Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Achtzehntes Kapitel.
Entlarvt

Als Advokat Meyers eintrat, wechselten der Mann und die Frau einen raschen Blick zusammen, in dem seinen lag Unruhe, Besorgnis – in dem ihrigen volle Zuversicht.

Nachdem Haynes die Parteien einander vorgestellt hatte, begann er ohne Umschweife: »Herr Meyers, diese Dame leugnet die Existenz irgend welcher amerikanischer Erben. Sie meint, man habe Sie getäuscht. Wissen Sie, ob ihr Prätendent Brierly zur Zeit lebt?«

»Ich weiß, daß er lebt,« lautete die bestimmte Antwort.

»Mein Herr,« wandte sich Frau Latham mit einschmeichelnder Stimme an den Advokaten, »ich fürchte sehr, daß man Sie gröblich getäuscht hat. Der Mann, der diese Ansprüche erhoben hat, ist ein Betrüger. Darf ich fragen, seit wann Sie Amerika verlassen haben?«

»Ich bin schon einige Zeit in England,« entgegnete Meyers, »und gebe zu, daß mir die ganze Sache bis jetzt nicht recht klar geworden ist, denn sie ist sehr kompliziert. Immerhin könnten ja auch Sie getäuscht worden sein. Vielleicht gelingt es mir, dies festzustellen. Ich habe einen jungen Mann mitgebracht, der eben erst aus Amerika angekommen ist. Er behauptet, Herrn Brierly kürzlich gesehen zu haben. Mit Ihrer Erlaubnis werde ich ihn hereinrufen.« Statt seiner erhob sich jedoch Haynes und verschwand im Nebenzimmer.

Wieder wechselten die Lathams Blicke, schwiegen aber. Erst nach ein paar Minuten fragte Harry Latham ungestüm: »Wer ist dieser Amerikaner, der Brierly gesehen haben will? Wie kommt er gerade heute hierher und wie heißt er?«

Meyers griff wie in Gedanken nach einem Buch, in dem er zerstreut blätterte. »Wer der Amerikaner ist?« gab er lässig zur Antwort. »Ein sehr intelligenter junger Mensch, den man nicht so leicht täuschen kann – er ist in seiner Art ein ganz gewiegter Detektiv.«

Bei diesen sehr nachdrücklich betonten Worten ließ Harry Latham seinen Hut zu Boden fallen, und bevor er ihn aufgehoben hatte, kehrte Haynes mit einem jungen Mann zurück, den er als »Herrn Grant« vorstellte.

Frau Latham preßte die Hand aufs Herz, als sie ihn erblickte: ihr Gesicht wurde aschfahl unter dem Schleier –

»Was fehlt Ihnen, Madame?« fragte Haynes, der die Veränderung in ihrem Gesicht bemerkte. »Fühlen Sie sich unwohl?«

»Ein Krampf,« stammelte sie, »es wird wieder vorübergehen.«

»Sie leidet öfters daran,« erklärte Latham, sich zu ihr beugend. »Ist es jetzt besser?« fragte er sie halblaut.

Sie nickte stumm, während sie den Blick starr auf Grant gerichtet hielt.

»Diese Dame, Herr Grant,« wandte sich Meyers zu ihm, »weiß bestimmt, daß die Brierlys, von denen Sie mir sprachen, nicht mehr am Leben sind. Irgendwo muß also eine Täuschung oder ein Betrug vorliegen. Wollen Sie uns beistehen, die Sache aufzuklären?«

Statt aller Antwort setzte sich Francis Ferrars Frau Latham, deren Blick noch immer wie gebannt auf ihn gerichtet war, gegenüber.

»Hier liegt mehr als Täuschung, mehr als Betrug vor, Madame,« sagte er mit ernster, sonorer Stimme, »und wenn ich Ihnen das klar machen soll, so muß ich die Geschichte von Anfang an – so weit ich sie kenne – erzählen.«

Frau Latham senkte jetzt schweigend den Kopf, während ihr Schwager, der Ferrars überhaupt nicht kannte, mit scheinbarer Gleichgültigkeit zuhörte. Der Detektiv entwarf in kurzen, scharfen Sätzen ein Bild von den beiden Brüdern Brierly und von der Entdeckung des an Charles Brierly verübten Mordes.

