Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

22.
Ein Liebespaar

Als in einer schon vergangenen Stunde, die Straße ganz vereinsamt, Melusine vom Trittbrett ihres Wagens sich nach ihrem Begleiter umsah – was geschah da? Kein vielfältiger alter Sänger kam in Sicht, weder sein Lächeln voll Wohllaut noch seine schmerzlichen Hintergründe. Das nicht; dennoch wurde die bedürftige Schönheit sanft auf ihren Platz gezogen von dem Mann, der hinter ihr eingestiegen war und schon am Steuer saß.

Sie bemerkte ihn erst, nun es für ein Erschrecken zu spät war. Erschrickt man auch vor Arthur? Sie war nur überrascht genug, um sogleich du zu sagen. Das ergab sich sonst erst im Verlauf der Geschäfte.

»Was hast du denn? Ich kann allein fahren.«

»Mit so viel Geld?« fragte er, kurz angebunden, und startete schon.

»Geld?« Sie wußte wirklich nicht, was er meinte. Sie kam aus der betäubenden Wehmut ihrer Szene mit Tamburini. Sie mußte zurückfinden in die Welt der Existenzkämpfe. Die Kämpfe ihres Herzens waren nicht die einzigen, sie sah es ein. Nur den Augenblick, sich zu besinnen, lasse man ihr!

Vielleicht erkannte Arthur, daß sie zu schonen sei. Vielleicht ergriff er mehr aus Eifer das Wort statt ihrer. »Du wirst doch nicht –? Nein. Alles in Ordnung. Deine Handtasche ist gebauscht, das Paket paßte gerade hinein.«

»Du bist unterrichtet«, sagte Melusine, scheinbar nachlässig; indessen beeilte sie sich ihren paillettierten Beutel abzutasten. »Alles in Ordnung«, wiederholte sie. »Ich hätte auch nicht verstanden –.«

Er unterbrach schroff: »Man versteht nachher, wenn das Unglück geschehen ist. Nolus steckte dir den Umschlag mit den Schecks zu, in der Nähe aber stand Poulailler.«

»Poulailler hat aufgepaßt?« fragte sie, endlich erschrocken.

»Wer sonst? Nicht du. Du hättest schwerlich sagen können, was Nolus dir gab. In das Kabinett mit dem Maestro, war dein einziger Gedanke. Mit Nolus stand es nicht besser. Seinetwegen hätten drei Gentlemaneinbrecher zusehen können, ihm war allein daran gelegen, die Schecks bei dir aufzubewahren, damit er selbst sich hinauf verfügen konnte.«

»Wohin?«

»Zu meiner Haushälterin.«

»Mit der du schläfst?«

»Ich war überflüssig. Poulailler und Nolus genügten ihr.« »Gleichzeitig?«

»On le dirait, und begreift auch, daß unser Freund sich zuerst der Schecks entledigen mußte. In einem Raum mit Poulailler und schwach bekleidet, wer schützt die Taschen?«

»Erzähle doch!« verlangte die angeregte Schönheit.

»Ich schlief«, sagte Arthur und fuhr schneller, die leeren Straßen erlaubten es. Sie waren schlecht beleuchtet, es dämmerte noch nicht. Aufmerksamkeit empfahl sich.

»Wenn du schliefst, wieviel kannst du wissen«, bemerkte sie unbefriedigt.

»Geduld, es wäre nicht richtig, in die Marktwagen hineinzufahren, obwohl die frischen Gemüse gut riechen.«

»Du scheinst wirklich ausgeschlafen.«

»Ich brauche keinen Schlaf, du solltest mich kennen. Aber ich begreife es selbst nicht, was mit mir vorging, als ich mich vor das abgegessene Büfett setzte und frühstückte. Gähnender Menschenmangel, die indirekte Beleuchtung zwinkerte. Ich war noch gegenwärtig genug, daß Nolus mir auffiel.«

»Was fiel dir auf?«

»Seine Anwesenheit.«

»War er nicht verabredet?«

»In der zweiten Etage war Poulailler ihm zuvorgekommen. Nolus wieder hatte vorgegriffen und Schecks eingesammelt.«

»Von deinen Gästen? Das war unzart.«

»Von sämtlichen Präsidenten, ihre Zeichnungen für das Opernhaus, die Beträge ihrer Steuerflucht, ihre Hinterlassenschaft, wenn sie abreisen.«

»Jetzt beunruhigst du mich. Arthur, warum extrem? Man reist nur teilweise ab, aus der Welt ist niemand, und sie geht weiter.«

»Sie empfängt weiter? Ich möchte dir erklären, in welchen Zustand ihr letzter Empfang mich schließlich versetzt hat. Ich war am Ende.«

»Womit? Wir sind schon mit allem am Ende gewesen und treiben es noch.«

»Hast du Halluzinationen? Melusine, ernstlich gefragt, siehst du Präsidenten, wo keine mehr sind? Alles hat sich verabschiedet, ich frühstücke, ein Anfall krankhafter Eßlust, und glaube mich umringt von zahlungswilligen Kunden: sie warten, bis es mir beliebt. Das heißt, mein Bewußtsein war getrübt.«

»Du hattest eine leichte Ohnmacht. Ich wundere mich, aber beim anderen befürchtet man nie, seine Nerven könnten versagen. Deine fünfzig Jahre melden sich. Achtung auf den Radfahrer! Du weißt, daß du die Chaussee zur Rechten nimmst.«

Sie schlug auf ihre geschwellte Handtasche.

