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I.
Das Schweigen

Silence and Secrecy! Ruft Carlyle aus, ihnen müsste man Altäre allgemeiner Anbetung errichten, – wenn man in unserer Zeit überhaupt noch Altäre errichtete. Das Schweigen ist das Element, in dem sich die grossen Dinge bilden, um zuletzt vollkommen und majestätisch emporzutauchen an das Licht des Lebens, das sie beherrschen sollen. Nicht nur Wilhelm der Schweigsame, nein, alle bedeutenden Menschen, die ich kenne, und auch die schlechtesten Diplomaten und Strategen unter ihnen, enthielten sich stets des Schwatzens über Das, was sie planten und schufen. Und auch Du, versuche doch in Deinen armen, kleinen Nöten nur einen Tag, Deine Zunge still zu halten, – und wie viel klarer werden Dir am nächsten Tage Deine Pläne und Pflichten sein! Welche Trümmer und welchen Unflat haben doch diese stummen Arbeiter in Dir weggefegt, während der unnütze Lärm der Aussenwelt nicht mehr eindrang! Das Wort ist nur zu oft, nicht wie der Franzose sagt, die Kunst, die Gedanken zu verbergen, sondern die Kunst, sie aufzuheben und zu ersticken, so dass gar nichts zu verbergen bleibt. Auch das Wort ist gross, aber das sagt nicht, dass es nichts Grösseres gäbe. Wie die Schweizer Inschrift es bestätigt, ist Reden Silber, aber Schweigen Gold, oder besser gesagt: das Wort gehört der Zeit, das Schweigen der Ewigkeit an. »Die Bienen arbeiten nur in der Dunkelheit, der Gedanke arbeitet nur in der Stille und die Tugend im Verborgenen« …

Man glaube nur ja nicht, dass Worte den wirklichen Mitteilungen zwischen zwei Wesen dienten. Die Lippen oder die Zunge können die Seele nur darstellen, wie z. B. eine Ziffer oder eine Katalogsnummer ein Bild von Memling darstellt; aber sobald wir uns wirklich etwas zu sagen haben, müssen wir schweigen; und wenn wir in solchen Augenblicken den unsichtbaren und dringenden Geboten des Schweigens widerstehen, so haben wir einen ewigen Verlust erlitten, den die grössten Schätze menschlicher Weisheit uns nie werden ersetzen können, denn wir haben die Gelegenheit versäumt, einer anderen Seele zu lauschen und der unseren einen Augenblick des Lebens zu schenken, und es giebt manch ein Dasein, wo solche Gelegenheiten sich nicht zweimal bieten … Wir sprechen nur in den Stunden, wo wir nicht leben, in den Augenblicken, wo wir unsere Brüder nicht bemerken wollen und uns weit entfernt von der Wirklichkeit fühlen. Und sobald wir sprechen, sagt uns etwas in unserm Innern, dass göttliche Türen sich irgendwo schliessen. Darum geizen wir auch so mit dem Schweigen, und selbst die Unbedachtesten unter uns schweigen nicht mit dem ersten Besten. Der Instinkt der übermenschlichen Wahrheiten, den wir alle haben, bedeutet uns, dass es gefährlich ist, mit jemand zu schweigen, den man nicht kennen zu lernen wünscht oder den man nicht liebt; denn die Worte gehen zwischen den Menschen vorüber, aber wenn das Schweigen nur einen Augenblick Gelegenheit gehabt hat, sich zu betätigen, dann ist es unauslöschlich, und das wahre Leben, das einzige, das eine Spur zurücklässt, besteht nur aus Schweigen. Gedenkt daran in jenem Schweigen, zu dem auch Ihr Eure Zuflucht nehmen müsst, um es aus sich selbst heraus zu erklären; und wenn es Euch gegeben ist, einen Augenblick bis in die Tiefen der Seele hinabzusteigen, wo die Engel wohnen, so werdet Ihr Euch bei einem Wesen, das Ihr innig liebt, in erster Linie nicht der Worte erinnern, die es gesprochen, noch der Gebärden, die es gemacht hat, sondern der Augenblicke des Schweigens, die Ihr mit ihm verlebt habt, denn die Eigenschaft dieses Schweigens ist es, die Euch einzig und allein die Eigenschaft Eurer Liebe und Eurer Seelen enthüllt.