»Ich hatte den unglücklichen jungen Mann im Leben nie gesehen,« fuhr er fort, »aber als ich neben der Leiche stand und in das edle, männlich schöne Antlitz blickte, da wußte ich, daß hier ein Verbrechen geschehen war. Ein Unfall war ausgeschlossen, er selbst, nach seinem Charakter zu schließen, hätte nie Hand an sich gelegt – so konnte es nur ein Mord sein. Und doch hatte er, wie es hieß, keine Feinde.

Der Fall erweckte sofort mein ganzes Interesse, und nachdem ich den Kummer des von ihm geliebten Mädchens gesehen hatte, setzte ich alle Kraft ein, den Urheber dieser feigen Tat zu entdecken.

In derselben Nacht durchwanderte ich allein die Straßen von Glenville. Als ich an einem gewissen Hause vorüberkam, sah ich in einem Zimmer, das nur von den Strahlen des Mondes erleuchtet war, den Schatten eines Weibes, das ruhelos auf und ab ging und wie verzweifelt die Hände rang.«

Er hielt einen Augenblick inne, rasch die Anwesenden musternd.

Die beiden Advokaten standen ernst und aufrecht nebeneinander, Harry Latham spielte noch immer den Gleichgültigen und seine Schwägerin saß unbeweglich gesenkten Hauptes da.

»Am nächsten Morgen,« begann Ferrars von neuem, »untersuchte ich den Schauplatz des Verbrechens. Es wurde mir klar, daß hier ein lauernder Feind, begünstigt durch die Windungen des Ufers, das dichte Unterholz und den hohen Indianerwall, sich mit Leichtigkeit seinem ahnungslosen Opfer nähern konnte. Zwei Tage vorher hatte es geregnet und an einzelnen Stellen, wo die Sonne nicht hingedrungen, war die Erde noch feucht. Unter einem großen Baum, unter dem der Mörder wahrscheinlich gestanden hatte, fand ich den Abdruck eines zierlichen Stiefels, ebenso an einigen anderen Plätzen in der Nähe immer den gleichen schmalen, spitzen Abdruck. In einem Haselnußstrauch fand ich jedoch meinen ersten sicheren Anhaltspunkt. Es war sozusagen nur ein Faden von einem schwarzen Schleier, wie ihn die Witwen tragen. Später traf ich einen halb blödsinnigen Jungen, der um die Zeit des Mordes im Walde gewesen war und sich furchtbar erschreckt hatte. Er behauptete, einen Geist gesehen zu haben, den er nach langen Bemühungen meinerseits als ein weißes Ding mit einem schwarzen Gesicht beschrieb. Später fand ich die Erklärung zu dieser Beschreibung. Ich erfuhr nämlich, daß an jenem Morgen eine Mietskutsche, deren Decke weiß gewesen, am Seeufer vorübergefahren war. Diese breite Wagendecke konnte recht wohl die Gestalt einer kleinen Frau verbergen, die, mit dem dichten schwarzen Schleier vor dem Gesicht, plötzlich aus den Büschen auftauchend, den blödsinnigen Jungen mit Leichtigkeit zu erschrecken und von einer Stelle wegzutreiben vermochte, wo seine Anwesenheit eine Gefahr bedeutete.

Als dann die Totenschau stattfand, glaubte ich schon die Hand zu kennen, die Charles Brierly ums Leben gebracht hatte. Aber ich wußte noch nicht aus welchem Grunde und deshalb stand meine Vermutung noch auf schwachen Füßen, außerdem kommt es vor, daß ein Weib, trotzdem es zur Verbrecherin wird, doch noch Mitleid und Schutz verdient. So wartete ich denn geduldig. Als bei der Leichenschau auch der Bruder des Toten, Robert Brierly, dessen Anwesenheit nur wenigen bekannt war, auf der Zeugenbank erschien, wurde eine Frau, die er eben so wenig kannte wie sie ihn, bei seinem Anblick ohnmächtig. Und nun wußte ich das Motiv zu der Mordtat.«

»Ah!« brach es unwillkürlich wie ein schmerzlicher Seufzer von den Lippen Frau Lathams, die regungslos wie eine Statue dasaß.