»Ein Glück, mein Lieber, daß Nolus dich rechtzeitig vertreten hat. Berechtigt war er eher mehr als weniger. Du bist nicht die Bank, nur die Agentur.«

»Hoch beteiligt«, stellte er fest, und gleich weiter mit dem Akzent der Überzeugung: »Möglich, daß mir, oh, vorübergehend, die Augen zufielen. Dennoch entgingen mir keineswegs die beiden Kinder, die auch noch übrig waren.«

»Unsere Kinder?« fragte sie schwach. Es ist nicht gesagt, daß Melusine hier zum erstenmal der verlassenen Stephanie gedachte. Bedrängt von ihrem Versäumnis war sie erst jetzt.

»Glaubst du –?« begann sie, ohne Fortsetzung.

»Diese Generation? Keine Sorge, sie handelt niemals, wie wir es getan hätten. Rein und ihrer Gesinnung froh, saßen sie nebeneinander, und hinten beim Klavier heulte eine unzüchtige Alte.«

»Dein Zustand hat dir erlaubt, dies und das zu bemerken.«

»Mein Kleiner erwartete, daß ich sein Zimmer aufsuchte. Darum ging ich hinein – nicht um zu schlafen, wie die liebe Unschuld meinte. Völlig erwacht und ernüchtert, widmete ich mich den Geschäften.«

»Man kann sagen, daß es Zeit wurde.«

»Vom Traum umfangen muß ich schon gewesen sein, als Nolus dir das Paket zusteckte. Ich hatte mir nichts dabei gedacht, nicht einmal, es könnten die Schecks sein. Erst in dem verdunkelten Zimmer kehrte mir die Besinnung zurück, überfiel mich der Verdacht. Poulailler hatte dabeigestanden.«

»Du hattest ihn eigens eingeladen«, sagte sie mit deutlicher Ironie. »Seit gestern handelst du fortwährend mit esprit d'à propos. Zum Beispiel, als du noch einen Versuch bei Stephanie machtest, zwei Minuten bevor sie sich mit André verlobte. Ich weiß selbst nicht, woher ich es habe. Du scheinst eine Berühmtheit zu sein, mein armer Freund.«

Da ließ Arthur auf jede Gefahr hin das Steuerrad los und umarmte Melusine. »Du bist eifersüchtig auf deine Tochter« – diesem Ausspruch folgte ein ersticktes Schluchzen. »Du – sentimental und taktlos«, sagte sie, ohne ihn abzuwehren; aber auch keine Erwiderung erfuhr seine Liebe.

»Mußt du deshalb vornehm und gefühllos sein? Nein, sei eifersüchtig!« bat er zart, während er seine feste Hand an das Rad legte. Ihr entging weder dies noch das, seine Stimme, sein Griff. Ihr war es, als wäre sie geborgen, und wann ist man das.

Im Fluge wiederholte sie die abgetane Nacht der unendlichen Redensarten, was aber geschah, war Geschäft und roh. André – hatte sie ihn auffallend begehrt, ihn veranlaßt, sie zu beleidigen? Sie leugnete es. Poulailler und Tamburini, in demselben Gedanken nannte sie beide: den großen Unterschied mochten sie selbst sich einbilden. Tatsächlich hatte der eine sie auf der Stelle haben wollen, der andere hatte sich davor gedrückt, sie aufzunehmen, zu bewahren.

Als sie allein und verlassen in ihren Wagen stieg, war pünktlich einer da! Aus Sorge um sie und ihre Handtasche, gewiß, wir sind keine Sechzehnjährigen. Der einzige, wenn Melusine alles überdenkt, der einzige Mann, der sie verdient, ist Arthur! Sie rührte sich nicht, um nichts zu verraten. Er selbst versäumte nicht, ihr seinen Wert zu rühmen.

»Über Poulailler denkst du zu leicht. Einen Überfall auch auf dich habe ich schon verhindert.«

»Was du sagst!«

»Als ich das Zimmer meines Sohnes verließ, um nach dem Rechten zu sehen –«

»Nach meiner Handtasche.«

»Nach ihr und dir – da überraschte ich ihn vor der Tür des Kabinetts.«

»Er irrte sich. Er wollte eine Treppe höher.«

»Ich habe ihn mit einem Fußtritt hinaufbefördert.«

»You damned lier«, erwiderte sie; der zärtliche Ton war diesmal bei ihr. Er sagte ernst:

»Wenn ich ihm doch ein großes rotes Halstuch abgenommen habe! Er hatte es als Knebel geschlungen, deinen armen kleinen Beschützer hätte er damit für den Augenblick still gemacht. Wo habe ich es?« Er tat, als suchte er. »Laß!« Sie neigte sich hin und küßte ihn, nicht auf die Lippen, aber in den Mundwinkel.

Er nahm es für geschuldet, blickte überaus wach geradeaus und fragte nur: »Wetten?«

»Was denn, mein kleiner Schuljunge?«

»Daß Poulailler sich nicht zufriedengibt, sondern noch einen Angriff macht auf deine Handtasche.«

»Ich wette, was du willst.«

»Wer verliert, muß den anderen heiraten.«

»Das heißt, auch der andere muß.«

»Müssen wir denn nicht?« fragte er zurück und sah sie an.

»Das war dein Antrag«, sagte sie und wollte übermütig lachen.

