Kurt Martens
Roman aus der Décadence
Kurt Martens

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X.

Der Eindruck, den ich aus Erichs Hilflosigkeit empfing, kam zu überraschend, zu fremdartig, als daß ich ihn leicht verwunden hätte. Die grotesken Sprünge und Verrenkungen seiner Laune, die durchaus Freiheit und Lust bedeuten sollten, erweckten mir dieselben Schauer der Beängstigung, gewürzt mit Komik, an denen sich das Publikum im Varieté erfreut, wenn der Clown sich kunstgerecht erhängt. Die Gewißheit zwar, daß es mit Erich ernsthaft stehe, ließ sich nicht abweisen; doch trat sein Elend mit so viel Pose auf, daß eigentliches Mitgefühl nicht rege werden konnte. Unheimlich war mir nur, daß ich auf dem Grunde seiner Seele mein eigenes Spiegelbild erblickte, die schlaffen, maroden Züge eines Unterliegenden, der sich auf die Beherrschung des Lebens nicht versteht oder zu feige dazu ist. Der Verzicht auf die Wahrheit irgendeiner Lebensanschauung, einer Lebensnorm und eines Zieles war uns beiden gemeinsam. Daß ich damit in Frömmigkeit gestrandet war, erwies sich als Fallit nicht weniger deutlich, denn jenes verzweifelte Schlaraffenleben, das wenigstens zeitweise noch vergnüglich war.

282 Aber ich glaubte mich noch nicht am Ende! Freiwillig und kalten Blutes war ich unters Joch getreten; freiwillig konnte ich umkehren, sei's auch in ärgeres Wirrsal denn zuvor. Und ich wollte diese Umkehr! Mein Spiegelbild hatte mir Furcht eingejagt, heilsame Furcht vor einem noch rapideren Verfall, einer völligen Auflösung, wie sie sich schon bei Erich ankündigte. Bei mir wäre sie entsprechend aufgetreten, etwa als die unheilbare Versimpelung im Kirchentum; ich konnte – wer weiß? – noch ein Habitué der stillen Messen, ein Betbruder der Hökerinnen oder Kassierer im Laurentiusvereine werden.

Nun, dahin sollte es wahrhaftig nicht kommen! Zu meiner freudigen Verwunderung traten die Depressionsanfälle, die peinvollen und stets fruchtlosen Kämpfe des grüblerischen Willens gegen die Instinkte vorläufig nicht mehr auf. Ich fühlte mich leidlich zufrieden mit mir selbst, obwohl keine Veranlassung dazu vorhanden war; nur wollte mir jetzt scheinen, als habe ich allen Grund, mich in meiner Eigenschaft als Weltbewohner und Zeitgenosse zu bescheiden. Das waren Nachwirkungen des freundlichen Sommers und Früchte seiner Regentage. Sobald ich die Stadt durchschritt, neigten wieder alte Buchen ihre Äste über mich, und wenn ich mit ansehen mußte, wie dumme Kannegießer ihren Wanst an den Stammtisch drückten, so traten 283 neben mich die Fischer vom Bodden in ihrer Schweigsamkeit. Das Brausen der See hatte sich in meinem Herzen wie in einer Muschel gefangen; mit dem Flüstern der Zweige und dem Vogelgezwitscher gab es einen wundersamen Akkord, der Fragen und Klagen besänftigte, sooft sie auferstehen wollten. Und auch die Freunde, Dimitri und Esther und Tönnies, ohne deren Gesellschaft mir kaum mehr ein Tag verging, waren mir gleicherweise teuer in der Erinnerung wie im Vertrauen auf den Beistand zu weiterem Fortschritt. Neuerdings kam es vor, daß Dimitri mein gottgefälliges Friedensbedürfnis mit gutmütigem Spott abhandelte. Dann trat ich gegen mich selbst auf seine Seite und half, daß die Hiebe ins eigene Fleisch auch saßen. Von dem Zauber seines Lächelns flogen die frommen Nebel in Fetzen auseinander und öffneten meinem geblendeten Auge unverhoffte sonnige Perspektiven.

Bald konnte ich nicht anders als meinen neuen Glauben mit Humor betrachten und ihn dadurch an der Wurzel wieder auszurotten. Allerdings hätte ich ein noch schlimmerer Hypochonder sein müssen, um den Ernst zu bewahren bei der Entdeckung, daß ich der doppelt Geprellte war; denn kaum war ich im Besitz der ersehnten Gnaden, versagten sie den Dienst, und ein durchaus unangemessenes Wohlbefinden ließ mich das außerdem 284 nicht einmal bedauern. Im Gegenteil, es freute mich, daß der frevelhafte Versuch, meinen Intellekt zu vernichten, fehlgeschlagen war; es erfüllte mit mich Selbstbewußtsein und steigerte den Trieb zu geistiger Betätigung. Ein paarmal beteiligte ich mich noch an den Funktionen der Kirche, an der Messe und an den Vereinssitzungen, geriet aber dabei stets in einen solchen Morast von Skepsis, Widerwillen und gemeiner Lachlust, daß ich schon aus Besorgnis, Skandal zu erregen, endgültig darauf verzichten mußte.

