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1

»Karl! Verflixter Bengel, die kleine Tür steht ja schon wieder offen!«

Auf dem Zementboden dröhnten die harten Tritte des Chefs, die Sporen klirrten leise. Dann wurde eine Tür heftig zugeschlagen, und ein Schlüssel drehte sich knarrend herum.

Der Stalljunge Karl drückte sich tiefer in den Stand der Schimmelstute, aber die scharfen Augen Bertholts hatten ihn bereits entdeckt.

»Komm mal sofort hierher!«

Eine kräftige Hand legte sich hart auf die Knabenschulter.

Einen Augenblick wurde Karl hin und her geschüttelt, daß ihm Hören und Sehen verging. Dann wurde er so heftig losgelassen, daß er sich an einem Pfosten festhalten mußte, um nicht zu fallen.

»Habe ich dir nicht ein für allemal gesagt, die kleine Tür zum Hof müsse verschlossen sein? Der Teufel ist los, wenn ein Fremder plötzlich von dort aus in den Stall treten sollte, und der schwarze Hengst keilt ihn zusammen. Wehe dir, wenn ich das noch einmal sehe! Du fliegst auf der Stelle!«

Die schweren Tritte entfernten sich, begleitet von dem leisen Sporenklingen. Wenige Meter weiter hielten sie bereits wieder an:

»Der Herta wird morgen früh die Mähne geschnitten, verstanden?«

Karl atmete erleichtert auf. Nun war der Chef nicht mehr in seinem Revier, und was er an den anderen Pferden auszusetzen fand, konnte ihm gleichgültig sein. Bei ihm war alles tipptopp. Alle Pferde glänzten, und die, die heute abend in der Quadrille geritten werden sollten, waren bereits gesattelt. Nur die kleine Tür war offengeblieben. Vorhin hatte er den Stalldung auf den Hof gebracht und dabei wieder vergessen, sie abzuschließen. Das sollte nun aber gewiß das letzte Mal gewesen sein! Der Chef war imstande, ihn kurzerhand hinauszuwerfen, und solch einen gut gehaltenen Stall gab es in der ganzen Stadt nicht wieder. Abgesehen davon, daß Karl bereit war zu beschwören, daß hier der einzige Platz auf der Welt sei, wo man richtig reiten lernen könne.

Er war nun zwei Jahre im Stall Bertholt. Damals hatte der Chef das schwächliche und unterernährte Waisenkind zu sich genommen, weil er auf den ersten Blick erkannte, daß in diesem Jungen das Zeug zu einem guten und zuverlässigen Tierpfleger steckte. Karl war bescheiden und anstellig, niemals wurde ihm eine Arbeit zuviel, für ihn war der Umgang mit Pferden Herzenssache und nicht nur irgendein Beruf, den man sich aus praktischen Erwägungen ausgesucht hatte. Außerdem hing er mit großer Liebe an seinem Chef, und es gab wohl nur einen Menschen auf der Welt, dem er noch mehr zugetan war, und das war Frau Bertholt. Diese gütige blonde Frau hatte wie eine Mutter an ihm gehandelt, er sah in ihr den Menschen, dem er am meisten vertrauen konnte, und verehrte sie mit der ersten scheuen Liebe des werdenden Jünglings.

Bertholt ging langsam den Stallgang hinunter, er war bereits im schwarzen Anzug und trug den blanken Zylinder auf dem Kopf.

An Aladins Stand blieb er stehen und flötete leise. Der Schimmelwallach wandte seinen Kopf und wieherte zur Begrüßung. Der Chef lächelte und klopfte das Tier liebkosend auf die Kruppe.

»Na du«, sagte er zärtlich. »Noch ist es nicht so weit; mußt ein bißchen warten!«

Der Wallach schmiegte sich eng an die rechte Wand seines Standes, um seinem Herrn Platz zu lassen, zu ihm zu kommen. Aber Bertholt fürchtete für das gute Aussehen seines Anzuges; er schnippte ein eingebildetes Stäubchen von dem glänzenden schwarzen Tuch und hielt sich in vorsichtiger Entfernung.

Als er sich zum Gehen wandte, sah ihm der Schimmel nach, aber Bertholt blickte sich nicht mehr um, er strebte eilig dem Kontor zu.

