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Viertes Buch
Der Herrschende

»Bismarck macht Deutschland groß und die Deutschen klein.«

G. von Bunsen

 

I

»Graf Bismarck-Schönhausen würde es dankbar erkennen, wenn der Abgeordnete ... ihn vom 24. April ab abends 9 Uhr jeden Sonnabend während der Dauer der Reichstags-Session besuchen wollte.«

Diese Einladung, nach Eröffnung des Norddeutschen Reichstages zum erstenmal versandt, erregte Unruhe, Begeisterung und Widerspruch unter den Volksboten, dergleichen war in Deutschland neu, Simson erklärte: natürlich Frack, zur Wahrung der Würde. Bismarck wollte weder Frack noch Würde, sondern eine wöchentliche Börse für Politiker, auf der man »in zehn Minuten in einer Salonecke erledigen kann, was sonst eine Anfrage im Reichstage nötig machte«.

Schon lange nahm er keine Einladungen mehr an, ging kaum noch zu Hofe, trug sich übrigens lieber in langem Rock mit undefinierbarem Halstuch oder in einem Potpourri von Uniformstücken, das Moltkes Lächeln erregte; so führte ihn der nervöse Wunsch des verwöhnten, alternden Mannes, der Stolz des Autokraten, lieber Wirt als Gast zu sein und niemals danken zu müssen, zugleich geschäftliche Schlauheit und Berechnung persönlicher Suggestion zu dem Entschluß, seinen Hauptfeind alle Wochen unter das eigene Dach zu laden.

Denn wenn Bismarck schon im Jahrzehnte der Kriege Virchow und Duncker feindlicher empfand als Napoleon oder Franz Joseph, so trat nun mit Anbruch der zwei Jahrzehnte des Friedens der Reichstag in Front zu ihm. Schon daß er allein gegen ein paar Hundert stand, belebte Bismarcks Kampflust, denn daß er seinen Gegnern erst einfach ihr Haus verschlossen hatte und den Schlüssel eingesteckt, hat ihn keineswegs befriedigt; er brauchte vielmehr Widerspruch, er mußte schimpfen und seufzen können, um sich wohl zu befinden; er hätte bei absoluter Regierung selber dergleichen erfunden und geschaffen, um sich daran zu reiben. Wenn man in den nächsten zwanzig Jahren Bismarck stets unzufrieden, immer stöhnend finden wird, so erhöht doch dies Bewußtsein steter Friktionen das Lebensgefühl des Kämpfers; ohne diese immer neuen Schlachten im Innern hätte er Zusammenstöße nach außen weniger entschlossen verhindert.

Und doch liegt in dieser nie ermüdenden Tapferkeit zugleich der tiefere Grund seiner Mißgriffe mit beschlossen. Weil Bismarcks Menschenfeindschaft mit steigendem Alter zur grimmigen Menschenverachtung stieg, weil er nie einen Gegner in seiner Stellung, noch weniger in seinen Talenten anerkannte, weil er immer weniger zu verhandeln, immer mehr zu befehlen gestimmt war, verdunkelte sich sein Blick vor dem Wandel des Zeitgeistes, vor den logischen Gedanken und Wünschen anderer Menschen und Klassen. Nach außen hatte er nie einen Gegner unterschätzt, nie eine Aktion anders als mit überlegnen Kräften, Kanonen oder Koalitionen gewagt; nach innen fängt er nun an, es zu wagen. Weil seine gesetzlose Epoche erfolgreich war, steigern ihn seine Erfolge in solche Nichtachtung alter und neuer Gegner hinein, die ihn am Ende stürzen werden. Daß Bismarck Macht vor Recht gehen ließ, hat ihm Europa nachsehen müssen, weil Roons Kanonen, Moltkes Zündnadelgewehre und der Drill gehorsamer Preußen den Erdteil dazu zwangen; daß er aber Macht vor Geist setzte, dafür hat sich sein eignes Volk am Ende gerächt.

So hat er selber, seinen Charakter auf sein Land projizierend, aus dem Reichstag statt eines Werkzeuges den Todfeind gemacht, – Saturn, wie er die eignen Kinder frißt, so zeichnete ihn eine Karikatur, – so hat er sich alle Parteien nacheinander entfremdet, Bündnisse mit derselben Realistik je nach Lage im Inneren geschlossen und gebrochen, wie es ihm zuweilen nach außen nötig schien; so hat er allmählich alle Klassen des Volkes mißtrauisch gemacht, indem er im Wahlkampf alle fünf Jahre sich gegen einen andren Teil wandte, und während sein Genie als Europäer den Erdteil in Erstaunen, zuletzt in eine Art von Ehrfurcht zwang, erbitterte die Autokratie seiner innern Politik das Volk, das seine Künste in der äußern nicht zu erkennen vermochte. Hier konnte er allein beim Schach der Großmächte sitzen, verschwiegen, nur noch dem alten Könige verantwortlich, den er hinter sich herschleifte; dort, im Innern aber mußte jede Maßregel erst beantragt, dann verteidigt werden, wobei er dem Reichstag aus bloßem Haß gegen den oder jenen Führer ebenso viel verweigert, wie der Reichstag ihm aus dem gleichen Gefühl. Man ist Diktator oder Parlamentarier; nicht beides.