Ohne Groll verließ ich diese Kirche, von der ich mir so viel, von der ich mir alles versprochen hatte. Mit leichten, rohen Schritten ging ich davon wie aus einem Hospital, das ich aufgesucht, um eines sanfteren Todes darin zu sterben, und das dann seinen Wert verlor, weil es besser mit mir wurde. Meine Ehrfurcht vor der katholischen Idee blieb mir erhalten; getäuscht war ich nur in der Form, die freilich niemals der Idee entsprechen wird, sobald sie den Bedürfnissen einer faul gewordenen Masse dienen soll.

Und noch eines sagte ich mir: Wir wollen sie nicht angreifen, diese Kirche. Sie wird fallen, sobald es nichts mehr für sie zu tun gibt. Bis dahin wollen wir es ihr danken, daß sie ein Kerker ist für Menschen, die nicht aus sich selber leben können. Auch müßte die Masse der Armen im Geiste uns Einzelnen gefährlich werden, 285 wenn sie am Kampf um intellektuelle Güter sich beteiligte. Mit ihren plumpen Füßen würden sie jede Blüte der Kultur im Keim zertreten. So aber sind sie nichts weiter als bedeutungslose Sklaven, ein gefesseltes Proletariat. Priester und Staatsräson geben brav acht, daß ihre Kritik- und Geschmacklosigkeit uns kein Unheil anrichtet.

Der Weg, auf dem ich mich vom Überirdischen abwendete, führte indes nicht in den einstmals so verhaßten Zustand der Selbstzerfaserung und Selbstentwürdigung zurück, sondern mitten hinein ins Menschenvolk, dessen Niedrigkeiten mich jetzt viel weniger empören wollten. Fast heimatlich mutete es mich an, daß ich die Leutchen nach meinem Ausflug ins Transzendentale genau so wiederfand, als ich sie verlassen: ein bißchen gemein, ein bißchen lächerlich, aber im ganzen doch leicht zu behandeln. Wenn ich sie so besorgt ihren irdischen Geschäften nachlaufen sah, hatten sie fast etwas Rührendes für mich. Darin, daß sie allerlei erstrebten, was ihnen bald gewährt, bald versagt wurde, glichen sie meiner eigenen Ruhelosigkeit, und es kam mir vor, als gehörten wir doch eigentlich zusammen. Weit entfernt, meine Teilnahme zu erregen, reizten sie doch schon meine Neugier. Es ließ sich ihnen ganz nett zuschauen, ganz unterhaltsam bedenken, warum sie so gerade handelten und nicht anders, ob sie dies oder 286 jenes Ziel wohl erreichen würden, oder was dem entgegenstände. Ich dachte, daß dieses Lebens Narrenspiele in Wahrheit gar nicht so traurig seien und keinesfalls langweilig. Man müßte sich nur dazu entschließen, eine Weile recht geduldig und beschaulich davor stehenzubleiben; vielleicht würde man dann von der Handlung ergriffen und von den Scherzen erheitert werden.

Bald suchte ich diesen oder jenen alten Bekannten wieder auf, las die Zeitungen, betrat die Kneipen, unterhielt mich mit Arbeitern über die Löhne und mit Ladenmädchen über ihren Putz. Ja, sogar zu einer förmlichen Besuchstournee raffte ich mich auf und nahm Einladungen an, ohne dem menschlichen Verkehr dabei zu fluchen.

Wie ein Detektiv folgte ich den Mienen der Kavaliere und dem Geschwätz der alten Damen, und regelmäßig ward mein Spürsinn und mein guter Wille mit irgendeiner amüsanten Entdeckung belohnt. So kam allmählich die Leidenschaft des Sammlers über mich; ich wurde nicht müde, charakteristische Bewegungen, Äußerungen, dialektische Kniffe, Kuriositäten der Eitelkeit, der Empfindlichkeit, Züge von Ehrgeiz, Zähigkeit oder Sanftmut, kurz, ein ganzes Repertorium menschlicher Seelendokumente in meinem Gedächtnis und später auch auf dem Papiere anzuhäufen.

Vorläufig verfolgte ich keinen anderen Zweck, als mich 287 mit diesem Material zu unterhalten, es zu vermehren und zu sichten. Nur wie zum Spaße fing ich darauf an, die Sache synthetisch zu fassen. Ich kombinierte z. B. die bei einer bestimmten Person entdeckten Eigenschaften und suchte daraus einerseits die angeborene Natur, andererseits den erworbenen Charakter zu bestimmen. Dann ordnete ich die so gewonnenen Individuen in Gruppen und erhielt den Typus, bis ich endlich kleine Essays darüber auszuarbeiten wagte. Also etwa: »Über Nüancen der Bismarckverehrung bei Alkoholikern,« oder ferner: »Scheint der Oberlehrer zu bedauern, daß er keine gesellschaftliche Stellung genießt?« oder auch: »Die Ansichten der höheren Töchter über Schicklichkeit« usw. usw.