An der Tür empfing ihn das lebhafte Klappern einer Schreibmaschine. Er lächelte, als er den Raum betrat:

»Noch so fleißig, Isa? Wir haben nicht mehr viel Zeit, es ist bereits zwanzig Minuten vor acht Uhr.«

Die Frau hob den Kopf und sah ihren Mann zärtlich an:

»Ich bin sofort fertig, Hans. Ist etwas Besonderes?«

»Das wollte ich dich fragen!«

»Ich habe mit Herrn von Holtern telefoniert. Der Arzt erlaubt ihm noch nicht, heute zu reiten. Erst in der nächsten Woche will er die Quadrille wieder mitmachen. Aber ich habe Ersatz: für ihn springt der junge Stamm ein; ich denke, er wird alles richtig machen und nicht stören. Herr von Holtern kommt übrigens später auf die Tribüne. Er sagte mir, er hielte es nicht aus, zu Hause zu bleiben; wenigstens zusehen müsse er, wenn er auch nicht mitreiten dürfe.«

Isa Bertholt lachte und kniff ein Auge zu, während sie ihren Mann bedeutungsvoll ansah. Der zuckte die Achseln, und ein Zug von Abwehr huschte plötzlich über sein Gesicht. Er begriff nicht ganz, wieso Isa über diese Sache lachen konnte, darum sagte er ein wenig vorwurfsvoll:

»Wir können zwar nichts daran ändern, Isa, aber du weißt, daß mir diese Angelegenheit äußerst unangenehm ist. Ich bin überzeugt, daß man schon allenthalben darüber spricht; du wirst sehen, bald weiß jeder hier davon. Und davor fürchte ich mich beinahe.«

Die junge Frau lachte hell auf, erhob sich von ihrem Stuhl und stellte sich dicht vor ihren Mann. Schnell legte sie beide Arme um seinen Hals und küßte ihn:

»Du fürchtest dich, Hans? Das ist doch wohl das erste Mal in deinem Leben. Aber nett finde ich, daß du es eingestehst.«

»Isa, du mußt nicht darüber scherzen!«

»Aber, Hans, mit was für Skrupeln plagst du dich da? Ich denke, du sollst den Leuten das Reiten beibringen? Über ihr Privatleben zu wachen, ist nicht deine Aufgabe! Glaube mir, es wäre auch eine Sisyphusarbeit.«

Sie strich ihm noch einmal zärtlich über die Stirn, dann machte sie sich sanft frei, und nachdem sie einen flüchtigen Blick auf ihre Armbanduhr geworfen hatte, schob sie mit einem energischen Ruck den Deckel über die Schreibmaschine und griff nach ihrem Zylinder.

Bertholt sah seiner Frau zu, wie sie mit sicheren, bestimmten Bewegungen ein paar Löckchen unter dem Hut hervorzupfte und sich dann noch schnell mit der Puderquaste über die Nase fuhr.

Nun waren sie schon mehr als zehn Jahre verheiratet, und es schien beinahe so, als wüchse seine Liebe zu dieser Frau von Jahr zu Jahr. Er war sich darüber klar, daß all das, was er bisher erreicht hatte, nicht möglich gewesen wäre ohne ihre tätige Mithilfe.

In der ersten Zeit waren sie wahrlich nicht auf Rosen gebettet gewesen; zuweilen hatten sie nicht gewußt, woher sie Geld für das Nötigste nehmen sollten. Aber Isa hatte niemals geklagt, sie hatte sich in alles geschickt und Hand angelegt, wo immer es nötig war. Schließlich kam sein Gut unter den Hammer, und er hatte monatelang verzweifelt nach passender Arbeit gesucht, bis sich ihm plötzlich die Möglichkeit bot, einen kleinen Verleihstall mit nur fünf Pferden zu übernehmen. Da er als früherer Rittmeister mit dieser Arbeit vertraut war, zögerte er nicht lange, sondern griff zu.

In den ersten Monaten schien es ihm zuweilen unmöglich, durchzuhalten, aber wenn ihm der Mut sinken wollte, war es Isa, die hoffnungsvoll in die Zukunft sah.

Immer wieder staunte er über ihre ungeheure Arbeitskraft. Morgens um fünf Uhr stand sie schon neben ihm im Stall und half beim Füttern und Pferdeputzen; keine Arbeit war ihr zu schmutzig oder zu schwer. Nebenbei versah sie ihren kleinen Haushalt, Während er in der Bahn unterrichtete, wusch und kochte sie, um niemals einen Pfennig mehr als nötig auszugeben. Sie richtete für den Stall eine übersichtliche Buchführung ein und sorgte dafür, daß alle Eintragungen gemacht wurden. Nebenbei lernte sie reiten, mit einer Energie, die er später niemals wieder bei einem Schüler gefunden hatte.