Indessen kamen sie an und sollten nicht mehr lange fröhlich bleiben. Die Villa, weiß, eine Etage, aber ausgedehnt, mit italienischem Dach und Gärten oben wie unten, empfing zwischen glitzernden Bäumen einzelne Flächen von Mondlicht. Hinter den Fenstern war es dunkel. Die Durchfahrt nach der Garage führte auf die Schattenseite; hier drang aus einem der flüchtig angezogenen Läden ein Schimmer. »Du wirst erwartet. Schon deine Tochter?« fragte er, merklich beunruhigt. Sie begriff: In diesem Augenblick, mit Rücksicht auf gewisse vorige, die ihn und Stephanie betrafen, wünschte er keine Begegnung. Eine Wunde wurde in ihr berührt. Es ist Eifersucht, bemerkte sie, ging aber alsbald darüber hin.

Es fehlt noch, dachte sie, daß ich dem Kind die Schuld an meinen Verlegenheiten gebe! Wo war mein mütterliches Gefühl, als ich abfuhr und sie im Stich ließ? Mit Tamburini ging ich noch im Traum. Dann stieg aber Arthur zu mir ein, ich hätte ihn schicken können, sie zu holen. Ich wollte nicht, in der Absicht offenbar auf diese Absonderung mit ihm – die mir nicht verziehen wird, dachte sie abergläubisch.

Ihre Antwort verspätete sich. »Meine Tochter, woher sollte sie kommen? Sie ist in einem schlimmen Haus, dem deinen! Hast du nicht fürchterliche Vorgänge angedeutet?«

Er erbot sich, sofort umzukehren. »Ich bringe sie tot oder lebendig«, sagte er.

»Keine Redensarten mehr!« bat sie. »Es scheint ernst zu werden. Wenn ich wüßte womit.«

»Das erfährt man früh genug«, entschied er trostreich, nur bedacht, sie am Arm, an ihrem schönen Arm, und um den Rücken, ihren prachtvollen Rücken, die Treppe hinauf zu stützen. Auf einmal verriet sie ihre Müdigkeit. Sie lehnte sich schwer an ihn, zog die Füße nach, hörte ganz auf, sie zu heben, ihm blieb nur übrig, die Hand unter ihre Schenkel zu legen. Er trug sie, er konnte es: das hatte sie wissen wollen.

»Woran denkst du jetzt?« flüsterte sie, das Gesicht nach oben gewendet, ihr Kopf lag auf seiner Brust.

»Daß ich den schönsten Körper der Stadt trage«, sagte er sonor, mit freiem Atem.

»Und nicht den leichtesten. Ich bewundere dich.« Dies, während sie zwei Finger unter sein Frackhemd schob. Er begriff, ließ sie nieder auf die Stufe, die er gerade nahm, und tat nach ihrem Willen. Einige Schritte weiter, sie hätten die weichste Gelegenheit gehabt. Auf der harten Treppe sollte es sein! Sie schloß die Augen, sie fürchtete, etwas zu sehen, die Nummer eines Sitzplatzes, fünfundvierzig stand darauf. Nein, nichts. Nur lieben fühlte Melusine sich, wie mit zwanzig. Groß schlug sie ihre hellen Augen zu ihm auf.

Drinnen fanden sie ein matt beleuchtetes Zimmer, und vor dem Divan einen gedeckten Tisch. »Meine Dienerschaft weiß, daß ich niemals gleich schlafen gehe und noch Appetit habe«, erklärte sie, schon wieder begehrlich in seinen Armen gebettet.

Dumm wie ein Mann fragte er: »Das zweite Kuvert war schon vorgesehen?«

Sie antwortete nicht; natürlich hätte es Stephanie gehört. »Ich habe es um den Magen zu eng«, sagte sie unbefangen. »Komm, du darfst mir helfen.«

Sie führte ihn durch ihr Boudoir; räumlich war es auf ihre einzige Person zugeschnitten, und eingerichtet nur zum Liegen. Hier im Halbdunkel hielt sie noch einmal an, um sich küssen zu lassen und zu fragen: »Bist du vorbereitet?« »Den schönsten Körper der Stadt zu sehen«, bestätigte er höflich.

Langsam ließ sie ihn los: dieser Grad von Begeisterung befriedigte sie nicht. Wäre er sein Sohn gewesen –. Sie unterdrückte den Gedanken. Nur nicht erfahren und zugeben, warum sie statt anderer, die ausgeblieben waren, plötzlich ihren Begleiter von lang her genommen hatte! Die Angst vor Tores Schluß kam nicht in Frage, davon wollte sie ihn und sich alsbald überzeugen durch Augenschein. Welche Angst dann? War ihr doch beklommen um den Magen.

Sie vertagte die Aufklärung, für immer hoffentlich. Bis in ihr Ankleidezimmer gelangte kein Licht mehr, dort war schlechthin Nacht. »Der Schalter ist neben dir«, sagte sie, möglichst unbestimmt, und ließ ihn suchen. Diesmal war er klug, er gab ihr die Zeit, die sie brauchte.

Es wurde Licht und sie stand da – keine Statue klassischer Herkunft, wegen welches besonderen Teiles sie berühmt sei, gewährt so sehr die sämtlichen Versprechungen des Glückes. Es war ein ganz einfacher Anblick, der Betrachter stellte es fest, nicht ohne Ergriffenheit: der bekannte Menschenleib in weiblicher Gestalt, seine einzige Abweichung: er hat keinen Fehler.