Ich verhehlte mir nicht, daß alles dies nur Spielereien waren, unwissenschaftlich und nutzlos für das Gemeinwesen; aber sie wurden mir zu einer so lieben und fröhlichen Unterhaltung, daß ich mich über keine tote Minute mehr zu beschweren hatte. Jeder Mensch, der mir begegnete, jedes Buch, das ich las, ward mir zu einer Fundgrube überraschender Aufschlüsse. In tausend und abertausend menschlichen Wesen lebte ich mit, und meine eigene Lebenskraft nahm damit einen ungeahnten Aufschwung. –

Was ich sonst mit Entrüstung von mir gewiesen hätte, die Zumutung, drei Stunden der Betrachtung eines 288 Pferderennens zu widmen, nahm ich mit Vergnügen an, als Erich es mir vorschlug.

Erich hatte sich neben anderen Modegegenständen auch einen Dogcart zugelegt, den er kunstgerecht kutschierte, während sein Groom mit verschränkten Armen auf dem Hinterbänkchen saß. So jagte er täglich in polizeiwidrigem Trabe durch die Stadt und fing bereits an, bei den Bürgern eine unliebsame Berühmtheit zu erlangen. Denn auch über die versteckte Villa waren schon Einzelheiten in der Leute Mund.

Auf diesem Dogcart also bot er mir den Platz zu seiner Linken an, da er es doch nicht für geraten hielt, sich von einer seiner Haremsdamen begleiten zu lassen.

An einem klaren Septembertage fand das letzte der Herbstrennen statt. Inmitten einer endlosen Kolonne von Equipagen fuhren wir hinaus nach der Rennbahn. Mit Genugtuung bemerkte Erich, daß unter den Leipziger Patrizier-Gespannen, die als mesquin bei jedem Kenner berüchtigt sind, das seinige durch erlesenen Geschmack sich auszeichnete. Er sprach sehr fachmännisch von den Gäulen, welche laufen sollten, von deren Abstammung und Gewicht, nannte mir einige Favorits, auf die er wetten wollte, und bespöttelte die Outsiders. Ich mußte über dies neueste Stadium seiner geistigen Entwicklung lachen. Etwas gekränkt erklärte er mir, 289 daß man doch auch den Sport »in sich aufnehmen« müsse.

Sonst war nicht viel aus ihm herauszubekommen. Er verhielt sich schweigsam, und aus dem starren, fett gewordenen Gesicht ließ sich nicht entnehmen, ob er absichtlich sich verschloß oder ob er nichts mehr zu verschließen hatte.

Auf dem Sattelplatz, nach dem er mich führte, trafen wir Kameraden seines Regiments. Er versuchte im Gespräch, ihre Art zu treffen; doch schon fehlte ihm die Sicherheit. Sie wußten nicht recht, was sie jetzt aus ihm machen sollten, und benahmen sich zurückhaltend. Der schrille Unterton seiner blasierten Redeweise kam ihnen verdächtig vor. Seine Oberflächlichkeit war doch nicht die gewöhnliche, die für so vornehm gilt, weil sie selbst Gefühl und Intelligenz verachtet.

Ich ging inzwischen meinen kleinen statistischen Liebhabereien nach. Gewissenhaft nahm ich die Manieren des »Rennonkels« auf, der sich infolge häufigen Umganges mit dem Typus »Rennpferd« diesem in zahlreichen Merkmalen nähert. Nicht nur, daß er dessen Idealeigenschaften, das Sehnige, Nervige, Rassige an sich selber auszubilden sucht, nein, auch die instinktiven Bewegungen der Nase, des Halses und der Schenkel werden ihm mit der Zeit zu eigen. Er trägt den Kopf in edler Haltung, bläht, wenn er sich erregt, die Nüstern, 290 und endlich nimmt sogar das Antlitz den Ausdruck seines Abgottes an, jene milde Regungslosigkeit, die schon der Kavalleriefähnrich über seine Züge legt.

So in Betrachtungen versunken, schlenderte ich den Ring längs der Tribünen auf und nieder, wärmte mich am herbstlichen Sonnenschein und begoß das Pflänzchen »Wurschtigkeit«, das in meinem Herzen blühte. Den Erich hatte ich im Kreise der Sportsleute an der Wage zurückgelassen. Unsere konträren Stimmungen hätten sonst leicht ein Zerwürfnis herausfordern können.

Die Rennen wickelten sich vorschriftsmäßig ab. Pferde von Jockeys oder Offizieren geritten, rasten wie toll vorüber. Das Publikum, gleich einer schwarzen Mauer vor mir, schrie, keifte und hetzte und johlte, wenn die Sache zu Ende war, dem Sieger zu, der dann, stolz wie ein Stierkämpfer, sich begaffen ließ. Meine Augen bestrichen das alles nicht anders als Bilder eines Kinematographen. Da gingen Bewegungen vor, die mich nicht im mindesten berührten, aber aus der bloßen Veränderung der Linien ließen sich gelegentlich hübsche Schlüsse ziehen.