Und dann ging es langsam bergauf, ein Pferd nach dem anderen wurde angeschafft, ein Architekt kam, und Bertholt baute eine große, gedeckte Halle mit Kasino und einen modernen Stall für fünfzig Pferde. Jetzt hatte er reichlich Personal; Bertholt und seine Frau brauchten nicht mehr jede Handreichung selbst zu tun. Trotzdem ließ Isa sich ihre Arbeit nicht nehmen, noch heute ersparte sie ihrem Mann einen Reitlehrer und einen Buchhalter. Obgleich jetzt sechsunddreißig Mietpferde im Stall standen und der Gang des Geschäftes ihr mehr Ruhe gegönnt hätte, war sie den ganzen Tag über im Stall. Wenn sie nicht hinter ihren Büchern saß, stand sie in der Bahn und plagte sich mit den Anfängern, oder sie führte ihre Abteilungen durch das Gelände. Und Bertholt wußte genau, daß sie bei allen Kunden sehr beliebt war und daß man ihrer Fröhlichkeit und ihrer netten Einfälle wegen sehr gern mit ihr ritt.

»Du träumst ja, Hans! Hoffentlich von mir … oder bist du auch auf Abwegen?«

Sie drohte ihm scherzend mit dem Finger. Er ergriff die erhobene Hand, küßte sie schnell und sagte leise:

»Du, ich habe dich sehr lieb.«

»Ja, Hans.« Isa lächelte glücklich, aber dann fiel ihr plötzlich die Quadrille ein, und sie sah erschrocken auf die Uhr.

»Es wird Zeit, wir müssen uns beeilen!« sagte sie hastig. »Wie unangenehm, wenn man diesmal auf uns warten müßte!«

Sie verließen das Büro und gingen in den Privatstall hinüber. Hier herrschte bereits lebhaftes Treiben. Frau Isa verschenkte ihr strahlendes Lächeln nach rechts und links. Welch schönes Bild, all die Damen und Herren in ihren schwarzen Anzügen mit dem weißen Plastron, den glänzenden Zylinder auf dem Kopf!

»Karl!«

»Ja, Frau Bertholt!«

Der Bursche führte einen brandroten Fuchs mit langem, seidenweichem Schweif- und Mähnenhaar aus einer Box. Während Isa ein Stück Zucker in das zärtliche Pferdemaul schob, hob Karl noch schnell den linken Hinterhuf, um ein Büschel Stroh zu entfernen.

Nun war alles in Ordnung, und der Satan glänzte wie Feuer. Die junge Frau legte ihre Hand leicht auf Karls Schulter, lächelte und sagte nur für ihn verständlich:

»Schön geputzt hast du ihn wieder! Ich freue mich!«

Karl schoß das Blut ins Gesicht, so jung war er noch. Als er sich mit der linken Hand in den rechten Steigbügel stemmte, um Frau Bertholt das Aufsteigen zu erleichtern, sah er krampfhaft auf den Boden.

Niemals wieder durfte er vergessen, die kleine Tür zum Hof abzuschließen. Es war unausdenkbar, was geschehen sollte, wenn der Chef ihn hinauswarf.

Isa ordnete die Zügel, nickte noch einmal freundlich und ritt in die Bahn. Hier waren schon beinahe alle Reiter versammelt; die meisten ließen ihre Pferde auf dem Hufschlag traben; muntere Scherzworte flogen von einem zum anderen.

»Guten Abend, Frau Bertholt.«

Eine zierliche, schwarzhaarige Dame auf einem Rappen setzte sich an ihre Seite, und ehe Frau Isa den Gruß erwidern konnte, sprudelte sie heftig heraus:

»Warum muß ich heute abend Henny reiten? Sie wissen doch, daß ich sie nicht mag. Ich finde sie hart und langweilig.«

Isa lächelte höflich, obgleich ihr gar nicht danach zumute war. Sie konnte es nicht leiden, wenn jemand an den Pferden etwas auszusetzen fand, und diese Frau war wirklich eine der schwierigsten Kundinnen. Der liebe Gott mochte wissen, aus welchem Grunde sie überhaupt auf ein Pferd stieg.

»Aber liebe Frau Schwindt«, sagte Isa beschwichtigend, »Sie haben wohl schon im Stall gehört, daß Alma sich heute morgen den Fuß vertreten hat, und ich wußte wirklich nicht, auf wen anders ich Sie setzen sollte. Aber wenn Sie noch tauschen wollen, lassen wir Ihnen selbstverständlich ein anderes Pferd satteln. Haben Sie einen bestimmten Wunsch?«

Die Dame zuckte beleidigt ihre Achseln:

»Ich verzichte. Sie haben zu viel ungezogene Pferde, daran liegt es!« rief sie heftig.

›Oder zu viel schlechte Reiter‹, antwortete Isa in Gedanken. Aber sie hielt das verbindliche Lächeln auf ihrem Gesicht fest und fand sogar noch ein paar tröstende Worte und ein kleines Kompliment.