»Wissen ist noch nicht immer Beweis – wenigstens nicht für einen Gerichtshof,« fuhr Ferrars fort. »Es galt also einen solchen zu beschaffen. In der Nacht nach dem Morde drang ein ebenso mutiges als listiges Weib in Knabenkleidung heimlich in die von Charles Brierly bewohnt gewesenen Zimmer. Furcht vor Entdeckung war die Triebfeder; sie sann deshalb darauf, die Behörde von der richtigen Spur abzubringen. An einer leicht sichtlichen Stelle des Schreibtisches legte sie einen anonymen Brief nieder, der bezwecken sollte, die Braut des Toten zu verdächtigen. Diese Manipulation war so recht nach Frauenart. Um den Anschein zu erwecken, es sei ein Dieb in die Räume eingebrochen, nahm sie eine Uhr, eine Pistole und verschiedene fremdländische Schmucksachen mit sich; außerdem einen Zeitungsausschnitt, den sie auf dem Briefhalter fand. Hätte sie dies letztere unterlassen, wäre mir die Bedeutung desselben entgangen. So aber wurde ich aufmerksam, fand in einer Mappe die Zeitung, aus der der Artikel ausgeschnitten worden, verschaffte mir ein zweites, unbeschädigtes Exemplar und hatte nun den Schlüssel zu dem geheimnisvollen Rätsel. Dieser fehlende Ausschnitt war nämlich ein Aufruf an die Erben eines gewissen Hugo Prisley. Da ich herausbrachte, daß die Brüder Brierly diese Erben waren, so dachte ich mir, daß auch Robert Brierlys Leben gefährdet sei. Demzufolge warnte ich ihn nicht nur, sondern ließ ihn auch bewachen.

In der Zwischenzeit war in der Nähe des Tatortes ein Boot gefunden worden, das man am Morgen des Verbrechens auf dem See bemerkt hatte. Der Mann, der es ruderte, war ein Helfershelfer des Mörders, beauftragt, Wache zu halten. Die Täterin hatte ich bereits festgestellt – nun galt es, noch ihren Verbündeten zu finden.«

In diesem Augenblick erhob sich Harry Latham, trat ans Fenster, lehnte sich an die Brüstung und verharrte in dieser Stellung, während der Detektiv weitersprach: »Die Brüder Brierly waren, ohne es zu wissen, die Erben der Prisley-Güter in England; es scheint jedoch, daß die Mörder Charles Brierly irrtümlicherweise für den einzigen noch lebenden, rechtmäßigen Erben hielten und so kam es, daß die Frau, die Charles Brierly mit kaltem Blut niedergeschossen, in Ohnmacht fiel, als sie seinen Bruder bei der Leichenschau erblickte. Der Gedanke, daß ihr Verbrechen nutzlos gewesen war, daß sie umsonst Blut vergossen hatte, mochte sie wohl überwältigt haben. Und nun begann eine Art Schachspiel, bei dem beide Parteien gezwungen waren, mit äußerster Umsicht vorzugehen. Eine Weile konnte ich nichts anderes tun als einerseits die Frau, andererseits Robert Brierly zu bewachen, wußte ich doch, daß er zwischen seinen Gegnern und ihrem Ziel als Hindernis stand.