Als eben wieder ein paar Helden unter dem Geheul der Menge durchs Ziel geflogen waren, empfand ich den Wunsch nach einem Erlebnis. Ich zahlte die Milch mit Kognak, die ich zur Abwechslung genossen, und erhob ganz achtlos meine Blicke zur Mitteltribüne, wo 291 die besseren Leipziger Damen ihre Herbsttoiletten auszustellen pflegen.

Doch wer grüßte mich da? Wer nickte mir zu mit der scharmanten Huld eines Backfischs von Welt? – Alice, die selbstverständlich – wie konnte ich das auch vergessen! – jedes Rennen besuchte! Neben ihr die Mama, mit dem Operngucker vor den Augen, hinter ihr Leutnant von Fiedler, der, wie ich, den Hut fast bis zur Erde zog, sehr zeremoniös die Hand zum Mützenschilde führte.

Augenblicklich nahm ich, in mühsam gedämpfter Schnelle, die Stufen, küßte der Mama, die mich gnädig aufnahm, ihre perlgrauen Glacés und stand so überglücklich, so verwirrt vor der geliebten Alice, daß sich der gute Fiedler mit einem Hüsteln erst bemerkbar machen mußte.

Ja, was sollte ich nun anders vorbringen als die Redensarten, die man so auf Lager hat, also: – ob die Herrschaften einen angenehmen Sommer verlebt?

»Ach ja, reizend war es, und herrliches Wetter hatten wir.«

»Und nette Gesellschaft gefunden?«

»Ach ja, sehr nette zum Teil: ein paar Rittergutsbesitzer aus Pommern und dann eine Nichte von Caprivi, denken Sie, eine Nichte vom Reichskanzler! Aber im übrigen . . . nein, diese Juden, diese Juden!«

292 »Wo haben Sie denn heute Ihren Herrn Papa gelassen?«

»Im Geschäft. Zu schade, immer noch hat er im Geschäft zu tun.«

Leutnant von Fiedler, der wahrscheinlich eben erst denselben Dialog genossen hatte, zwinkerte schläfrig mit den Lidern, was ich ihm nicht verdenken konnte, und empfahl sich schließlich mit der erfreulichen Aussicht auf »Wiedersehen nachher«. Er hatte überhaupt etwas Gedrücktes, Unsicheres in seinem Auftreten, strahlte aber plötzlich auf, als Alice ihm ermutigend zulächelte und ihn warnte, er solle sich am Büfett den Magen nicht verderben. Wie sie mir erklärte, besaß er eine Schwäche für alle kompakten Nahrungsmittel.

Wir kamen auf das Rennen zu sprechen, und Alice hatte den Wunsch, sich irgend etwas in der Nähe anzusehen. Die Mama, in eifriger Unterhaltung mit einer Generalin, war zu bequem, um aufzustehen, so daß es mir leicht gelang, Alice allein zu begleiten.

Wie zwei losgelassene Kinder sprangen wir die Stufen hinab. Alice war auf einmal wieder ganz die alte, fragte mich anzügliche Dinge und leuchtete mit ihren vielversprechenden Augen, daß es mich heiß überlief. Ein Übermut befiel mich und eine Sicherheit ihres Besitzes, als ob dieser allzu öffentliche Vergnügungsort mir jederzeit zum Brautgemach werden könnte. Mir 293 war, als gäbe es tausend Zauberformeln, von denen eine, ihr ins Ohr geflüstert, genügen müßte, sie mir gänzlich zu unterwerfen.

Plötzlich jedoch nahm ihr Gesicht einen nachdenklichen Ausdruck an. Über dem Näschen zeigte sich eine dünne, senkrechte Falte, die Lippen öffneten und schlossen sich zaudernd.

Ich fragte:

»Sie haben eine Neuigkeit für mich?«

»Ja, freilich eine Neuigkeit, aber gegen Sie.«

»O?« Jetzt schwante mir schon das Unheil.

»Nun, Sie können es sich doch denken.«

»Wie? – Bereits geschehen? – Offiziell?«

»Noch nicht. Aber in den nächsten Tagen.«

»Und wer ist der – Unglückliche?« Das Scherzen strengte mich an. War doch ein verteufelter Schlag für mich.

»Der, den Sie eben sahen,« antwortete sie – wie ich zu bemerken glaubte, mit unterdrückter Heiterkeit.

»Dieser . . .? Aber, um alles in der Welt, wie ist das möglich! Und dabei macht der Kerl noch solch ein schafiges Gesicht.«

»Dazu hat er allen Grund. Ich bin nämlich noch tief in der Bedenkzeit drin. Übermorgen läuft die Frist erst ab. Nun, was raten Sie mir? Soll ich ihm ja sagen?«

»Das werden Sie wohl ohnehin tun.«

294 »Und warum auch nicht?«

»Solch ein . . .! solch ein Idiot . . . solch eine Kommißpflanze!«

Alice brach in ein helles Gelächter aus. Das wirkte erlösend und steckte mich an.