»Das dürfen Sie nicht sagen! Ich denke, es liegt daran, daß Sie so sehr mit Alma verwachsen sind. Von allen Reitern werden Sie am besten mit ihr fertig.« Sie lächelte freundlich und fügte in Gedanken hinzu: ›Weil sonst nur Anfänger in den ersten zehn Stunden darauf sitzen.‹

Der älteste Reitlehrer hatte das Kommando übernommen. Er saß auf seinem Pferd unter der großen Lampe genau in der Mitte der Bahn. Jetzt hob er seinen rechten Arm, der weiße Handschuh leuchtete:

»Bitte rangieren!«

Die sechzehn Reiter suchten ihre Plätze auf, und schon setzte die Musik ein.

»Aufmarsch!«

Die Reiter bildeten eine lange Reihe durch die Mitte der Bahn.

»Bitte ausrichten!«

Langsam ritt der Kommandeur mit seinem großen Braunen die Reihe ab und gab der Musik das Zeichen:

»Bitte Trab. Wir reiten zuerst die Visite-Tour.«

Isa sah ihren Mann verstohlen an, als sie jetzt neben ihm durch die Bahn trabte. Sein Gesicht war ernst und konzentriert; er hatte viel mit Aladin zu tun, der Schimmel war unruhig und noch nicht vollständig in der Hand des Reiters. Erst in der nachfolgenden Schritt-Tour gelang es Isa hin und wieder, einen Blick ihres Mannes zu erhaschen.

›Wie kindisch von mir‹, dachte sie, ›daß mich das heute noch so glücklich macht. Er muß mich jedesmal ansehen, wenn wir aneinander vorüberreiten, sonst bin ich nicht zufrieden. Und wenn ich dächte, er könnte eine andere auch so ansehen, würde ich verzweifeln … Was sollen nur diese dummen Gedanken? Daran ist bestimmt das Gespräch von vorhin schuld. Als ob so etwas möglich wäre bei uns!‹

»Bitte Galopp, die Remplacez-Tour!«

Langsam galoppierte der Fuchs neben dem Schimmel in der großen Runde. Plötzlich machte Aladin vor der Tribüne einen mächtigen Satz zur Seite und bäumte sich hoch auf.

Unwillig sah Isa sich nach der Ursache des Zwischenfalles um. Dicht an der Brüstung der Tribüne stand Herr Schwindt; er hielt ein großes, weißes Taschentuch in der Hand und fuhr sich damit über die Stirn. Wahrscheinlich hatte er durch eine heftige Bewegung das Tier irritiert. Bertholt zwang den Wallach an seinen Platz zurück, und als sie wieder an der Tribüne vorbeiritten, sah Isa, daß Schwindt sich auf einen Stuhl der hintersten Reihe gesetzt hatte. Dort blieb er während der ganze Quadrille sitzen und ließ Isa nicht aus den Augen.

Jedesmal, wenn sie an ihm vorbeiritt, fühlte sie den Blick, und sie bildete sich ein, daß es alle Reiter bemerken mußten, wie dieser Mann sie ansah, denn Schwindt war an diesem Abend der einzige Gast auf der Tribüne.

Die übrigen Touren der Quadrille verliefen ohne Zwischenfall; trotzdem war Isa froh, als endlich das Kommando zum Absitzen gegeben wurde. Sie führte ihren Fuchs selbst in seine Box und schritt dann langsam den Stallgang hinunter.

»Haben Sie etwas von Herrn von Holtern gehört?«

Isa legte einen Augenblick die Stirn in Falten, aber dann hatte sie sich sofort wieder in der Gewalt und lächelte Frau Schwindt unbefangen an:

»Ich habe vorhin mit ihm telefoniert. Beim nächsten Mal ist er wieder dabei. Wahrscheinlich kommt er heute abend noch oder ist schon da und kann Ihnen das selbst bestätigen.«

»Schrecklich, solch ein Schlüsselbeinbruch, nicht wahr?«

»Gewiß.« Isa nickte zustimmend.

»Hoffentlich passiert mir das nicht einmal. Man muß doch noch viel vorsichtiger sein!«

»Nun, Sie springen ja nicht, und vorsichtig sind wir doch wirklich. Sie reiten stets unsere ruhigsten Pferde.«

An Isas Stimme merkte man nichts von ihrer Ungeduld; sie blieb höflich, und ihr Tonfall war so ruhig, als spräche sie zu einem Kind.

»Guten Abend, gnädige Frau!«

Herr Schwindt verbeugte sich höflich vor Isa:

»Verzeihen Sie mir die Ungeschicklichkeit mit dem Taschentuch! Ich konnte wirklich nicht ahnen, daß der Schimmel so schreckhaft ist.«

Die junge Frau drehte spielerisch ihre Reitpeitsche in den Händen. Sie sagte ein paar verbindliche Worte und wandte sich dann zu einer anderen Gruppe, die gerade die Ergebnisse eines Springturniers besprach. Sie fühlte deutlich, daß Schwindt sie nicht aus den Augen ließ. Er hatte seine Frau ohne weiteres stehen lassen und kam nun langsam den Stallgang hinunter.