Trotz meiner Wachsamkeit jedoch wurde ich überlistet; das erstemal, da Brierly wagte allein gegen Abend auszugehen, wurde er vor seiner Tür zu Boden geschlagen. Er erlitt eine schwere Verletzung, und um den Mördern keine Gelegenheit zu geben ihr Werk zu vollenden, brachten wir ihn fort, sobald er transportabel war. Um der Sache ein Ende zu machen, reiste Herr Meyers hierher mit der Aufgabe, den Stammbaum der Prisley zu prüfen und sich über die Lebensgeschichte der Gegenpartei zu informieren, was ihm auch vollständig gelungen ist.«

Bei seinen letzten Worten erhob sich Frau Latham. »Dies alles,« sagte sie mit großer Selbstbeherrschung, »erklärt noch nicht, weshalb Sie meine Ansprüche zu Gunsten eines Toten bestreiten. Und was den Mord anbelangt – wenn Sie beweisen können, was Sie behaupten – –«

»Einen Augenblick!« unterbrach Ferrars sie. »Lassen Sie mich noch hinzufügen, daß einer meiner Agenten sich eines Abends in das Hotelzimmer jener Frau in Glenville einschlich und in einem Koffer den Schleier, von dem ich ein Stückchen besaß, sowie einen Knabenanzug fand. Den Schleier brachte er mir, die Kleider hat die Besitzerin erst heute morgen einer armen Frau geschenkt. Ihren Helfershelfer entdeckten wir durch die gestohlene Uhr und die entwendeten Schmucksachen Charles Brierlys. Er versetzte sie teils in Chicago, teils in New-York und hier. Die Beweiskette ist vollständig,« schloß er mit erhobener Stimme, »sie genügt, diese beiden –« er wies auf Frau Latham und ihren Schwager – »des ihnen zur Last gelegten Verbrechens zu überführen.«

Die kleine Gestalt der Frau richtete sich hoch auf. Kreideweiß im Gesicht aber mit unzerstörbarer Ruhe erwiderte sie: »Noch haben Sie nicht den Beweis erbracht, daß meine Ansprüche auf die Prisleyerbschaft keine rechtmäßigen sind. Der ältere Herr Brierly ist nachweisbar gestorben.«

»Und selbst dann,« hielt Ferrars ihr ruhig entgegen, »könnte die zweite Frau Gaston Lathams nicht erben und ihr Bruder, der sich für ihren Schwager ausgibt, die Erbschaft nicht mit ihr teilen. Doch genug! Gestern abend belauschte ich Sie im Nebenzimmer eines gewissen Cafés und weiß genau, daß die Tochter der Frau Cramer, die nach den Brierlys geerbt hatte, tot ist. Sie haben das Spiel verloren, Harry Levey! Sie und Ihre Schwester versuchten das Glück zweier Frauen, das Leben zweier Männer zu zerstören. Sie wagten ein gefährliches Spiel, doch der letzte Trumpf gehört mir! Und nun, Frau Jamieson – –«

Weiter kam er nicht, denn Harry Levey sprang mit einem gewaltigen Satz der Tür neben dem Pult zu. Ferrars zog den sich heftig Sträubenden zurück, während auf der Schwelle ein Mann und ein junges Mädchen erschien. Es waren Ruth Glidden und Robert Brierly. Bei seinem Anblick stieß die Frau, die, ohne mit der Wimper zu zucken, die schwere Anklage und Überführung eines furchtbaren Verbrechens hatte über sich ergehen lassen, einen markerschütternden Schrei aus. Dann sank sie bewußtlos zu Boden.

Ruth Glidden eilte zu ihr hin, kniete neben ihr nieder und suchte sie aufzurichten.

Inzwischen rang Harry Levey wie ein Verzweifelter gegen vier Polizisten, die inzwischen eingetreten waren, aber schließlich wurde er überwältigt und gefesselt fortgeführt. Nun erst wandte Ferrars seine Aufmerksamkeit Frau Latham zu. Sie rasch aufhebend trug er sie von Ruth gefolgt ins Nebenzimmer, wo er sie auf ein Sopha niederlegte. »Bringen Sie bitte ein Glas Wasser,« bat Ruth, »und dann lassen Sie mich mit ihr allein.«

Nachdem dies geschehen war, trat Robert Brierly zu Ferrars. »Wer ist diese Frau?« fragte er, »und wie ist sie in unsere Angelegenheit verwickelt? Es ist nun wohl Zeit, daß ich die volle Wahrheit erfahre.«

»Allerdings!« nickte der Detektiv. »Sie kannten diese Frau unter dem Namen Jamieson, als sie sich in Amerika aufhielt, um Sie und Ihren Bruder aus dem Wege zu räumen. Sie nahm ihren Bruder, den Mann, den wir soeben verhafteten, mit, und er war es, der Sie damals in Chicago zu töten versuchte.«

»Aber die Frau?« Brierly stockte.