Ich berühre hier nur das tätige Schweigen, denn es gibt auch ein untätiges Schweigen, das nur der Reflex des Schlafes, des Todes oder des Nichtseins ist. Das ist das schlafende Schweigen, das, solange es schlummert, immer noch weniger gefährlich ist als das Wort; aber ein unerwarteter Umstand kann es plötzlich erwecken, und dann besteigt seine Schwester, das grosse tätige Schweigen, den Thron. Seid auf der Hut! Zwei Seelen werden sich erreichen, die Mauern weichen, die Dämme einstürzen, und das gewöhnliche Leben einem Leben Platz machen, wo alles tragisch wird, alles wehrlos ist, wo nichts mehr lacht, nichts mehr gehorcht, nichts mehr vergessen wird …

Und weil wir alle diese düstere Macht und ihre gefährlichen Spiele wohl kennen, haben wir eine so tiefe Furcht vor dem Schweigen. Wir ertragen im Notfalle noch das einsame Schweigen, unser eignes Schweigen; aber das Schweigen Mehrerer, das vervielfältigte Schweigen und namentlich das Schweigen der Menge ist uns eine übermenschliche Last, deren unerklärliches Gewicht die stärksten Seelen fürchten. Wir verwenden einen guten Teil unseres Lebens zum Aufsuchen der Orte, wo das Schweigen nicht herrscht. Sobald zwei oder drei Menschen sich treffen, denken sie nur daran, den unsichtbaren Feind zu bannen, denn wie viele gewöhnliche Freundschaften sind lediglich auf dem Abscheu vor dem Schweigen begründet! Und wenn es ihm trotz aller Anstrengungen glückt, sich unter die versammelten Wesen einzuschleichen, dann werden diese Wesen den Kopf unruhig jener feierlichen Seite der Dinge zukehren, die man nicht sieht; dann werden sie bald auseinandergehen und dem Unbekannten das Feld räumen, und in Zukunft werden sie einander ausweichen, weil sie fürchten, dass der hundertjährige Krieg noch einmal vergeblich sein wird, und dass einer von ihnen vielleicht zu denen gehört, die dem Gegner heimlich die Tür öffnen …

Die meisten von uns verstehen und lassen das Schweigen nur zwei oder drei Mal in ihrem Leben zu. Sie wagen diesen unerforschlichen Gast nur unter feierlichen Umständen bei sich aufzunehmen, aber fast alle nehmen ihn dann würdig auf; denn selbst die Erbärmlichsten haben in ihrem Leben Augenblicke, wo sie handeln, als ob sie bereits wüssten, was die Götter wissen. Erinnert Euch des Tages, wo Ihr ohne Schaudern Eurem ersten Schweigen gegenüber tratet. Die schreckliche Stunde hatte geschlagen und es trat vor Eure Seele. Ihr sahet es die Abgründe des Lebens überschreiten, von denen man nicht spricht, und die Tiefen des inneren Schönheits- oder Schreckensmeeres, und Ihr seid nicht geflohen … Es war dies bei einer Heimkehr, an der Schwelle des Abschieds, inmitten einer grossen Freude, an einem Totenbette oder am Rande des Unglücks. Entsinnt Euch jener Minuten, in denen plötzlich alle verborgenen Edelsteine blossliegen und die schlummernden Wahrheiten jählings erwachen; und sagt mir, ob das Schweigen zu dieser Stunde nicht gut und notwendig war, ob die Liebkosungen des unaufhörlich verfolgten Feindes nicht göttliche Liebkosungen waren? Den Kuss des Schweigens im Unglück – denn sonderlich im Unglück küsst uns das Schweigen – kann man nie mehr vergessen; und darum sind die, welche ihn öfter erhalten haben als Andere, auch mehr wert als diese Anderen. Sie allein wissen vielleicht, auf welchen stummen, tiefen Gewässern die dünne Rinde des täglichen Lebens ruht; sie sind Gott näher gekommen, und die Schritte, die sie zum Lichte empor gemacht haben, gehen nie mehr verloren. Denn die Seele ist ein Ding, das sich vielleicht nicht erheben kann, aber sie kann nie herabsteigen …

»Oh Schweigen, grosses Reich des Schweigens«, ruft ferner Carlyle, der dieses Gebiet des Lebens, das uns trägt, so wohl kannte, »oh Reich, höher als die Sterne und tiefer als die Gefilde des Todes! … Das Schweigen und die edlen, schweigsamen Menschen! … Sie sind hier und dort verstreut, jeder in seinem Lande, sie denken im Stillen, sie arbeiten im Stillen und die Morgenblätter erzählen nichts davon … Sie sind das Salz der Erde, und das Land, das keine solchen Männer oder deren zu wenig hat, ist auf keinem guten Wege … Es ist ein wurzelloser Wald, der ganz aus Blättern und Zweigen besteht, der bald verwelken und kein Wald mehr sein wird …« Aber das wirkliche Schweigen, das noch grösser und noch schwerer zu erreichen ist als das stoffliche, von dem Carlyle uns spricht, gehört nicht zu den Göttern, welche die Menschheit verlassen können. Es umgiebt uns von allen Seiten, es ist die Grundlage unseres unbewussten Lebens, und wenn einer von uns zitternd an ein Tor des Abgrundes pocht, so öffnet ihm immer dasselbe wachsame Schweigen die Pforte.