Isa schaute sich nervös um. Die Aufmerksamkeiten dieses Mannes waren ihr unangenehm. Sie hatte ihn niemals dazu ermuntert, was fiel ihm eigentlich ein? Er sollte auf seine Frau aufpassen, das wäre richtiger!

Hastig wandte sie sich um und schritt den Stallgang weiter hinunter. Vor der Kontortür blieb sie stehen. Sie brauchte sich nicht umzuwenden, um zu wissen, daß ihr die Augen gefolgt waren. Energisch drückte sie die Klinke herunter und öffnete die Tür mit einem Ruck.

Aufatmend setzte sie sich auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch und löste das Gummiband ihres Zylinders.

Eine kräftige Hand klopfte an die Tür, und Isa richtete sich kampfbereit auf. Beinahe schneidend klang ihr: »Herein!«

Aber es war nicht der Erwartete. Stallmeister Häfke öffnete die Tür und blieb bescheiden am Eingang stehen.

Frau Bertholt sah ihn beinahe dankbar an:

»Nun, was gibt es?«

»Henni, Selma und Frank müssen morgen zum Schmied.«

»Es ist gut.«

Die junge Frau öffnete das Buch, um die Eintragung zu machen. Während sie schrieb, brachte Häfke noch einige kleine Anliegen vor. Dabei drehte er fortwährend seine Mütze in den Händen und blickte starr auf den Bleistifthalter, der vor ihm auf dem Schreibtisch stand.

›Er kann mich nicht ansehen!‹ durchfuhr es Frau Isa. ›Da ist gewiß wieder etwas nicht in Ordnung.‹

Aber ehe sie eine Frage stellen konnte, wurde die Kontortür geöffnet, und ein schlanker, dunkelhaariger Herr betrat den Raum. Er war nicht in Reitkleidung, sondern trug einen dunklen, unauffälligen Straßenanzug.

»Guten Abend, Frau Bertholt.«

»Guten Abend, Herr Doktor Born. Wie nett, daß Sie uns auch einmal besuchen.«

»Ich hatte mich mit von Holtern hier verabredet. Haben Sie ihn heute abend schon gesehen?«

»Nein, aber ich weiß, daß er kommen wollte.«

»Ich suche ihn nun schon seit mehr als einer halben Stunde, denn seltsamerweise parkt sein Wagen im Hof. Er muß also schon hier sein.«

»Aber wo sollte er denn sein? Haben Sie schon im Kasino nachgesehen? Oder ist er vielleicht bei Frank in der Box?«

»Nein. Es erinnert sich auch niemand, ihn heute abend gesehen zu haben.«

Einen Augenblick war es ganz still. Diese Gelegenheit benutzte Häfke, um mit einem unverständlich gemurmelten Gruß den Raum zu verlassen. Keiner von beiden achtete darauf.

Isa konnte sich eines unangenehmen Gefühls nicht erwehren. Immer gab es Zwischenfälle mit von Holtern! Vor vierzehn Tagen war er im Sprunggarten gestürzt und hatte sich das Schlüsselbein gebrochen. Dann war da sein mehr als heftiger Flirt mit Frau Schwindt. Man tuschelte bereits darüber, und Isa fürchtete sich vor dem Augenblick, da der Ehemann die Sache erfahren würde. Was mochte nun wieder geschehen sein?

»Vielleicht hatte Herr von Holtern noch etwas zu erledigen«, sagte sie unbestimmt.

»Ohne Wagen? Glauben Sie, er würde mit der Straßenbahn fahren und seinen Wagen hier zurücklassen?«

Isa biß sich auf die Lippen und sagte abwehrend:

»Natürlich nicht. Aber was erwarten Sie von mir? Wo soll ich ihn suchen, wenn Sie ihn nicht finden können?«

Sie sah Doktor Born kampfbereit an. Was dachte sich der Mann eigentlich? Wahrscheinlich ging von Holtern mit Frau Schwindt irgendwo spazieren. Konnte Doktor Born das denn nicht begreifen? Der Verdacht lag doch wirklich nahe!