»Erschoß Ihren Bruder. Das unterliegt keinem Zweifel.«

Der junge Mann schauderte. »Mein Gott! und ich dachte – –«

»Sie dachten,« ergänzte Ferrars, »daß ich mich für dieses Weib interessierte. Das tat ich allerdings, wenn auch in einem anderen Sinne. Ich hatte Frau Latham vom ersten Augenblick an im Verdacht und Hilda Grant teilte meinen Verdacht.«

Im Nebenzimmer war die Bewußtlose langsam wieder zu sich gekommen. Ruth beugte sich über sie. »Trinken Sie das, Frau Jamieson,« sagte sie, ihr ein Glas Wasser reichend.

Ein Zittern durchlief den Körper der Frau. Sie richtete sich halb auf und trank in gierigen Zügen. »Sie haben mich erkannt?« fragte sie dann. »Woran?«

»An Ihrer Stimme und an dem, was Herr Ferrars sagte.«

»Ferrars? Wen meinen Sie?«

»Den Herrn, der sich Ihnen gegenüber Grant nannte. Ahnten Sie nie, daß er ein Detektiv war?«

»Und er wußte alles!« stieß Frau Jamieson halblaut hervor. Sie richtete sich voll auf und wie einst in einem anderen Lande rang sie verzweifelt die Hände, während sich ein Ausdruck bitterster Seelenqual in ihren Zügen malte. Ein Weib vermag zu lieben und zu leiden, auch wenn es in Sünde und Schmach verstrickt, auch wenn es zur Mörderin geworden ist.

Erschrocken über das Aussehen der unglücklichen Verbrecherin wollte Ruth Ferrars herbeirufen, doch Frau Jamieson wehrte es ihr. »Noch nicht – ich kann ihn jetzt nicht sehen. Warten Sie – –« Sie sank kraftlos aufs Sopha zurück und begann dann an ihrer Uhrkette zu nesteln. Plötzlich stöhnte sie leise auf. »Mein Riechfläschchen, – meine Tasche!« stammelte sie. Ruth eilte an die Tür und ließ sich das Verlangte von Ferrars reichen. Als sie damit zu Frau Jamieson zurückkehrte, trank diese den Rest des Wassers aus, dann hielt sie Ruth ihre kleine goldene Uhr hin. »Sehen Sie,« sagte sie mit langsamer, monotoner Stimme, »seit Jahren habe ich so mancher Gefahr ins Auge geschaut, war ich auf einen schlimmen Ausgang vorbereitet. Aus Feigheit hielt ich mir stets einen Weg offen.« Während sie noch sprach, entglitt die Uhr ihren kraftlosen Fingern, ihr Mund zuckte heftig, eine fahle Blässe überzog jäh ihr Gesicht. Wieder eilte Ruth erschrocken zur Tür.

»Lassen Sie ihn noch nicht herein!« stammelte die Sterbende, dann sank sie lautlos zurück. Ruth riß die Tür auf, Ferrars und die anderen Herren herbeirufend. Stumm umstanden sie das Weib, das sich selbst gerichtet hatte, dessen verlöschender Blick dem Einen galt, den es im Leben geliebt hatte. –

*

Vier Wochen später stand eine Gruppe von fünf Personen auf einem nach Amerika fahrenden Dampfer. Sie begrüßten einen Herrn, der eben zu ihnen trat und der jungen Frau, die sich vor wenigen Tagen in aller Stille mit Robert Brierly hatte trauen lassen, besonders warm die Hand drückte. »Sie haben sich Ihr Glück tapfer erkämpft,« sagte er zu ihr, »mögen Sie es nun in der Heimat ungestört genießen!« Alsdann wandte er sich zu Meyers: »Ich habe Ihnen, ehe wir scheiden, noch eine Mitteilung zu machen: Harry Levey hat sich der ihm gebührenden Strafe entzogen.«

