Gewürzhändlerin seufzend und bietet mir einen Stuhl an. »Ich sage Ihnen das nicht, weil man im Schloß nichts mehr bei mir bestellt. Nein, nein, ich darf wohl sagen, es ist ein teuflisches Haus – teuflisch; nicht wahr? Was sagen Sie dazu, meine Damen?«

»Stimmt! Stimmt!« bestätigen die vier angesprochenen Dienstmädchen einstimmig und mit denselben Grimassen wie die Händlerin.

Madame Gouin fährt fort:

»Danke! Ich für meinen Teil lege gar keinen Wert auf eine Kundschaft, die immer wieder feilscht und zetert und wie ein Iltis nach einem schnappt, weil man sie angeblich betrügt und bestiehlt. Die können von mir aus kaufen, wo sie wollen.«

Und der Dienstmädchenchor sekundiert:

»Kaufen wo sie wollen!«

Und zu Rose gewendet, fügt Madame Gouin mit fester Stimme hinzu:

»Solcher Kundschaft läuft man doch nicht nach, Mamsell Rose? Wie? Gott sei Dank bin ich auf solche Käufer nicht angewiesen.«

Rose begnügt sich mit einem Achselzucken, aber mit dieser Geste drückt sie aus, was sich an Ärger, Wut und Galle in ihr angehäuft hat. Das verstärkte Gewoge der Federn auf ihrem Musketierhut bezeugt die Heftigkeit ihrer Empfindungen.

Und dann, nach einer Pause, sagt sie:

»Reden wir nicht mehr von diesen Leuten ... Sooft ich ihren komischen Namen in den Mund nehme, bekomme ich schon Bauchschmerzen.«

Prompt reagiert darauf eine kleine dürre Schwarze mit einem Rattenschnäuzchen und pickelübersäter Stirn unter allgemeinem Gelächter:

»Das will ich meinen! Die können uns kreuzweise …«

Nun geht ein widerliches Leuteausrichten los. Eine Flut unflätiger Geschichten strömt aus diesen jämmerlichen Mündern wie aus einer Abflußrinne – ohne Unterlaß. Ich fühle mich in diesem düsteren Raum, dessen diffuses Licht alle Gesichter verzerrt, entsetzlich unbehaglich. Das einzige Fenster geht auf einen feuchten, dreckigen Hof. Ein enger Schacht aus schimmeligen Mauern. Ein Geruch von Salzlake, faulendem Gemüse und sauren Heringen fließt zu uns herein und hängt sich an unsere Kleider. Unerträglich. Und alle diese traurigen Kreaturen, die eigens für diese Szene entstanden scheinen, hocken wie schmutzige Wäschepakete auf ihren Sitzen und stürzen sich gierig darauf, in Skandalen, Gemeinheiten und Verbrechen zu wühlen. Feig geworden in solcher Umgebung, bin ich nahe daran, mit ihnen zu grinsen, in ihre Gehässigkeit einzustimmen, aber ein abgrundtiefer Ekel dreht mir den Magen um, steigt mir bis zur Kehle, füllt unaufhaltsam meinen Mund und preßt mir die Schläfen. Ich wollte, ich könnte gehen, heimlich davonschleichen, bleibe aber wie gebannt sitzen, stumpfsinnig und gefühllos, wie an meinen Stuhl geschmiedet. Wie eine Marionette vollführe ich dieselben Gesten wie sie, stumpfsinnig erliege ich dem Schwall ihrer gehässigen Stimmen und werde den Eindruck nicht los, als hörte ich Abwaschwasser gurgelnd und glucksend in die Bleirohre eines Ausgusses rinnen.

Auch ich bin dafür, daß man sich gegen seine Herrschaft auflehnen soll, und ich bin, meiner Treu, nicht die letzte, die mittut, wenn es darauf ankommt. Aber was man hier zu hören bekommt, übersteigt alles bisher Erlebte. Diese Megären widern mich an. Ich verabscheue sie. Ich sage mir innerlich, daß ich nicht das geringste mit ihnen gemein habe. Meine Erziehung, die Berührung mit der eleganten Welt, die Atmosphäre von Schönheit und Chic und nicht zuletzt die Lektüre der Romane von Paul Bourget bewahrten mich vor dem Ärgsten, vor dem Abstieg in die Gosse. Ach, wohin sind sie verschwunden, die lustigen, ausgelassenen Streiche unserer Pariser Gesindestuben ... Oh, sie sind dahin ...