»Verzeihen Sie, Frau Bertholt. Sie werden verstehen, daß mich der Vorfall erregt. Von Holtern ist noch nicht völlig wiederhergestellt, vielleicht ist ihm erneut etwas zugestoßen.«

»Aber nicht bei uns, davon müßte ich doch wissen!«

Doktor Born zögerte einen Augenblick und sagte, dann leise:

»Ich dachte eben an den schwarzen Hengst. Bitte, kommen Sie doch einmal mit; in diesem Teil des Stalles war ich noch nicht!«

»Der Gedanke ist absurd!« wehrte sich Frau Isa. »Warum sollte von Holtern dorthin gegangen sein? Abgesehen davon, daß es verboten ist. Sie wissen selbst, daß das Ende des Stalls mit Stricken abgesperrt ist; außerdem hängt dort ein Warnungsschild.«

»Mir fällt eben ein, daß die kleine Tür zuweilen offen steht; und wenn man sein Auto im Hof parkt, ist es bequem, von hier aus den Stall zu betreten. Man muß sonst immer um das ganze Haus herumgehen.«

Isa spürte, wie ihr Herzschlag aussetzte. Sollte von Holtern wirklich verunglückt sein?

Sie sah Doktor Born unruhig an; seine Mundwinkel zuckten nervös, anscheinend war er in großer Sorge. Es schien keinen Zweck mehr zu haben, ihn mit Worten zu beruhigen. Isa blieb nichts anderes übrig, als ihn in den Stall zu führen.

Sie atmete tief, um ihrer Erregung Herr zu werden. Um alles in der Welt hätte sie diesem Manne gegenüber nicht zugegeben, daß sie sich fürchtete. Hastig ging sie neben ihm den Stallgang hinunter. Vor jedem Lichtschalter hielt sie an, und bald erstrahlte der große Stall in blendender Helle. In langen Reihen standen die gefüllten Wassereimer für die Morgenfütterung bereit, viele Pferde lagen schon im Stroh und sahen sich neugierig um, als das Licht plötzlich aufflammte. Aber jetzt hatte Isa keinen Blick für die Tiere, sie lief förmlich bis dorthin, wo der Stallgang einen rechten Winkel beschrieb. Quer über den Weg waren zwei dicke Seile gespannt, außerdem stand dort ein Pfosten mit einem Schild, auf dem große Keilbuchstaben warnten: »Vorsicht! Lebensgefahr! Zutritt verboten!«

Die beiden bückten sich und krochen unter den Seilen durch. Doktor Born blieb vorsichtig zurück und wartete, bis Isa den letzten Lichtschalter angedreht hatte. Hier in dem kleinen Ausläufer des Stalles befanden sich keine Boxen mehr. Das äußerste Ende war für den Hengst Taifun abgetrennt; hier hatte er seinen breiten, ruhigen Stand. Rechts davor waren zwei Türen.

Isa atmete erleichtert auf und blickte beinahe dankbar auf den großen Rappen, der sie mit blanken, neugierigen Augen ansah.

»Sehen Sie, ich wußte es ja: hier ist nichts!« rief die junge Frau froh. »Lassen Sie uns nur ins Kasino gehen. Vielleicht erwartet Herr von Holtern Sie jetzt dort. Er wird Sie bestimmt auslachen, wenn er hört, welche Besorgnisse Sie gehabt haben.«

Doktor Born zögerte einen Augenblick und sah sich suchend um. Aber in diesem Raum konnte sich niemand verbergen.

»Ist er wirklich so gefährlich?« fragte er leise und wies auf den Hengst.

Isa lächelte und schüttelte den blonden Kopf. Nach einem leisen Zungenschnalzen betrat sie den Stand und klopfte dem Hengst den Hals.

»Nicht für uns, die wir damit umzugehen wissen. Aber es könnte sein, daß ein Fremder unversehens zu nahe an ihn herantritt, und da das Tier jung und heftig ist, kann natürlich einmal ein Unglück passieren. Aber bösartig ist er nicht, das dürfen Sie nicht denken.«

Sie legte ihre Wange gegen das weiche Pferdemaul und streichelte den schönen schwarzen Kopf. In diesem Augenblick fühlte sie sich sehr glücklich; es schien ihr, als sei eine große Gefahr vorübergegangen, und sie sagte sich, daß sie Herrn von Holtern in Zukunft gern den Flirt mit Frau Schwindt gönnen wollte. Wieviel schlimmer für sie alle wäre es gewesen, wenn er hier verunglückt wäre.

Doktor Born riß sie aus diesen Gedanken:

»Wohin führen diese beiden Türen?«

»Die Tür links führt auf den Hof, dorthin, wo die Autos parken. Und rechts ist eine kleine Kammer, in der ein paar Privatsättel und Ersatzteile für das Sattelzeug aufbewahrt werden.«

Sie öffnete die Tür und ließ Doktor Born in den kleinen Raum sehen. Neugierig trat er näher, immer noch in der uneingestandenen Hoffnung, seinen Freund zu finden. Aber auch hier in der Kammer konnte sich kein Mensch verstecken. An den Wänden hingen mehrere neue Trensen, Bügelriemen und Zügel; auf einem schmalen Regal standen Dosen mit Huf-Fett und Lederseife. Auf einem Bock in der Mitte des Raumes hing ein Sattel, davor stand ein kleiner Eimer mit Wasser.