»Wieso? Ist er entschlüpft?«

»Er ist tot. Krankheit vorspiegelnd ließ er sich in die Hospitalabteilung bringen, von wo aus er einen Fluchtversuch unternahm, der jedoch mißglückte. Er wurde entdeckt und bei der Verfolgung traf ihn die tödliche Kugel.«

»Vielleicht besser so,« bemerkte Meyers. »Sie haben sich beide selbst gerichtet.«

Ferrars wandte sich nun zu Hilda Grant. »Ich hoffe, es wird kein Abschied für lange sein,« sagte er freundlich. »Und wenn ich wieder herüber komme, werde ich dann noch meine Cousine dort finden?«

Das junge Mädchen reichte ihm mit dankbarem Lächeln die Hand. »Die werden Sie immer finden.«

Die Trennungsstunde hatte geschlagen. Ein letzter Händedruck, ein letzter Gruß, dann schwamm das stattliche Schiff dem weiten Ozean zu. Ferrars wollte noch einige Zeit in London bleiben, zum Frühjahr jedoch, so hatte er seinen Freunden gesagt, hoffe er sie alle wiederzusehen. Der Plan, durch den die kaltherzige Witwe in den Besitz von Reichtümern zu gelangen suchte, war schlau ersonnen gewesen. Die wirkliche Erbin war in einem abgelegenen Erdwinkel gestorben, ohne Freunde, die ihre und ihrer Kinder Interessen wahrgenommen hätten. So hatte denn Harry Leveys schöne Schwester, gleich ihm ein Abenteurerleben führend, den Gatten der Verstorbenen Gaston Latham umstrickt und sich an Stelle der ersten Frau gesetzt. Dann kam die unangenehme Entdeckung von dem Vorhandensein näher berechtigter Erben in Amerika, die zu beseitigen das habgierige Weib alles aufs Spiel setzte und zwar mit einer Kühnheit und schlauer Überlegung, die sogar die Bemühungen eines Ferrars beinahe zu nichte gemacht hätten. Allein – so fein der Plan auch ersonnen – er endigte schließlich doch mit der Entlarvung des verbrecherischen Geschwisterpaares. –

»Ferrars ist ein sonderbarer Kauz,« bemerkte Robert Brierly zu seiner jungen Frau, als sie eines Abends im Mondschein zusammen auf dem Verdeck des Schiffes saßen, das sie der Heimat zutrug. »Weißt Du, daß er der Einzige war, der dem Sarge jenes Weibes folgte? Er fuhr allein in einem Wagen hinterher. Geschah es aus Mitleid, aus Teilnahme?« Zum erstenmal seit jener tragischen Stunde in Haynes Bureau erwähnte er das Weib, das seinen Bruder gemordet hatte. Ruth schwieg einen Augenblick, dann erwiderte sie: »Er tat es, weil er ein guter Mensch ist, weil sie keinen Freund auf Erden besaß und weil – sie ihn geliebt hat.«

Nach einer langen Pause fuhr sie fort: »Hast Du je daran gedacht, Robert, ob die Freundschaft zwischen Hilda und Ferrars eines Tages noch etwas anderes werden könnte?«

Brierly schüttelte den Kopf. »Das wird nie sein und ich will Dir auch erklären, warum. Bevor wir uns trennten, sagte Ferrars zu mir: »Wir haben einen Freund in Glenville, den wir nicht vergessen wollen. Laden Sie ihn mal zu sich ein. Und wenn die Zeit kommt, daß sie, die einst Ihre Schwester hätte werden sollen, die Trauer ablegt, dann helfen Sie Dr. Barnes, sich ihr zu nähern. Er hat sie von jeher geliebt.«

Ruth seufzte leise. »Ferrars hat recht,« erwiderte sie halblaut. »Hilda ist zu jung, um allein und liebeleer durchs Leben zu gehen. Dr. Barnes ist ein guter, edelherziger Mann, der unsere Hilda sicher glücklich machen wird. Ich glaube, wir können beide getrost der Zukunft und ihren eigenen Herzen überlassen.«

 

Ende.

Logo


 << zurück