»Was wollen Sie denn?« rief sie. »Er ist zwar kein Kirchenlicht, aber ein ganz tüchtiger Frontoffizier. Ich hab' mich bei seinen Kameraden danach erkundigt. Bis zum Obersten wird er's wohl noch bringen; na, und mehr will ich gar nicht. Er ist gut, brav, zuverlässig, bescheiden und gefällig, also der beste Ehegatte, den man sich vorstellen kann. Damit sollten Sie doch besonders zufrieden sein. Oder möchten Sie mich lieber mit einem feurigen Liebhaber oder mit einem alten Roué verheiraten?«

»Alice, freveln Sie nicht; das natürlich noch viel weniger! Nur eines sagen Sie mir: graut Ihnen denn nicht ein wenig vor den . . . wie soll ich sagen? – vor seiner – Leidenschaftlichkeit?«

»Pfui!« flüsterte sie, errötete und lachte.

Wir hatten ganz vergessen, uns das von Alice bezeichnete Rennpferd in der Nähe anzusehen und wandelten statt dessen auf dem Dammweg, wo nur fremdes Publikum sich staute und niemand uns behorchen konnte.

Nun war ich durch jene Eröffnung, die mir eigentlich nicht überraschend hätte kommen dürfen, wieder einmal 295 aus allem Gleichgewicht gebracht. Doch blieb ich so weit meiner Herr, daß ich an den einzigen grimmigen Gedanken mich klammerte: nichts verloren geben!

»Liebst du ihn?« fragte ich, wie aus alter Gewohnheit.

Sie wendete das Gesicht schnell nach der anderen Seite und dann schnell wieder her zu mir, während sie unter den gesenkten Lidern hervor mich anblitzte. Das sollte wohl Schütteln des Kopfes, Verneinung bedeuten. Ich streifte mit leisem Drucke ihre Hand, die neben der meinen niederhing, und mir war ganz so, als ob sie diesen Druck erwiderte.

Und nun geschah etwas, das ich mir nimmermehr zugetraut hätte, weil es dem Wesen meiner letzten zehn Jahre direkt zuwiderlief: eine Sturmflut tobender, unergründlicher Gefühle raste über mich hin und schwemmte alle klüglichen Erwägungen, alle Berechnungen, Bedenken und Vorgänge meines wohldurchleuchteten Bewußtseins mit sich fort. Durch irgendeine seltsame Verknüpfung seelischer Fäden fühlte ich mich zurückversetzt in die glühendsten Stunden meiner Knabenjahre. Ich liebte drauflos wie ein unvernünftiger Junge und begehrte ganz naiv und ganz gewöhnlich wie der erste beste Bauernbursche, ohne mich zu belauschen oder mit kleinen Empfindungen zu experimentieren. Was so plötzlich mit mir vorging, weiß ich heute so wenig wie damals. Es kam eben über mich, ein 296 Komplex dunkler Instinkte: Leidenschaft, zu besitzen, Mut, zu erobern, Haß gegen den Rivalen und Seligkeit des physischen Vermögens. Und endlich, nicht zum wenigsten: daß es sich jetzt um die Gesamtheit eines Menschen handelte, der mir gehören sollte, nicht nur um eine wässerige Freundschaft oder um Stunden eines Leibes.

Mit durstigen Blicken sog ich, wie sie dahinschritt, die wechselnde Grazie ihrer Bewegung, das Spiel der Linien in mich auf. Es brannten vor mir die Farben ihres Fleisches, das Rosenrot der Wangen, das Elfenbein ihrer ach! niemals entschleierten Statue. Ihre Stimme liebkoste mich, wiewohl sie schwieg; der Duft ihres nahen Blutes stieg mir zu Kopf wie süßer Wein, und tausend Kostbarkeiten, deren Art man nicht ausdenken darf, steigerten meinen Rausch zur Verzückung.

Zum erstenmal entdeckte ich in ihr das Weib, nichts als das Weib; weder Spielzeug noch Gefährtin, sondern einzig die gemeine, die natürliche und so übermächtige Gattung, das mir zugehörige Geschlecht. Doch lag dessen Zauber nicht sowohl in den Verlockungen der Form und ihrer Zwecke als in dem Urquell vom innersten Wesen der Geliebten, in der ihr eigentümlichen Kunst, mit mädchenhafter Torheit anmutig zu erscheinen und durch lüsterne Sehnsucht im Glanze müheloser Keuschheit mich zu berücken.

297 »Wenn du jetzt bei mir wärest, Alice . . .!«

Das sprach ich ihr ins Ohr; doch unmerklich, fast wie Seufzer kamen mir die Worte. So reich an Kräften fühlte ich mich nun – dabei so elend!

Sie blickte mit verschleierten Augen flüchtig zu mir auf. Ein fremder, ängstlicher Ausdruck war darin, der mich verwirrte und zu sinnlosem Vorwärtstasten stachelte.