»Hier hat heute abend noch jemand gearbeitet«, erklärte Isa ruhig. »Aber wenn mein Mann sieht, daß nichts weggeräumt worden ist, gibt es ein Donnerwetter.«

Sie bückte sich lächelnd nach dem Eimer, nahm den Schwamm heraus und goß das gebrauchte Wasser in das Siel. Dann stellte sie alles auf das Regal und schickte sich an, den Raum zu verlassen. Aber Doktor Born war anscheinend noch nicht zufriedengestellt:

»Können Sie mir einmal die kleine Tür aufschließen? Ich möchte mich gern davon überzeugen, daß der Wagen von Holterns noch im Hof parkt.«

Isa griff ruhig nach dem Schlüssel, der rechts neben der Tür an einem Nagel hing, und schloß auf. Mechanisch griff sie nach dem Lichtschalter, der die große Lampe nach dem Hof zu einschaltete. Plötzlich lag der Hof bis in die fernste Ecke erleuchtet vor ihnen. Im selben Augenblick schrie Isa entsetzt auf und stützte ihre Hand hilfesuchend an dem Türpfosten.

In der Ecke des Hofes, die bisher im Schatten des Hauses gelegen hatte, lag ein Mensch, nur wenige Schritte von der kleinen Tür entfernt, und Isa konnte die Gestalt ganz deutlich erkennen. Ihr Herz klopfte wie rasend; trotzdem folgte sie Doktor Born, der zögernd und unschlüssig auf die Ecke zuging.

»Es ist Herr von Holtern, ich wußte es ja.«

Die Stimme des Mannes klang heiser, seine Augen waren groß vor Entsetzen. Er streckte seine Hand aus, um Isa festzuhalten, und diese Hand zitterte. Er beugte sich noch einmal tief über den Körper. Starr blickte Isa auf den Toten. Nun war das Unglück doch geschehen.

»Ich fürchte, wir müssen die Polizei verständigen. Herr von Holtern ist tot.«

»Nein!« Isa hob abwehrend die Hand, aber sie faßte sich schnell. »Ich will zuerst meinen Mann verständigen. Er kann dann bestimmen, was zu geschehen hat.«

Sie wandte sich um und lief zu der kleinen Tür. Hier schaltete sie zuerst das Licht im Hof aus. Mit zitternden Fingern schloß sie dann die kleine Tür zu und hängte den Schlüssel wieder auf den dafür bestimmten Nagel. Doktor Born folgte ihr ohne ein Wort der Widerrede; er konnte kaum mit der Frau Schritt halten, so eilig lief sie den Stallgang hinunter. Dann hastete sie die Treppe hinauf, die ins Kasino führte. Hier scholl ihnen Musik und Gelächter entgegen.

Isa zögerte einen Augenblick, bevor sie die Tür öffnete. Sie wandte sich um und sah Doktor Born fragend an. Sein Gesicht leuchtete fahl in dem Halbdunkel, die Haare hingen ihm in die Stirn. Hier durfte sie keinen Beistand erwarten. So legte sie entschlossen ihre Hand auf die Türklinke und trat als erste in den Raum.

Niemand achtete auf sie. Aus dem Lautsprecher scholl Tanzmusik, und die Paare drehten sich im Kreise.

Bertholt lehnte an der Bar. Als er Isa sah, kam er sofort auf sie zu.

»Was ist dir? Bist du krank?«

»Komm mit uns, Hans; wir müssen dir etwas zeigen!«

Jetzt erst sah er, daß Doktor Born hinter seiner Frau stand. In welcher Verfassung war der Mann! Wenn nur keiner der anderen Gäste etwas merkte! Ohne eine Frage zu stellen, folgte er den beiden.

Isa nahm jetzt nicht wieder den Weg durch den Stall. Sie trat sofort ins Freie und ging um das Haus herum, bis sie wieder vor dem Lichtschalter an der kleinen Tür stand. Es bedeutete für sie eine große Überwindung, noch einmal die Helle einzuschalten; aber sie biß die Zähne zusammen und tat, was sie für ihre Pflicht hielt. Sie wollte nicht dorthin sehen, wo der stille Körper lag, aber wie unter einem Zwange konnte sie nicht anders, als in diese Ecke starren. Sie sah, wie ihr Mann sich über den Toten beugte. Endlos lange schien es ihr zu dauern, bis er sich wieder aufrichtete.