Entschieden erntet Rose den größten Erfolg mit ihrem Klatsch. Ihre Augen glitzern, und ihre Lippen werden vor Genugtuung feucht:

»Was ihr uns da auftischt, das ist noch gar nichts gegen die Notarsgattin Madame Rodeau. Bei der geht's einfach toll zu.«

»Das habe ich mir schon lange gedacht«, wirft eine ein.

»Sie hält's mit den Pfaffen ... Ich war ja immer überzeugt, daß sie eine alte Vettel ist«, sagt eine andere.

Aller Augen funkeln, sämtliche Hälse recken sich Rose entgegen, die ihre Erzählung beginnt:

»Vorgestern zum Beispiel hieß es, Monsieur Rodeau sei verreist und bliebe den ganzen Tag über irgendwo auf dem Lande.«

Und mit einer Wendung zu mir, wohl um mich nicht im unklaren zu lassen, fügt sie hinzu:

»Dieser Monsieur Rodeau ist ein anrüchiger Mensch. Keinesfalls ein guter, katholischer Notar. In seiner Praxis sind schon eine Menge schiefe Dinge passiert. Deshalb habe ich auch Herrn Hauptmann bewogen, seine dort hinterlegten Gelder zurückzuziehen. Verstanden? Aber im Augenblick handelt es sich ja nicht um Monsieur Rodeau.«

Nach dieser Zwischenbemerkung wendet sie sich wieder mehr an ihre Zuhörerschaft:

»Also, Monsieur Rodeau war wieder einmal abwesend. Warum treibt sich der eigentlich immer im Lande herum? Das hat man bisher auch noch nie herausgekriegt. Na schön, er war also auf dem Lande, und Madame hatte nichts Eiligeres zu tun, als den kleinen Justin, den jungen Schreiber, kommen zu lassen, unter dem Vorwand, er solle ihr Schlafzimmer auskehren. Auskehren nennt man das jetzt! Daß ich nicht lache! Sie war so gut wie nackt und hatte so gierige Augen wie eine jagende Hündin. Sie macht ihm Avancen, er solle näher kommen, er umarmt sie, und sie liebkost ihn und gibt vor – haha! – ihm die Flöhe zu suchen, und dabei zieht sie ihm Stück für Stück aus. Und was, glaubt ihr, tut sie dann? Sie wirft sich plötzlich auf ihn und verführt ihn mit Gewalt ... Ja, meine Kinder, mit Gewalt! Und wenn ihr wüßtet, wie sie ihn überwältigt hat!«

»Wie hat sie ihn denn genommen?« fragt die kleine Schwarze mit spitzem, vor Aufregung zitterndem Schnäuzchen.

Alle sind gespannt vor Erwartung. Aber Rose wird plötzlich steif und ablehnend, sie erklärt wichtig:

»Das ist nichts für unschuldige Mädchen.«

Die Reaktion der »Unschuldigen« ist ein enttäuschtes Stöhnen. Rose, zwischen Empörung und Begeisterung schwankend, so ergriffen ist sie von ihrer eigenen Erzählung, fährt schließlich mitleidig fort:

»Ein Kind von fünfzehn Jahren! Kann so etwas möglich sein! Und hübsch – hübsch wie ein Amor – und unschuldig, der arme kleine Märtyrer! Nicht einmal vor Kindern haltzumachen – da muß einem das Laster doch schon im Blute liegen! Als der Junge nach Hause kam, soll er geweint und gezittert haben, der arme kleine Cherubin ... Es war zum Herzzerbrechen ... Was sagt ihr dazu?«

Eine Explosion der Entrüstung bricht aus, eine Schimpfwortkanonade.

Rose wartet ab, bis die Ruhe wiederhergestellt ist. Dann fährt sie fort:

»Die Mutter kam zu mir und hat mir die Geschichte erzählt. Und ich, verständlicherweise, habe ihr geraten, den Notar und seine Frau zu verklagen.«

»Klar! Das ist ja wohl das Geringste!«

»Natürlich, aber Justine zögert. Sie hat diese und jene Bedenken, und schließlich will sie überhaupt nicht mehr. Ich glaube, der Herr Pfarrer, der wöchentlich einmal bei den Rodeaus speist, hat sich eingeschaltet. Und deshalb traut sie sich nicht mehr ... Wenn mir das passiert wäre – da hätten sie Geld spucken müssen – mindestens einige tausend Franc. Mich hätte kein Pfarrer davon abgehalten! Mindestens zehntausend Franc. Natürlich bin ich religiös, aber zehntausend Franc wären das mindeste!«

»Und ob!«

»Eine solche Gelegenheit nicht beim Schopf zu packen, wie? Das wäre doch gelacht!«

Und der Musketierhut schwankt wie ein Zelt im Unwetter.