Die anderen werden an ihren Fehlern unterschieden; sie selbst bezeichnen sich auf die Art. Ihre Büste sei gut geblieben, sagen sie; von einer Einzelheit können sie es sagen. Oder: meine Beine sind schlank, wie sie waren. Um so schlimmer, das übrige ist es nicht. An Melusine fiel nichts auf. Die Vollkommenheit ist das Selbstverständliche, nur daß sie nicht vorkommt. Als Arthur von ihr durchdrungen war, wirklich erst nach ernster Prüfung, kniete er hin.

Sie ließ es geschehen, aber sie wendete den Hals. Sie fühlte, daß diese Anbetung Größerem bestimmt sei als nur ihr. Außerdem ist Anbetung zu ungewöhnlich, um nicht wie eine Kundgebung auszusehen, einbegriffen die Selbstüberwindung und die künstliche Steigerung, die man sich für ein größeres Publikum wohl abgewinnt. Hier sind zwei Personen und scheinen einander nicht zu kennen.

Melusine, um darstellerische Haltungen unbesorgt, hat am ausgestreckten Arm die Hand auf eine der Spiegelscheiben gelegt; sie ist von ihnen umgeben. Sie stützt sich, weil es ihr um die Magengegend schwer ist. Sie möchte lieber hinsinken, wo Arthur schon liegt. Den Hals gewendet, blickt sie in das Glas, das ihren Schein einem anderen Glas zuwirft, dieses wiederum einem, bis alle, voneinander vervielfältigt, der schönen Melusine voll sind. Vorn die genaue Plastik, zuletzt – aber es gibt kein Zuletzt – ein Lichtgewebe.

Wenn sie früher den Anblick aufgesucht oder ihn mit Fleiß beachtet hat, bedurfte sie meistens eines Trostes, für schlechte Geschäfte oder auffallende Heiserkeit. Eine Bemühung wie diese, zugunsten einer zweiten Person, ist nicht vorgekommen. Ihre vergangenen Liebhaber hätten es nicht gelohnt. Manches andere, aber zufällig nicht gerade dies. Hingegen auf Arthur trifft es zu? Doch. Sie überzeugte sich auf dem Wege mehrfacher Reflexe, daß er sie betrachtet wie sie, in ihren Schicksalsstunden, sich selbst. Nicht das Fleisch: das sieht er nicht, wie sie wissen will; riecht es nicht.

Er späht in die Ferne, nach dem Punkt der unendlichen Gestaltung, wo sie anfängt, wesenlos zu werden, unirdisch, obwohl dies zuviel, oder zuwenig wäre. Dort drüben verliert, in Schimmer und Flimmer, der Körper seine Schwere, die Büste ihre liebreizenden Wellen, die reifen Farben der Schenkel, ihre nach innen gesenkten Falten, sind nicht mehr. Was will er finden, wenn nicht das Fleisch? Arthur, Agent, Existenzkämpfer, schließt die Lider, sie zittern, als drängten hinter ihnen Tränen.

Gar nichts sieht er jetzt, sollte auch nicht länger knien. Sie tut einen Schritt, macht eine Pause, indes sie ihn betrachtet – diesmal sie ihn; dann hebt sie ihn auf. Natürlich erlaubt er ihr keine wirkliche Kraft, nur die Andeutung. Er ist von selbst hochgekommen, und kaum, daß er sie mit Händen fühlt –. Aber sie unterbricht ihn.

»Wie du in dieser Weile, war möglichenfalls dein philosophischer Vater, außer, schon damals verhinderte ihn seine Weisheit. Dein Sohn wird dahin nie gelangen, oder hat jetzt schon nur das. Du bist mehr als beide.«

»Und bin so wenig«, spricht er: sein unbedingt seltenstes Wort, sie hätte Lust zu lachen. Besser, als wenn ihr Mann sie rühren müßte. Nur melden sich aufs neue ihre Beklemmungen. Gerade sie erinnern daran, daß dieser lange Tag nicht aus ist.

»Seien wir ernsthaft!« Sie änderte den Ton ohne rechte Begründung. Hatten sie nicht beide soeben einen durchaus ernsten Abschnitt durchlaufen? Man bedenke, die Wendung seit dem Aufenthalt auf der Treppe bis zu ihrem, gleichfalls stummen, Verweilen zwischen den Spiegeln! »Hilf mir, mich anzuziehen!« verlangte sie.

Er half ihr nicht nur. Über seiner Schau in klassische Räume hatte er keineswegs versäumt, einen halb offenen Schrank zu besichtigen; alsbald langte er nach demselben Hauskleid, das sie selbst gewählt haben würde. Als hätte er hiermit noch nicht genug bewiesen, fügte er hinzu: »Das Mieder lassen wir weg.«

Mit Anerkennung fragte sie, warum. Es sei nicht mehr spät, sondern früh, wer weiß welcher Besuch möge kommen. Stephanie sei bei solchen Gelegenheiten nicht allein. Höchstens mit seinem Sohn, meinte er. Aber es handelte sich um einen medizinischen Punkt, auf den er sich etwas einbildete. »Du hast einen Druck um den Magen«, sagte er.

»Nicht nur Druck, hauptsächlich Schwäche, und wenn das Wort richtig ist, Angst.«

»Daran erkennst du: der Magen kann es nicht sein. Was dir zu schaffen macht, ist das Sonnengeflecht, ein geheimnisvoller Sitz des Lebens: wird nie beachtet, noch weniger behandelt. Diese Nervenzentrale leitet unsere Affekte. In dem Maß wie die geistigen Funktionen bestimmt sind von den triebhaften, hängt das Gehirn vom Sonnengeflecht ab. Erkrankungen des Gehirns sind zurückzuführen auf das Sonnengeflecht, dies in emotionellen Fällen; das sind die einzig wichtigen.«

»Ich danke dir«, sagte sie, aber er glaubte nicht fertig zu sein. »Wenn Denker irrsinnig werden, ist nicht zuerst ihr Denken gestört, sondern ihr Fühlen. Das Sonnengeflecht entartet, bevor das Gehirn davon weiß. Ein Philosoph –.«

»Dein Vater wäre niemals verrückt geworden«, wendete sie ein.

