Malwida von Meysenbug
Memoiren einer Idealistin – Erster Band
Malwida von Meysenbug

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Zweites Kapitel

Öffentliche und persönliche Beziehungen

Der Tod des alten Herrn wurde nicht nur in meiner Familie die Ursache großer Veränderungen, sondern er bezeichnete, sozusagen, das Ende einer ganzen Epoche in der Geschichte meines kleinen Vaterlandes. Das regierende Haus, dem er angehört hatte, war sehr alt und zählte unter seinen Ahnen Mitglieder, die sich durch Tapferkeit und Charaktergröße ausgezeichnet hatten. Aber die letzten Generationen waren herabgekommen. Sie hatten ihr Privatvermögen auf schamlose Weise vermehrt, indem sie ihre Untertanen an fremde Mächte verkauften, um sie in fernen Kriegen zu verwenden. Maitressen regierten seit lange das Land. Die letzte Regierung war sonderbaren Wechselfällen unterworfen gewesen. Der Charakter des alten Fürsten hatte bei allen Fehlern eine gewisse Würde gehabt; bei der Annäherung des allgewaltigen Eroberers unseres Jahrhunderts verließ er freiwillig sein Fürstentum, da er wohl wußte, daß er nicht Macht hatte, es zu verteidigen, und seinen Untertanen unnütz vergossenes Blut ersparen wollte. Er zog die Verbannung der schmachvollen Unterwerfung anderer deutscher Fürsten vor. Die Hauptstadt seines kleinen Reichs wurde die eines großen Königreichs, das der Eroberer Jérôme, dem jüngsten seiner Brüder, schenkte. Die Eleganz, die Frivolität und die Leichtgläubigkeit der französischen Sitten ließen sich in den verlassenen Wohnungen der Zopfmenschen nieder. Der junge König schuf ein kleines Paris auf deutscher Erde.

Mein Vater, der seine Familie nicht in die Verbannung führen konnte, blieb und trat in den Dienst des neuen Staats. Meine Mutter war ganz jung und sehr schön; so war es nur natürlich, daß beide an dem lebhaften, fröhlichen Leben des jungen Hofes teilnahmen. Wie oft quälte ich meine Mutter, damit sie mir immer und immer wieder die Geschichte jener Tage, die lange vor meiner Geburt ihr Ende erreichten, erzähle! Wie begierig lauschte ich den Beschreibungen der glänzenden Feste und der schönen, reizenden Frauen, die mit ihren Familien aus Frankreich gekommen waren, um durch ihre Grazie den Hof des galanten Königs zu schmücken! Mit welchem Interesse untersuchte ich die Garderobe meiner Mutter, in der sich noch viele Überreste jener Zeit fanden! Wie mir diese Schäferkostüme, diese türkischen Kleider, diese antiken Draperien gefielen! Eine Menge Gedanken wurden in mir wach, wenn ich an das vorzeitige Ende all dieser Herrlichkeit dachte. Wie ein Traum war all das Prächtige verflogen. Die Russen waren an den Toren der Stadt erschienen, ihre Kugeln hatten durch die Straßen gepfiffen. Meine Eltern hatten ihre besten Sachen eingepackt und das Haus verlassen, das dem feindlichen Angriff zu sehr ausgesetzt war. Die alte Tante, die mit uns lebte, hatte viele Gegenstände in Fässer voll Mehl auf dem Boden versteckt. Eine Kanonenkugel traf das Haus und blieb in der Mauer stecken.

Indem ich diesen Erzählungen horchte, bedauerte ich von ganzem Herzen, nicht damals schon gelebt zu haben, damit ich die Gefahr mit meinen Eltern hätte teilen können. Ich wäre auch sehr begierig gewesen zu wissen, ob die Kosaken die Sachen, die im Mehl versteckt waren, gefunden hätten, im Fall die Stadt geplündert worden wäre.

Aber die Stadt sowohl wie meine Eltern wurden vor dem Ruin bewahrt. Der alte Fürst kehrte in sein Land zurück. Die Zöpfe und die Korporalstöcke nahmen wieder den Platz ein, den die französischen Grazien verlassen hatten. Das Land wurde abermals von einer Maitresse, der wenig liebenswürdigen Pflegerin eines siechen Greises, regiert. Günstlinge, die sich im Exil, das sie mit ihrem Fürsten teilten, bereichert hatten, erhielten die ersten Stellen im Staat. Das Volk, das unter den verschiedenen deutschen Stämmen für seine Anhänglichkeit an sein Fürstenhaus bekannt war, hatte den wiederkehrenden Regenten zuerst mit freudigem Entzücken begrüßt; bald aber wurde man inne, daß das Band zwischen Vergangenheit und Gegenwart zerrissen war. Die Fürsten und die Völker hatten die nationale Erhebung und die Unabhängigkeitskriege in sehr verschiedener Weise verstanden. Die begeisterten Träume so vieler edler Herzen verflogen, und anstatt des Morgenrots der Freiheit, das die deutsche Jugend erhofft hatte, stieg ein neuer, düstrer, nebelverhüllter Tag herauf. Die Menschen der alten Zeit betrachteten den Zwischenakt der großen Komödie der absoluten Monarchie als beendet, um in Bequemlichkeit aufs neue die alten Throne und die alte Herrschaft einzunehmen. Das Blut der Völker war umsonst geflossen. Die Geschichte stand wieder still.

Nur der Tod stand nicht still; er holte den Greis mit dem Zopf, und von diesem Augenblick an wurden wenigstens die Haare im ganzen Land von der Fessel der Vergangenheit erlöst.

Äußerlich veränderte sich vieles unter der neuen Regierung. Mein Vater, der als Kind ein Spielkamerad des Erbprinzen gewesen war, wurde in die Nähe des nunmehrigen Fürsten berufen, um eine bedeutende Stelle im Staate einzunehmen. Wir verließen das Haus, das ich im Anfang dieser Erzählung erwähnt habe, um ein größeres und glänzenderes, dicht beim fürstlichen Schlosse, zu bewohnen.


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