Auch hier sind wir alle gleich vor jenem unvergleichlichen Dinge. Das Schweigen des Königs oder des Sklaven, angesichts des Todes, des Schmerzes oder der Liebe, trägt die nämlichen Züge und verbirgt unter seinem undurchdringlichen Mantel die nämlichen Schätze. Das Geheimnis dieses Schweigens, welches das eigentliche Schweigen und die unantastbare Zufluchtsstätte unserer Seele ist, wird nie verloren gehen, und wenn der erste Mensch den letzten Erdenbewohner träfe, so würden sie auf gleiche Weise schweigen, im Kuss, im Schrecken, in der Träne; sie würden auf gleiche Weise schweigen in allem, was ohne Lüge vernommen werden soll, und trotz so vieler Jahrhunderte würden sie zur selben Zeit, gleich als hätten sie in derselben Wiege geruht, Das verstehen, was auszusprechen ihre Lippen nicht vor Weltuntergang lernen werden …

Sobald die Lippen schlafen, erwachen die Seelen und begeben sich an die Arbeit; denn das Schweigen ist jenes an Überraschungen, Gefahren und Glück reiche Element, in dem sich die Seelen frei besitzen. Wollt Ihr Euch jemandem wahrhaft hingeben, so schweigt; und wenn Ihr Euch fürchtet, mit ihm zu schweigen, so flieht ihn, – wofern diese Furcht nicht die Furcht und der hehre Geiz der Liebe ist, der Wunder hofft, – denn schon weiss Eure Seele, woran sie ist. Es gibt Wesen, mit denen zu schweigen der grösste Held sich nicht getrauen würde; und Seelen, die nichts zu verbergen haben, zittern dennoch davor, dass gewisse Seelen sie entdecken könnten. Dann gibt es auch andere, die kein Schweigen haben und das Schweigen um sich her töten; und das sind die einzigen Wesen, die wirklich unbemerkt vorübergehen. Sie kommen nicht dazu, das Gebiet der Offenbarung, das grosse Gebiet des starken, beständigen Lichtes zu durchwandeln. Wir können uns keine genaue Vorstellung von einem Menschen machen, der nie geschwiegen hat. Man könnte glauben, seine Seele habe kein Antlitz gehabt. »Wir kennen uns noch nicht«, schrieb mir jemand, den ich vor allen liebe, »denn wir haben noch nicht gewagt, mit einander zu schweigen.« Und so war es: wir liebten uns schon so innig, dass wir vor der übermenschlichen Probe Angst hatten. Und jedesmal, wenn das Schweigen, jener Engel der höchsten Wahrheiten und Bote des besonderen Unbekannten in jeder Liebe, sich zwischen uns herniederliess, so schienen unsere Seelen kniefällig um Gnade zu bitten und noch einige Stunden unschuldiger Lügen, einige Stunden der Unwissenheit und der Kindheit zu erflehen … Und doch muss seine Stunde kommen. Es ist die Sonne der Liebe und reift die Früchte der Seele, wie die andere Sonne die Früchte unserer Erde reift. Aber nicht grundlos fürchten sich die Menschen vor ihm; denn man kennt nie die Eigenschaft des Schweigens, das im Entstehen ist. Wenn alle Worte sich gleichen, so ist jedes Schweigen verschieden, und meistenteils hängt von der Eigenschaft dieses Schweigens zwischen zwei Seelen ein ganzes Schicksal ab. Es finden irgendwo – wo, weiss man nicht – Mischungen statt; denn die Behälter des Schweigens liegen weit über den Behältern des Gedankens, und der nicht vorherzusehende Trank wird unheilvoll bitter oder unendlich süss. Zwei wunderbare Seelen von gleicher Kraft können derart ein feindliches Schweigen gebären und werden sich im Dunkeln unerbittlich bekriegen, während die Seele eines Galeerensträflings in göttlichem Schweigen zusammenschmilzt mit der Seele einer Jungfrau. Man weiss nichts vorher, und alles geschieht in einem Himmel, der nichts ankündigt; deshalb verschieben auch die zärtlichsten Liebenden oft bis zu den letzten Stunden den feierlichen Einzug der grossen Offenbarerin der Seelentiefen …

Denn sie wissen ja, – weil die wahre Liebe auch die Leichtfertigsten zum Mittelpunkte des Lebens zurückführt, – dass alles andere nur ein kindliches Spiel an der Umfriedung war, und dass jetzt die Mauern fallen und das Leben offen liegt. Ihr Schweigen wird wert sein, was die Götter wert sind, die sie im Busen tragen, und wenn sie in diesem ersten Schweigen sich nicht verstehen, so werden ihre Seelen sich nie lieben können; denn das Schweigen verwandelt sich nicht. Es kann zwischen zwei Seelen empor- oder auch herabsteigen, aber seine Natur wird sich niemals ändern; und bis zum Tode der Liebenden wird es die Haltung, Form und Macht haben, die es hatte, als es zum ersten Mal ins Zimmer trat.