»Nur ein einziges Mal noch möcht' ich dich bei mir haben! Jetzt merk' ich ja erst, wieviel wir uns noch sagen müssen und – wie viel ich dir abzubitten habe. – Ach, Alice, Liebste, was weißt du denn eigentlich von mir . . .? ein paar Zärtlichkeiten, ein paar Redensarten . . . und sonst? – Wie es eigentlich in mir aussieht und vor allem – was du mir bist, das hab' ich dir ja niemals zeigen können . . . ich glaube, weil ich mich selber nicht kannte. – Aber wenn du jetzt, nur dies eine Mal noch, zu mir kommen wolltest . . .! Glaub' mir, ich habe nicht mit dir gespielt. – Ich habe dich lieb, ich habe dich lieb, lieber als alles auf der Welt!«

Aber noch immer schwieg sie, die Augen vor sich nieder auf den Sand geheftet. Mit ruhig gleichmäßigen Schritten ging sie neben mir her. Nichts verriet ihre Gedanken; nur ein schwaches und, wie mir schien, gar bitteres Lächeln lag um ihre Lippen. –

Das Glockenzeichen zum Beginn des nächsten Rennens ward gegeben. Die Menschenmassen vor uns 298 gerieten in lebhaftere Bewegung. Alle eilten und drängten nach ihren Plätzen. Von diesem Anblick wurde ich baldigst wieder nüchtern.

»Wir müssen uns beeilen,« sagte Alice, »was soll Mama nur denken . . .!«

»Und er! nicht wahr? – Er ist wahrscheinlich längst von der Eifersucht geplagt?«

»Ach wo!« – Sie lachte leise vor sich hin. »Dazu ist er viel zu verständig und auch zu bescheiden. – Übrigens,« fügte sie boshaft hinzu, »Ihnen gegenüber hat er nicht die mindeste Veranlassung.«

Noch versuchte ich, irgendeine tröstende, verheißungsvolle Andeutung von ihr zu erhaschen. Doch verschloß sie sich hartnäckig. Ihre Zähnchen biß sie aufeinander, daß es knirschte. – So brachte ich sie unbeschädigt der Mama zurück.

Die Mama, welche in die Absichten des Herrn von Fiedler augenscheinlich noch nicht eingeweiht war, fand an unserem Ausflug nichts Besonderes. Wiederholt versicherte sie mir, wie leid es ihr getan, daß ich bei meinem Besuche sie nicht angetroffen; sie hoffe indes, mich demnächst einmal bei sich zu sehen. Voll übermäßiger, diesmal echter Dankbarkeit verbeugte ich mich aufs tiefste und ging davon, Alice im Herzen.

Unten, am Ring, bemerkte ich Erich in der Nähe, der sich eben auch von einer Dame verabschiedete, von einer 299 üppigen Dreißigerin, die ihn an Kubikinhalt sicher noch übertraf. Hinsichtlich ihrer Robe und ihres Federhutes war sie, wie man zu sagen pflegt, reichlich aufgedonnert. Ihr volles, dunkelrotes Gesicht hatte sie stark gepudert, und bis unter meine Nase ließ sie eine Atmosphäre von Ylang-Ylang wehen. Erich hatte schon öfters den Hut gelüftet und ihr die Hand geschüttelt, wurde jedoch von ihrem Redestrom festgehalten. Dabei flackerten ihre hervorquellenden Glutaugen nach seiner Gestalt als zwei keineswegs lautere Flammen.

Nachdem er sie endlich ziemlich brüsk verlassen, schlich er sich mit verlegener Miene zu mir heran.

»Eine Badebekanntschaft aus Ostende,« erklärte er.

»So, so!«

»Frau Heinemann. – Ich glaube, ich schrieb dir schon davon: die Witwe des vereideten Maklers.«

»Ganz recht. – Stolze Erscheinung! Was tut sie denn hier?«

»Sie ist auf ein paar Tage von Berlin herübergekommen, Verwandte zu besuchen.«

»Wie es scheint, hast du Eroberung an ihr gemacht.«

»Vielleicht. – Übrigens ist sie ganz amüsant; interessiert sich für alles mögliche. Da kommt ihr jede Halbbildung gerade recht. Nur allzu anhänglich – und mit ihrer Leidenschaftlichkeit wird sie geradezu lebensgefährlich.«

300 Er lachte, gähnte und rollte sich dann verdrießlich eine Zigarette. Für die Pferde, die soeben liefen, war seine Teilnahme erloschen. »Der Große Preis der Stadt Leipzig« langweilte ihn jetzt nicht weniger als mich.

»Fahren wir nach Hause?« fragte er.

»Fahren wir!« antwortete ich mit Vergnügen.

Darauf pfiff er seinem Groom, und in sausendem Trabe ging es zurück in die Stadt.