»Er ist es auf eine Art, die ihm wohltut«, erklärte Arthur. »Er genießt die Harmlosigkeit eines Sonnengeflechtes, das niemals überreizt wurde vom Existenzkampf.«

»So meinst du es.«

»Der Existenzkampf ist nachgerade allmächtig. Abstrakte Naturen, die gar nicht an ihn denken, sind seine um so schwächere Beute. Was bleibt zu sagen von uns, die wir nichts kennen als nur ihn. Nachdenken konnte ich über diesen einzigen Punkt. Mein Vortrag war unbescheiden und lückenhaft, verzeih ihn mir!«

»Mein Sonnengeflecht läßt mich wissen, daß es das beste wäre, ihm ein Glas Sekt zu geben.«

»Bordeaux«, berichtigte er. »Nichts macht ruhiger und tapferer.«

»Einverstanden, aber wir müßten ihn heraufholen. Die Flasche Cliquot steht bereit.«

»Ein glücklicher Zufall«, sagte er munter, um sie mit Zartheit nicht herabzustimmen. Beide bemerkten: noch immer standen sie zwischen den Spiegeln voreinander – zu nahe, als daß es nur ein Gegenüber wäre. Vom Ankleiden hatten sie die letzte Bewegung behalten; der Arm der Frau hing über seinen Nacken, an ihrer Hüfte lag seine Hand.

Ihre Blicke hatten sich niemals getrennt. Jetzt lächelten beide. Wir gaben vor, daß wir denken? Wir begehrten, was außer aller Sprache ist. Von selbst trägt es uns nach dem nächsten Zimmer, mein Schlafzimmer, er hat es entdeckt. – Ihr Schlafzimmer, sie hat, ohne von mir den Blick zu wenden, die Schultern dorthin bewegt.

»Seien wir vernünftig!« sagte sie und ging ihm voran, woher sie gekommen waren.

In dem kleinen Boudoir wurde ihr Schritt langsam, er sah sie eine Hand zur Schläfe führen, die andere langte nach einem Diwan hinab. Sie suchte eine Stütze, oder wünschte zu ruhen, aufzuatmen eine kurze Minute. Allein betrat er das Zimmer mit dem gedeckten Tisch. Hier lag auf dem Diwan ihre paillettierte Tasche, ein bemerkenswerter Umriß erschien darin. Arthur fand sich berechtigt, sie zu öffnen. Er zögerte, ließ es, bewegte sich lautlos hin und her, unter Beschränkung auf eine Bahn, die ihm nicht erlaubte, Melusine zu sehen.

Sie ist stehengeblieben. Die Knie zu beugen, den Körper niederzulassen, ihn hinzulegen so groß er ist, es lohnt sich nicht, ja, sie hat es vergessen. Ihre Brauen sind qualvoll gefaltet, sie fragt sich nur: Bin ich wirklich krank? Sie hört die Antwort: ja. Daher die Zusammenhanglosigkeit meiner Handlungen. Eine Viertelstunde vorher war mir unbekannt, was ich tun werde. Sie hört die Antwort: nein. Denn ich tue, nicht ganz zufällig, das Vernünftigste. Übrigens hat Tamburini es mir geraten, und Erfahrung läßt sich ihm nicht absprechen. Seinen Rat hatte ich bis jetzt vergessen: der entschied nicht.

Etwas anderes war es. Auch das habe ich nicht gegenwärtig gehabt – auf der Treppe zum Beispiel. Ganz im Grunde bin ich der Sache gewiß, obwohl sie so alt ist – um Gottes willen die Jahre nicht ausrechnen! Ich und er, wir haben uns schon gekannt. Es ist komisch oder traurig, eine bloße Erinnerung, längst nicht mehr wahr, auf einmal spukt sie und will geglaubt werden.

Bitte, warum nicht? L'amour, alors, ne tirait pas à conséquence. La fange même était innocente. Nachsicht, die ich mir gewähre! Wenn damals jemand unverschämt genug gewesen wäre, Nachsicht mit uns zu haben! Wir behaupteten uns. Wir entschlossenen Talente erhörten noch ganz andere als einen Agenten. Die entferntesten Beziehungen zu einer Rolle, die wir begehrten, genügten uns. Arthur war nicht mächtig, aber er hatte Macht, die man eskomptierte, wie meine Zukunft. Beide kämpften wir wie Leute. Am Anfang sind die Existenzkämpfer roh aus Unkenntnis, und die Niederlagen wogen leicht.

Leicht wie die Hingabe, oder was man seither so nennt, an Interessenten, die kamen, gingen und vergaßen wie wir. Arthur weiß nicht mehr, ob er mich einstmals schon – geliebt hat. Ein zu schweres Wort, nach allem, was ich nunmehr kenne, für die Dinge, wie sie vorkamen. Jedenfalls kann ich ihm nicht gefallen haben, weder Körper noch Wesen. Ich war mager, spröde, gleichgültig wie eine Geschäftsfrau. Die bin ich inzwischen geworden.