Je weiter man im Leben kommt, desto mehr erkennt man, dass alles nach irgend einem vorherigen Einverständnis stattfindet, von dem man kein Wort spricht, an das man nicht einmal denkt, und von dem man doch weiss, dass es irgendwo über unsern Köpfen schwebt. Der unbedeutendste Mensch lächelt bei der ersten Begegnung, als wäre er ein alter Mitschuldiger des Schicksals seiner Brüder. Und auf dem Gebiete, wo wir sind, fühlen gerade Die, welche am tiefsten zu sprechen wissen, am besten, dass Worte nie die wirklichen und eigenartigen Bewegungen ausdrücken, die es zwischen zwei Wesen giebt. Wenn ich Euch jetzt von den ernstesten Dingen, von Liebe, Tod und Schicksal spreche, so erreiche ich Liebe, Tod oder Schicksal nicht, und trotz meines heissen Bemühens wird zwischen uns immer eine unausgesprochene Wahrheit bleiben, die auszusprechen man nicht einmal beabsichtigt, und dennoch hat allein diese Wahrheit, die nicht zu Worte kam, einen Augenblick zwischen uns gelebt, und wir haben an nichts anderes denken können. Diese Wahrheit ist unsere Wahrheit über Tod, Schicksal und Liebe; und nur im Schweigen konnten wir sie ahnen. Und nichts, wenn nicht dieses Schweigen, wird von Wert gewesen sein. »Schwestern,« sagte ein Mädchen in einem Märchen, »Ihr habt jede Euren geheimen Gedanken, und ich will ihn wissen.« Auch wir haben etwas, das man wissen möchte, aber es verbirgt sich noch weit über unseren geheimsten Gedanken; das ist unser geheimes Schweigen. Aber das Fragen ist hier unnütz. Jede Anstrengung eines sich belauernden Geistes wird sogar dem zweiten Leben, das in diesem Geheimnis lebt, zum Hindernis; und um zu wissen, was wirklich da ist, muss man untereinander das Schweigen pflegen; denn nur in ihm erschliessen sich für Augenblicke die unerwarteten ewigen Blüten, deren Form und Farbe je nach der Seele wechselt, an deren Seite man sich befindet. Die Seelen lassen sich im Schweigen wägen, wie Gold und Silber in lauterem Wasser, und die Worte, die wir aussprechen, erhalten ihren Sinn nur durch das Schweigen, in dem sie sich baden. Wenn ich einem Menschen sage, ich liebte ihn, so wird er vielleicht nicht verstehen, was ich hundert Anderen gesagt habe; aber das Schweigen, das nachfolgt, wenn ich ihn tatsächlich liebe, wird zeigen, wie tief dieses Wort Wurzeln geschlagen hat, und auch bei ihm eine schweigende Gewissheit erzeugen; und dieses Schweigen und diese Gewissheit werden nicht zweimal die gleichen sein in einem Leben …

Bestimmt nicht das Schweigen den Duft der Liebe und hält ihn gebannt? Wenn die Liebe des Schweigens beraubt wäre, hätte sie keinen ewigen Geschmack und Duft. Wer von uns kennt nicht jene stummen Augenblicke, wo die Lippen sich trennen und die Seelen sich vereinen? Sie sollte man immer und immer wieder aufsuchen. Es gibt kein beredteres Schweigen als das Schweigen der Liebe: es ist wirklich das einzige, das uns allein gehört. Das Schweigen des Todes, des Schmerzes und des Schicksals gehört uns nicht an. Es kommt auf uns zu aus der Tiefe der Ereignisse und zu einer durch diese bestimmten Zeit, und wen es nicht trifft, der hat sich nichts vorzuwerfen. Aber wir können ausgehen, um das Schweigen der Liebe zu treffen. Es harrt Tag und Nacht an der Schwelle unseres Hauses und ist so schön wie seine Geschwister. Dank ihm können Die, welche fast nie geweint haben, ebenso vertraut mit den Seelen leben, wie Die, welche sehr unglücklich waren; und darum wissen auch Die, welche viel liebten, Geheimnisse, die andere nicht kennen. Denn in Dem, was die Lippen tiefer und wahrer Freundschaft und Liebe verschweigen, liegen tausend und abertausend Dinge, die nie auf anderen Lippen schweben werden …

 


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