Die Gewürzkrämerin schweigt aus Verlegenheit. Vermutlich gehört der Herr Notar und seine Frau zu ihrer Kundschaft. Gewandt unterbricht sie das Gekeife von Rose:

»Ich hoffe, Mademoiselle Célestine akzeptiert mit den Damen ein Gläschen Likör? ... Und Sie, Mamsell Rose?«

Diese Einladung beschwichtigt die empörten Gemüter. Während Madame Gouin eine Flasche Wacholder aus dem Wandschrank nimmt, leuchten alle Augen auf, und kleine Zungen befeuchten genießerisch die Lippen.

Im Fortgehen sagt Madame Gouin zu mir:

»Stoßen Sie sich nicht daran, daß Ihre Herrschaft nicht bei mir kauft, kommen Sie mich ruhig besuchen.«

Ich mache mich mit Rose auf den Heimweg, aber sie hört noch immer nicht damit auf, mir sämtliche Skandale der Gegend vorzusetzen. Ich war der Meinung, daß ihr Vorrat an Niederträchtigkeit sich endlich erschöpft habe. Durchaus nicht. Ich habe den Eindruck, wenn ihr nichts mehr einfällt, dann erfindet sie selbst Geschichten, und ihre Phantasie schlägt dabei Purzelbäume. Einfach jeder muß daran glauben. Es ist wirklich unglaublich, wie viele Leute man in einigen Minuten in den Dreck ziehen kann. Anscheinend ist das Sitte in der Provinz, es gehört einfach dazu. Sie begleitet mich bis zum Gittertor von Prieuré. Aber immer kann sie sich noch nicht entschließen, mich zu verlassen ... Sie redet und redet und versucht mich irgendwie einzuwickeln, mich mit der Versicherung ihrer Freundschaft zu betäuben. Mir brummt schon der Kopf von allem Gehörten, und der Anblick von Prieuré gibt mir den letzten Stoß. Ach, diese trostlosen Rasenflächen ohne Blumen, dieses Haus, das eher an eine Kaserne oder an ein Gefängnis erinnert, und überall hinter den Fenstern Blicke, die lauern!

Es ist jetzt wärmer geworden, die Sonne zieht über einen reinen Himmel, der Nebel ist verschwunden, und die Landschaft in der Ferne wird sichtbarer. Auf den Hügelwellen am Rande der Ebene liegen kleine Dörfer mit roten, vom Sonnenschein vergoldeten Dächern. An einigen Flußkrümmungen glitzert die Strömung hin und wieder silbern auf. Und einige duftige Wolken schmücken auf reizende Weise den Himmel. Aber ich empfinde bei diesem Anblick nicht die kleinste Freude. Ich habe nur den einzigen Wunsch, dieser Sonne, dieser Ebene, diesem Haus und vor allem diesem fetten Weib zu entfliehen, das mich mit seiner bösen, gehässigen Stimme quält und verrückt macht.

Endlich entschließt sich die Klatschbase, mich freizugeben. Sie packt meine Hand fest zwischen ihre groben, in Zwirnhandschuhen steckenden Finger und sagt:

»Und nun, mein Kind, vergessen Sie ja nicht, daß Madame Gouin eine liebenswürdige Frau und äußerst gewandt ist ... Sie sollten sie öfters aufsuchen ...« Noch immer kann sie sich nicht von mir trennen, ihre Augen haften mit einem unangenehm hartnäckigen Blick an mir. Sie wiederholt:

»Sehr gewandt sogar. Sie hat schon vielen jungen Mädchen geholfen! Sobald Sie etwas bemerken, suchen Sie sie auf ... Was man nicht weiß, macht nicht heiß, verstehen Sie?«

Noch immer haftet ihr Blick konstant auf mir, noch immer findet sie kein Ende:

»Ich wiederhole, sehr gewandt, geschickt und verschwiegen. Sie ist die Vorsehung in unserer Provinz ... Also, meine Kleine, vergessen Sie nicht, sie von Zeit zu Zeit aufzusuchen, sooft Sie können, besuchen Sie Madame Gouin ... Sie werden es nicht bereuen ... Auf bald! ... Auf bald ...«

Endlich ist sie fort. Wogend und rollend bewegt sie sich entlang der Mauer, dann vorbei an den Hecken, plötzlich verschwindet sie hinter einer Wegbiegung.