Eine ernste Persönlichkeit, man sah es auf der Treppe. Mit neunzehn Jahren habe ich das nicht getan. Mit ihm nicht; Handlungen der Leidenschaft, die unvergeßlich wären, fanden nicht statt. Was sonst, muß ich nicht wissen. Könnte es vielleicht, aber muß nicht. Dem Abend heute würde ich, Schritt für Schritt, nachgehen können noch mit neunzig Jahren: das ist sicher. Daher handelte ich dennoch vernünftig.

Er? Ich weiß noch nicht, wie er sich verhalten wird, wenn alles heraus ist. Er scheint mich zu brauchen, nun er genug gelernt hat. Wer trägt mit ihm die Niederlagen, achtet Erfolge für wenig, überschätzt zuletzt nur die Liebe? Ich; aber nicht einmal von mir bin ich ganz überzeugt. Enfin.

Mit diesem Seufzer ging sie hinein zu ihrem Gefährten. »War es länger als eine Minute?« fragte sie. Er sagte: »Nein. Aber die zweite hätte ich nicht abgewartet, um dich wieder einmal zu erobern.«

Sie verstand: ihrer sicher war er nicht und ordnete sich ihr unter, ob aus Geschicklichkeit oder Bedürfnis. Es hätte sie befriedigt, läge nur ihr Besteck nicht vor dem Diwan und müßte sie nicht die glitzernde Tasche entfernen, um sich zu setzen. Lieber wies sie Arthur auf den Platz. Er gehorchte sofort, hielt auch schon den Beutel in der Hand. Seine bloße Kopfwendung beantwortete sie in der Abwehr. »Laß es noch! Gib mir Wein!«

Könnte man ewig kaltes Huhn essen, dachte sie, die Augen auf dem Teller, wo die Portion nicht kleiner wurde. Sie nahm ihr Glas, er wollte mit ihr anstoßen. »Noch nicht«, sagte sie und trank aus. »Jetzt öffne!«

Zum Vorschein kam die Bescherung. Papier, nicht einmal sauber. Veraltete Geschäftsbriefe, im beiläufigen Zuschnitt von Schecks. Man las: der Van Gogh jetzt hunderttausend. Oder: ohne Bad hundert, mit Bad zweihundert, gezeichnet Fifi. Genug, Nolus war über alles hinweg: das zeigten auch die eigenhändigen Zeilen, die zu unterst lagen. Sie verrieten nicht, sie betonten.

Schreiber sagte, der Bank Barber und Nolus, die notorisch unsicher sei, könne er das Schicksal des Opernhauses nicht anvertrauen, das verbiete ihm sein kulturelles Gewissen. Die Schecks lauteten ohnehin auf seinen Namen allein; er nehme sie, bis die Lage geklärt sei, auf die Reise mit. »Schweigen ist Gold«, stand auch noch da. Höhnisch oder nur dummdreist, unverblümter konnte Schreiber sich nicht ausdrücken.

Arthur betrachtete das Blatt, als hätte er es bis jetzt nicht gelesen. Vielleicht nicht entziffert – obwohl die Zeichen groß und markig hingehauen waren. Verbogen waren sie trotzdem. Mehrmals unterbrach Schreiber einen Buchstaben, der ihm ausgerutscht wäre. Nach dem Abschluß seiner graphologischen Untersuchung reichte Arthur das Blatt hinüber. »Willst du sehen?« bat er, Stimme und Augen, beide gesenkt.

Melusine beeilte sich nicht. »Ich kenne den Inhalt«, sagte sie. Folgsam nahm er den Brief zurück. »Der Umschlag war verschlossen«, meinte er. Sie erklärte: »Seit einiger Zeit wußte ich, was geschehen sein muß.«

Dies war falsch, insofern die genauen Tatsachen, um ihre Erkenntnis zu belegen, ihr gefehlt hätten. Richtig war, daß der Augenblick auf der Treppe in ihrem Gedächtnis weiterlief und zeugte. Was ich imstande war! Eine Frau meiner Stellung, meines Alters, Banquière, und die Geschäfte kritisch, the turning point. Was ich imstande bin, kann Nolus noch lange – auf eine andere Art, aber jede ist wie man will, sympathisch oder nicht.

Hörbar sprach sie: »Etwas zu spät habe ich mir vergegenwärtigt, wer Nolus ist – jetzt ist«, verbesserte sie. »Als er mir das Paket Schecks übergab, dachte ich an nichts.«

Wie sprach sie nur? Neutral, fand Arthur. D'une voix blanche, bemerkte er mit Erschrecken, mit einem schneidenden Schmerz, weil sie litt. Nicht die Katastrophe, das Leiden Melusines brachte ihn außer sich; er sprang auf und tobte.

»Ich habe Schurken gekannt, je ne dis pas. Plenty of scoundrels, mucchio di mascalzoni, on les ramasse á la pelle, aber nicht diesen. Den Schurken der Schurken!«

Sie bog die Schultern unter seinem Aufschrei. Ihre reichen Schultern krümmte sie vor Angst, daß beim nächsten Wort sie selbst daran käme, ihre Schuld, ihr Versagen.