Auf eben dieser Heimfahrt lud mich Erich in aller Form zu seiner Sterbestunde ein:

»Es soll noch,« sagte er, »ein recht intimes und vergnügtes Fest werden. – Sonntag, den dreiundzwanzigsten November, wenn ich bitten darf.«

»Entweder bist du schon ein kompletter Narr,« antwortete ich ärgerlich, »oder du willst mich selber zum Narren halten.«

»Daß ich der Narr bin, ist schon möglich. Na, um so eher wird es mir gelingen. Oder meinst du etwa, ich sollte dann mit meinen Kenntnissen betteln gehen? Wie stellst du dir ein Leben vor, wenn die letzten Kröten ausgegeben sind? Soll ich mich denn wirklich bei der Anwaltskammer bemühen oder bei der Feuerversicherung ›Teutonia‹? – Wie?«

Er kicherte hämisch vor sich hin, während er zugleich von seinem Pferde kein Auge wandte und mit beiden Händen krampfhaft die straffen Zügel hielt.

301 Ich muß gestehen, mir ward doch unheimlich zumute. Der Ernst seiner Entschließung war nicht zu bezweifeln, und was das schlimmste war, im Grunde mochte deren Ausführung das beste für ihn sein.

»Bin ich denn der Einzige, der dir zu diesem ›Feste‹ Gesellschaft leisten soll?«

»Eine kleine, aber erlesene Gesellschaft hab' ich mir ausgedacht; Leute, die den Hautgout der Stunde zu würdigen wissen.«

»Ob das gerade sehr behaglich wird . . .? Weißt du, ich für mein Teil . . .«

»Du wirst mich doch nicht im Stiche lassen?«

Ich überlegte es mir. Wenn ich mich ausschloß, was war damit gebessert? Und, offen gestanden, ich war auf den Ausgang der Sache gespannt. Zur Not – pfui Teufel! – zur Not konnte ich Beistand leisten.

»Ich nehme mit verbindlichstem Danke an,« antwortete ich, »zumal ich überzeugt bin, daß du uns angenehmere Überraschungen bieten wirst als deine – Auflösung.«

Wir waren vor meiner Wohnung angelangt, wo Erich hielt und mich absetzte. Er reichte mir von seinem Sitze aus zum Abschied die Hand, die sich feucht und schlaff anfühlte, und mit einem wahrhaft diabolischen Grinsen rief er mir nach:

»Verlumpt und verludert will ich sein, wenn ich diesmal nicht halte, was ich mir versprochen habe.« –

302 Gedankenlos starrte ich dem Wagen nach, bis er an der Straßenecke verschwand. Ein häßliches Gefühl, von dem ich nicht wußte, war es Grauen, war es Widerwillen, beschlich und betäubte mich. Dann wischte ich mir die Finger, als wären sie besudelt, am Taschentuche ab, trällerte vor mich hin die Melodie eines Volksliedes und ging hinein, an meine Bücher.

Die Zahl dieser gelehrten Bände nahm jetzt fast täglich zu. Ein Heißhunger nach Erkenntnis hatte mich wieder ergriffen, noch heftiger fast als in jenen Sekundanertagen, wo mir die Autoritäten zum erstenmal zweifelhaft wurden. Doch wie anders ging ich jetzt zu Werke! Wie vorsichtig baute ich auf dem Boden meiner radikalen Skepsis, aus den Trümmern alter Spekulationen jetzt das bescheidene Gebäude der Erfahrung auf! Wie liebevoll trug ich jedes Steinchen einzeln herbei! Wie ängstlich gab ich acht, daß eins sich richtig ans andere fügte und dem nächsten Zwecke nicht widersprach!

Ich betrachtete mir den Menschen, wie er als Individuum und als Typus denkt und handelt, auf Grund welcher Gesetze, welcher Lebensbedingungen, ob mit oder ohne Bewußtsein. Allmählich nahm das Spiel die Züge des Ernstes an. Ich empfand das Bedürfnis, tiefer einzudringen, exakt und historisch vorzugehen, Fehlgriffe und Wiederholungen zu vermeiden, kurz ich trieb auf die Wissenschaften zu.

303 Bald konnte ich nicht mehr umhin, mich mit der Anatomie und den Funktionen des Gehirns vertraut zu machen. Ich ging zur Universität und hörte dort die Vorlesungen von Flechsig, die ›Psychologie« von Wundt. Und diese wieder setzten den Präparierboden voraus, dem ich mich nun gleichfalls unterzog. So folgte ein Studium dem andern. Mit großer Genugtuung sah ich mich mehr und mehr beschäftigt. Keine Stunde blieb mir übrig zur Langenweile oder Selbstbespiegelung. Und wenn ich satt war von den trockenen Abstraktionen der Vorträge und Kompendien, zog es mich wieder hinaus zu den lebendigen Objekten meiner Arbeit. Überall wo das merkwürdige Versuchskaninchen Mensch sich zu versammeln pflegt, stellte ich mich ein, an Stammtischen, im Theater, in Volksversammlungen, in Soireen; ich plauderte mit Schülern, mit Bettelweibern, mit Soldaten und Backfischen, und nirgends ging ich davon, ohne für meine Hefte der Beobachtungen einen oder zwei neue Sätze gewonnen zu haben. Auch auswärtige Milieus suchte ich gelegentlich auf: ließ mich auf einige Zeit nach einem Rittergute laden, mietete mich dann wieder zwei Wochen lang in der typischen Kleinstadt Döbeln ein, lernte, unter dem Vorwand, im Ratsarchive Chroniken zu lesen, die Honoratioren kennen, kneipte mit ihnen und vivisezierte sie in der Häuslichkeit samt ihren drolligen Frauen und 304 Töchtern. Durch Vorlegung ihnen nicht geläufiger Fragen stellte ich den Grad der Begriffsstutzigkeit fest und legte darüber eine Skala an, die nur weiterhin bei rein physiologischen Untersuchungen wieder gute Dienste leistete. –