Ich komme an Joseph vorbei, dem Kutscher und Gärtner. Er ist beim Einebnen der Allee. Vielleicht spricht er mich an? Aber er sagt keinen Ton und sieht mir nur mit schiefem Blick ins Gesicht. Einen merkwürdigen Ausdruck hat dieser Mensch, er könnte einem beinahe Angst machen.

»Ein schöner Morgen heute, Monsieur Joseph!«

Er murmelt etwas zwischen den Zähnen, zweifellos ist er ungehalten, daß ich über die Wege marschiere, die er gerade glattharkt. Ist das ein komischer Kerl, und so manierlos. Und warum spricht er eigentlich nie mit mir?

Im Haus empfängt mich meine Gnädige sehr ungnädig. Sofort schnauzt sie mich an:

»Das nächstemal bleiben Sie gefälligst nicht so lange aus.«

Ich möchte am liebsten etwas Ungezogenes zurückschnauzen, denn ich bin müde und ziemlich durchgedreht – glücklicherweise halte ich mich zurück und begnüge mich damit, ein bißchen zu maulen.

»Sagten Sie vielleicht etwas?« fragt sie scharf.

»Ich sagte nichts.«

»Zu Ihrem Glück! Übrigens möchte ich Sie nicht ein zweites Mal in der Gesellschaft der Haushälterin von Monsieur Mauger sehen.«

In mir kocht es.

Ich möchte ihr die Zunge herausstrecken und ihr ins Gesicht schreien:

»Halt's Maul! Ich werde reden, mit wem es mir paßt, und besuchen, wen ich will. Du wirst mir nichts vorschreiben, du Kamel!«

Mir genügt, daß ich wieder ihre greinende Stimme höre, ihren bösen Blick auf mir ruhen sehe und ihre herrischen Befehle hinnehmen muß. Sofort ist der häßliche Eindruck von der Messe, vom Geschwätz der Gewürzkrämerin und von Roses Vertraulichkeiten verwischt. Rose und die Gewürzkrämerin haben recht, die Krämerin, bei der ich neulich war, hat ebenso recht. Alle haben sie recht. Darum nehme ich mir vor, Rose so oft wie möglich zu besuchen und sogar häufig zu der Kräutermixerin zu gehen und aus der anrüchigen Krämerin meine beste Freundin zu machen. Und das alles nur darum, weil Madame versucht, es mir zu verbieten. Innerlich wiederhole ich mit wilder Energie:

»Kamel! Kamel! ... Blödes Kamel!«

Aber wie hätte es mich erst erleichtert, wenn ich den Mut aufgebracht hätte, ihr alle diese Beschimpfungen ins Gesicht zu schreien.

Nach dem Mittagessen sind Monsieur und Madame ausgefahren. Das Ankleidezimmer, das Schlafzimmer und das Arbeitszimmer von Monsieur, sämtliche Schränke und Schubladen wurden sorgsam verschlossen. So habe ich es erwartet. Prost, Mahlzeit! Keine Gelegenheit, ein paar Briefe zu lesen oder eine Kleinigkeit beiseite zu schaffen ... Also blieb ich in meiner Stube und schrieb an meine Mutter und an Monsieur Jean. Dann las ich in dem hübschen Buch En famille. Wie charmant ist es geschrieben! Gewisse pikante, sogar obszöne Geschichtchen höre ich gern, aber ich will sie nicht lesen. Ich liebe nämlich nur gemütvolle Romane, die mir Tränen entlocken ...

Zum Abendessen servierte ich Pot-au-feu. Zwischen Monsieur und Madame hatte es anscheinend etwas gegeben, es herrschte eisiges Schweigen. Monsieur vertiefte sich mit überraschender Beharrlichkeit in die Lektüre des Petit Journal. Raschelnd wendete er die Seiten um und rollte dabei seine komisch sanften Augen. Selbst wenn Monsieur zornig wird, bleiben seine Augen sanft und schüchtern. Aber plötzlich, vermutlich um doch noch eine Konversation in Gang zu bringen, schrie er, die Nase allerdings noch immer in der Zeitung:

»Da haben wir's! Abermals eine verstümmelte Frauenleiche …«

Madame reagierte darauf nicht. Steif und aufrecht lehnte sie in ihrem schwarzen Seidenkleid in ihrem Stuhl, die Stirne gefurcht, dazu ein harter, unversöhnlicher Blick. Sie schien über etwas nachzudenken. Worüber?

Vielleicht betrifft es mich und Monsieur, daß sie so bockt …


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