Sie stöhnte in sich hinein. Der Betrüger benutzt mich, ich bin sein Complice – unfreiwillig, aber darf ich es so nennen? Der Betrug war schon vorher roh, er prahlte mit seiner Abreise, bis niemand sie ihm glaubte. Manigances effrontées, puis ce truc qui n'en était pas un, bei mir bewahrt er die Schecks auf. Es war vielmehr die offene Zumutung, zu schweigen, mit ihm zu teilen, wenn ich ihm glaubte, jedenfalls aber zu verantworten, was ich nahm und einsteckte. Ich verachtete meine Geste, hätte jede verachtet, fort damit in den Sack. Allein meiner inneren Angelegenheiten war ich voll zum Überlaufen. Wie träumen feige macht! Und er, der hier tobt, den ich ruiniert habe, fehlte in meinen Träumen.

Sie hatte nicht Zeit, ein zweites Mal zu stöhnen. Gedanken fliegen, aber Arthur war noch schneller. Von seinem fortissimo ließ er plötzlich die gute Hälfte nach, auch die Gebärde. Seine Hände, soeben noch wild bewegt, waren nahe daran, gefaltet zu werden. Er stand, sah fromm auf ihren gesenkten Kopf, er sprach: »Fasse es, wer kann. Schändlich handeln – an der schönsten Frau!«

Dies war, nach der ersten Aufregung, was er dem Schurken der Schurken mit Überlegung vorwarf. Er hatte eine zu schöne Frau hereingelegt. Das sagt ein Mann, dessen Existenz – nun, sie hängt vor jedem Monatsende an etwas anderem, diesmal an den Schecks der Präsidenten, und sein Anteil ist gestohlen. Ihn aber schmerzt die beleidigte Schönheit. Melusine hat nie im Leben eine tiefere Huldigung empfangen: glaubwürdig, weil nicht als Huldigung gemeint. Die Fassungslosigkeit ergießt sich. Ein Verurteilter stammelt sein letztes Gebet an die Geliebte.

Könnte Melusine hier schluchzen, wäre sie gerettet – vor dem Anfall, der ihr seit einigem droht: sie braucht sich nur fallen zu lassen. Ihre Tochter, zum Glück nicht zugegen, weiß und hat bezeugt, wie die prachtvolle Mutter wirklich hinfällt und sich am Boden windet bei bedeutenden Mißerfolgen. Dieser ist zweifellos einer der weittragenden. Was bevorsteht, ob überhaupt etwas nachfolgt, wird auf der Stelle entschieden. Melusine behält trockene Augen.

Arthur, die Not macht ihn scharfsichtig, das drängende Schicksal leiht ihm die richtigen Worte. »Wir hätten besser getan, ins Schlafzimmer zu gehen«, sagt er. »Der Brief hatte Zeit. Er wäre veraltet, bevor wir herauskamen, gewappnet gegen das Unglück.«

Da kann sie laut aufweinen, richtet ihr weißes Gesicht gegen ihn, läßt ihn die beiden Tränen sehen, wie sie rinnen und die hergerichtete beauty stören. Sie hat ihm anzubieten mehr als das. Sie hat das höchst spannende Gefühl, das nächste, was sie tue, werde ein Kniefall sein.

Sie begreift es keineswegs, während ihre Knie schon gleiten wollen. Den Mann hat sie nie vorher ernster genommen als andere; überdies, zur Zeit der unwissenden Jugend, hat er Alice, die Sängerin mit den kräftigeren Stimmbändern, bevorzugt, ohne Ahnung von dem Stiernacken, den sie bekommen wird!

Derselbe Mann besitzt – woher? durch Gnade? – nunmehr den Sinn für ihren Körper: eine unschätzbare Tugend, die unmittelbarste, die ein Mann haben kann, die allein dauerhafte, wo sie echt ist. Die Echtheit aber fühlt sie: auch sie schätzt über alles ihren Körper. N'aimant que sa propre chair, das Wort ist ihr geheimer Schlüssel, in der Intimität mit dem Spiegel. Plötzlich ist hier ein zweiter, sie zu verstehen bis in jede Falte. Das macht ihn mit ihr eins.

Sie weiß, was sie weiß, dieser erlaubt keinen Zweifel. In der Stunde des geschäftlichen Zusammenbruches, alles aus, alles aus, hat er sie entdeckt. Besteht auf ihr, als auf dem Leben selbst. Das sind keine Zahlen mehr, nicht die Berechnungen ins Blaue, die klatschend zurückfallen aus der Bläue, dir auf den Kopf. Der Existenzkampf! Aber nun es zum Äußersten kommt, kämpft er um sie. Daher auch sie um ihn, und ihre Knie gleiten.

Er sieht es. Er sieht alles; ihre Verirrungen, bis zu den jüngsten, sind wörtlich die seinen. An diesem Punkt des Lebens kann eine endgültige Liebe es dennoch retten. Daher naht er als der hilfreiche Halbgott – im roten Frack: der fallt ihr jetzt auf, gerade an dem Halbgott. Etwas lächerlich, aber lächerlich ist mehr als das, wir taumeln immer an der Grenze; und wo hätte er seine Tracht wechseln sollen? Da er, über sie gebeugt, rechtzeitig ihren Kniefall abfängt, hält sie sich an seinem roten Frack.

»Ich hätte es nicht getan«, spricht sie in seine Brust hinein. Er versteht: den Kniefall.

Er sagt: »Ich weiß« – obwohl er das Gegenteil weiß. »Unnütz, mir dramatisch vorzuführen, welches Wunder einer Frau ich liebe.«

Das war ihr Grund zu erröten, so sehr sah Melusine sich enthüllt. Aber auch die moralischen Entblößungen verträgt eine wirkliche Schönheit. Ihr Kniefall wäre nicht neu gewesen, dieses Duett blickte auf einen ersten zurück: der zweite lief Gefahr, eine Nachahmung zu werden. Aufrichtig eingeleitet wie er war, hätte die Erinnerung an den ersten ihn falsch gemacht, er wäre nicht unmittelbar, wäre schwaches Theater gewesen. Keine Eigenliebe, ihr guter Geschmack warnte Melusine.