»Herr Doktor Born, benachrichtigen Sie bitte die Polizei. Ich werde hier warten, daß kein Unbefugter den Körper berührt.«

Seine Stimme klang ruhig und bestimmt, und Isa merkte, wie das Entsetzen allmählich von ihr wich. Als ihr Mann jetzt auf sie zutrat und seine Hand leicht auf ihren Arm legte, hatte sie das feste Gefühl, daß alles wieder gut werden würde.

»Bitte, Isa, geh ins Kasino und sorge dafür, daß die Gäste aufhören zu tanzen. Du mußt zu verhindern suchen, daß jemand den Stall verläßt. Wir müssen abwarten, was die Polizei verfügt. Ich fürchte« – er zögerte einen Augenblick und sah seine Frau mitleidig an – »es war kein Unfall.«

Sie nickte leicht und wandte sich zum Gehen. Nun fürchtete sie sich nicht mehr; mit elastischen Schritten ging sie quer über den Hof.

Bertholt sah seiner Frau nach, bis sie um die Ecke des Hauses verschwunden war. Dann griff er mechanisch in die Tasche und steckte sich eine Zigarette an. Wie bewunderte er Isa! Jede andere Frau hätte die Nerven verloren, hätte geweint, hätte alles verwirrt und schlimmer gemacht. Sie aber sprach kein Wort mehr als nötig und tat ihre Pflicht auf dem Platz, auf den er sie stellte. Sein bester Kamerad war sie. Er empfand eine tiefe Dankbarkeit dem Schicksal gegenüber, daß es gerade ihm dieses wundervolle Geschenk gemacht hatte.

So manchen Freund hatte er im Leben besessen und wieder verloren. Er dachte an seine Kriegskameraden, die der Daseinskampf in alle Winde verstreut hatte. Viele mochten lange tot sein, in Rußlands Erde ruhten sie, und kein Weg führte mehr zurück in die Vergangenheit. Dann kam Isa. Gleich beim ersten Sehen hatte er sich in sie verliebt; sie war so zart und blond und schien ihm in ihrer ausgesprochenen Weiblichkeit ein Gegengewicht gegen die Schrecken des Krieges, sie schien ihm der Friede selbst zu sein. Bei ihr wollte er ausruhen und ein neues Leben aufbauen, das nichts mehr wußte von Kampf und Tod. Und dann war es doch wieder Kampf geworden, und die Frau hatte wie ein Mann an seiner Seite ausgeharrt und ihm lächelnd geholfen, die schwere Last zu tragen.

Er warf die glimmende Zigarette auf den Boden und trat die Glut in den Sand – da leuchtete der Scheinwerfer eines Autos in die Einfahrt. Bertholt straffte sich und ging dem Auto ein paar Schritte entgegen. Die Bremsen wurden angezogen, und der Polizist, der neben dem Fahrer gesessen hatte, verließ den Wagen. Hinter ihm stiegen zwei Herren in Zivil aus.

»Bertholt.«

»Kommissar Güstrow.«

Zwei forschende Augenpaare tauchten ineinander. Plötzlich zuckte ein Lächeln um den Mund des Kriminalisten:

»Siebzehnte Kavallerie-Brigade. Damals in Gulbieniszki.«

»April neunzehnhundertfünfzehn.«

Die beiden wechselten einen festen Händedruck.

Ein tiefes Glücksgefühl durchströmte Bertholt. Da stand der Mann vor ihm, mit dem er so viel Großes erlebt hatte. Zwei tolle Kerls waren sie gewesen, damals in Gulbieniszki! Immer bereit, sich freiwillig einzusetzen, wo es etwas zu wagen galt. Zusammen hatten sie sich das Eiserne Kreuz I. Klasse verdient, knapp am Tode ging es vorbei während des Erkundungsrittes in die feindlichen Stellungen. Und dann war es ihnen doch noch gelungen, ihre Aufgabe zu lösen und mit wichtigem Material zurückzukehren. Die feindlichen Maschinengewehre hatten Güstrow das Pferd unter dem Leib zusammengeschossen, und die Stute Fedora mußte die doppelte Last heimtragen. Ja, die Fedora: wenn sie damals nicht durchgehalten hätte, ständen die beiden Kameraden heute nicht einander gegenüber.

Aber jetzt war keine Zeit, Erinnerungen auszugraben, dafür fand sich wohl bald eine bessere Gelegenheit. Güstrow trat einen kleinen Schritt zurück und fragte in dienstlichem Ton:

»Was ist vorgefallen?«

Bertholt wies auf den Körper des Toten.

»Herr von Holtern war mein Kunde. Ich fürchte, er ist erschlagen worden.«


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