* * *

Bei meiner Rückkehr nach Leipzig fand ich in einem von Alice adressierten Kuvert ihre Verlobungsanzeige vor. –

Also doch!

». . . beehrt sich ganz ergebenst anzuzeigen

Arthur von Fiedler,      
Leutnant im 107. Inf.-Regt.«

Nun war der Würfel gefallen. – Sie würde niemals mehr verschleiert durch meine Türe treten, niemals mehr auf meinem Divan sich ausstrecken oder mit den schimmernden Händchen in meinem Schreibtisch wühlen. – Abermals ein Brocken zur Erinnerung und eine freundliche Gewohnheit weniger! – Weit quälender aber trat jetzt die Vorstellung auf, daß sie jenem nichtigen Burschen mit Brief und Siegel verschrieben, mit allen Gerechtsamen an ihn verkauft werden sollte, zu beliebiger Benutzung. Wie bald würde er sie zu sich herabgezogen haben in den Dunstkreis seiner Soldatenwirtschaft, seiner bedürfnislosen Beschränktheit! – Und ich! – Ich würde ihre Episode bleiben!

305 Das kostete schlimme, grüblerische Tage, fiebrige Nächte, in denen Visionen der Gewährung abwechselten mit Tränen der Eifersucht und der ohnmächtigen Wut. Zu meiner Arbeit, meinen Wanderungen war mir die Lust vergangen. Wie so oft ein einziges Wort, ein bloßer Einfall genügt hatten, mich aus der Bahn zu werfen, so schien es auch diesmal, als ob die an sich so nebensächliche Anzeige meine junge Lebensfreude mir vergällen könnte.

Doch ein anderer tröstender Gedanke gewann langsam das Übergewicht: daß ich sie ja doch wiedersehen würde, sogar in nicht allzu langer Zeit, daß überdies die Dinge noch im Stadium der Entwicklung standen. Damit verlor mein gegenwärtiger Kummer an Sinn und Wichtigkeit. Ich kehrte zum regelmäßigen Tagewerk zurück und freute mich sogar nachträglich an der unvermuteten Hitze meiner gekräftigten Empfindungen.

Nur einen Stachel wurde ich nicht los: das Bewußtsein meiner verlassenen Lage, ein oft bis zur Sehnsucht gesteigertes Bedürfnis nach Zärtlichkeit und Lebensgemeinschaft. Alice war die letzte gewesen, die wirklich, wenn auch nur für kurze Zeit, ganz in mir aufgegangen war. Und ich brauchte immer ein menschliches Wesen, das ich ganz beherrschen mußte, um mich in wärmster Neigung zu ihm sonnen zu können.

306 So kam es, daß ich mich häufiger fragte, warum eine Ehe mit Esther unmöglich sein sollte.

Gerade in diesen Wochen trat noch ein Umstand dazu, der das Ziel mir näherte. Gottfried begann zu kränkeln. Er durfte das Zimmer nicht mehr verlassen. Bei meinen Besuchen fand ich ihn jedesmal schwächer und regungsloser. Bis ich eines Tages von Tönnies erfuhr, der Arzt hätte ihn direkt für einen Phtisiker erklärt, der kaum mehr lange zu leben habe. Esther schwieg darüber. Nur war zu bemerken, daß sie mit doppelter Sorge um ihn beschäftigt blieb, öfter als sonst ihm das lockige Haar aus der Stirne strich, die sie dann leise küßte. Gottfried selbst bemerkte schon nichts mehr von dem, was um ihn vorging. In sich zusammengesunken lag er in den Kissen, auf die man ihn bettete. Auch sein Gesicht veränderte sich nicht mehr. Ein lächelnder Friede war in den erloschenen Augen und um die feinen, halbgeöffneten Lippen.

»Glauben Sie nicht, daß er leidet?« fragte ich die Schwester gelegentlich.

»Nein,« antwortete sie mit einer fast glücklichen Überzeugung. »Kein Fünkchen von Bewußtsein stört ihn mehr. Jetzt können wir wohl bereits sagen, daß er erlöst ist, nicht anders als ein Verstorbener.« 307

 


 


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