So lag sie denn auf seiner rotbekleideten Brust im Genuß der verzauberten Wehmut, nichts auf der Welt zu besitzen, als nur diese Brust. Ich bin glücklich, dachte sie und entsann sich, daß sie unter gleichen Umständen, aber ohne den Mann, zwei Flaschen Wein getrunken und Schlafpillen im Übermaß genommen haben würde. Nicht versucht zu sein, ist ein Glück, obwohl kein ungemischtes – wenn Arthur es erführe. Sie schwieg darüber; er hätte ihr das Wort abschneiden können.

Sie fühlte sein Herz schlagen: auch er war glücklich. Dennoch wartete er nur ab, daß sie hinreichend getröstet sei, dann sprach er, immer trostreich, aber mit Nachdruck: »Soweit ist alles gut. Jetzt die Existenz! Sie will erkämpft werden, wie du.«

»Dumm von mir«, sagte sie und ließ sich hochhelfen, »beinahe glaubte ich, wir hätten aufgegeben.«

»Beinahe«, wiederholte er. »Im Grunde bist du froh, daß ein Liebespaar unseres Alters nicht ohne Probleme ist. Wir stecken tiefer im Leben als die Neunzehnjährigen.«

»Oh!« machte sie, als eröffnete er ihr unerhörte Wahrheiten. Sie fand ihn weise, trotz einem Tamburini. Sogleich zog alles auf einmal an ihr vorbei, schneller als sie hinsehen konnte: Figuren, Szenen dieser Nacht, anderer Tage und Nächte; eine Stunde, in der sie umfiel und starb, eine andere, wo sie ausgesorgt hatte, geliebt und reich, was das Herz begehrt; dann wieder Flaschen und Pillen; und, ihr gerade erst vorgestellt, das Sonnengeflecht. Alles dieses war abgelaufen, da hatte sie die Bewegung, um das Gesicht von seiner Brust zu nehmen, noch längst nicht beendet.

Sie stand auf und entfernte sich um zwei Schritte, damit die Unterredung fortan sachlich werde. »Natürlich hast du recht und bist auch schon im reinen über unsere Abrechnung mit Nolus.«

»Mehr oder weniger«, sagte er. Es schien: eher weniger. Er erklärte sich nicht.

»Rufen wir die Polizeidirektion an?« fragte sie. »Allerdings lauten die Schecks auf seinen Namen. Er handelt bis jetzt nicht ungesetzlich. Vielleicht, daß er verhaftet werden kann, wenn er sich heute auf der Bank nicht zeigt.«

»Aber er ist der Mitinhaber. Die Bank flöge auf. Die Sache des Opernhauses wäre endgültig verschüttet von einem überwältigenden Skandal.« Arthur sprach fließend, dies alles fiel ihm nicht erst jetzt ein.

Sie erwog mit ihm die Aussichten. »Die Geldgeber? Was ist von ihnen zu erwarten. Ihre Kapitalien, die sie der Steuer hinterziehen, werden sie nicht zurückholen wollen um den Preis eines Skandals.«

»Soweit richtig.« Er hatte den Kopf gesenkt, um nachzudenken, wie sie wohl meinte. Unerwartet hob er ihn, sein Ausdruck war verfinstert und kraftvoll. »Ich selbst kann Nolus das Geld entreißen, aber ich müßte ihn töten. Dann auch gleich mich. Hier halte ich an. Die Kugel, die ich verdiene, will ich mir nicht vor den Kopf schießen. Ich verdiene sie, ich hätte eine absene, ich überließ ihm die Präsidenten. Aber mein Selbstmord wäre der schwerste Irrtum, jetzt, da ich glücklich bin und dich glücklich weiß.«

»Gott weiß es«, sagte sie stark und klar, nichts von Heiserkeit. »Du schuldest dein Leben mir! Teuerster Mann«, sagte sie, damit ihre Forderung liebenswürdig sei anstatt verzweifelt. »Siehst du jetzt, daß wir einander heiraten müßten, ob wir daran interessiert sind oder nicht: wir sind es geschäftlich. Unsere Kreditfähigkeit ist nur zu erhalten –«

Er ergänzte: »Wenn zwei nicht mehr kreditfähige Unternehmen den Mut haben, sich zu verbinden.«

»Jetzt würde ich dir um den Hals fallen«, sagte sie: »Aber die Zeit drängt. Wir können jeden Augenblick unterbrochen werden.«

»Von Poulailler«, sagte er.

»Ich dachte an Stephanie, vielleicht an deinen Sohn. Poulailler? Was soll es mit ihm?«

»Sehr viel«, bestimmte er. »Erinnere dich, was ich dir versprach: noch heute morgen tut er einen Griff nach deiner Handtasche.«

Sie hätte zu fragen gehabt, aber die Zeit drängte. Sie ging auf seinen Gedanken ein. »Verstecken wir sie!«

»Verstecken wir sie dort, wo er sie finden soll! Wo sucht ein Einbrecher das Geld einer Frau?«

»In ihrem Schlafzimmer«, sagte Melusine, noch ungewiß, ob sie anfange zu verstehen.


 << zurück weiter >>