In den weiten, wenig geschmackvollen Räumen des Reichskanzlerhauses drängen sich am Sonnabend die Vertreter des Volkes, auch ein Teil der Opposition, angezogen vom großen Gegner wie vom ungewohnt reichen Büfett, das der Hausherr als politisches Quietiv mit Vorbedacht einführt. Jeden Gast begrüßt er überaus höflich, zuweilen mit bewußter Feierlichkeit; er erkennt jeden, ohne sich immer seines Namens zu erinnern, und vergleicht deshalb sein Auge mit der Wirkung des modernen Gewehres, sein Gedächtnis aber mit einer langsam feuernden Flinte. Nach dem Entree wird alles formlos, niemand bietet an, jeder geht an das Münchner Faß, um den Zapfen selber zu drehen, selten stören Damen die Ungeniertheit dieses klubähnlichen Abends; gegen Mitternacht pflegt der Gastgeber vor einem großen Kreise allein zu sprechen, Vergangenes erzählend, Geplantes skizzierend, immer wie ein Star unter Kollegen; die es auch so weit bringen möchten.

Da sitzt er, halb liegend, auf seiner großen Chaiselongue, die lange Pfeife in der Rechten, in einer Wolke von Zeitungen, die ihn nie verläßt, dem Chor gegenüber ein Solist, dessen forschende Blicke zwischen einigen Dutzend Augenpaaren hin und wieder gehen und die Hauptfeinde immer im Auge behalten. Da er indessen auch im Waffenrock keine Waffen trägt, so ist es für alle Fälle gut, ein paar Wächter neben sich zu haben: so, als Verteidiger ihres Herrn, immer wach, immer kampfbereit erscheinen die beiden Reichshunde, große schwarzgraue Doggen, vor, neben oder unter ihrem Herrn gelagert und an parlamentarischen Abenden, gegenüber hundert Gesichtern ohne Wohlwollen, sich entschieden im Dienste fühlend. »Er aß und trank reichlich dazu, schreibt ein Freund des Hauses, und sah, wenn er sich eine Pfeife bringen ließ, wie ein Patriarch unter seinen Jüngern aus.«

Die hier im Kreise sitzen und stehen, tragen sehr verschiedene Köpfe, die sehr verschiedene Schicksale geschaffen haben.

Dieser dort, schlank und gerafft, ein rötliches Gesicht, von dunklem Vollbart eingerahmt, die hohe Stirn fast kahl, könnte mit seinen klugen Augen, dem freundlich ernsten Ausdruck für einen Humanisten gelten, aber gewisse Bewegungen, auch eine breite Narbe im Gesicht lassen doch auf einen adligen Offizier schließen, und in der Tat ist er beides: es ist Rudolf von Bennigsen, einer der besten Menschen und Köpfe dieser Zeit. Verschlossen und männlich, nobel und treu wie Roon, natürlich in bescheidenem Selbstgefühl, scheint er zur Leitung eines Ganzen gemacht, bringt aber, da er im entscheidenden Momente den Sprung ins Kabinett nicht wagt, sein Leben an der Spitze einer Partei zu, die er durch seltene, meist feierliche Reden, großen Fleiß in Kommissionen, ständigen Umgang mit allen Kollegen als der geborne Mittelsmann fördert: die Mittelpartei der Nationalliberalen, und in dieser wieder die ruhende Mitte zwischen beiden Flügeln.

Bismarck findet ihn zu weich, auch ist ihm seine Ästhetik, sein Mangel an Leidenschaft unheimlich, und wenn er ihn für einen deutschen Idealisten hält, der am Ende doch besser denkt als handelt, so hat er recht; mit Siebzig wird sich Bennigsen noch einmal auf die Göttinger Studentenbank setzen und lernen. Aber vor diesem niedersächsischen Generalssohn, dessen Ahnen so alt sind wie die Bismarcks, hat er doch eine Art von Respekt; auch daß er Hannover, seine Heimat, für Deutschland aufgibt, ohne Preußen zu lieben, versteht der Mann, der Hannover zu Preußen schlug; zuweilen nennt Bismarck ihn sogar »Verehrter Freund«. Daß er aber eine Partei führt, die ihn nicht unbedingt bekämpft, als sie ihm nicht mehr folgen will, das wird Bismarcks Natur nie begreifen: da nennt er ihn einen dummen Kerl.

Derber und kühler erscheint der Mann neben ihm, mehr Wille spricht schon aus der langen festen Gestalt, und das struppige Haar, das eben grau wird, scheint wie ein trotziger Akzent auf die Erscheinung gesetzt. Denn kämpferisch wie Bismarck, hochgemut und abweisend, nur jünger ist Wilhelm von Kardorff, und wenn er keine Brille trägt, raffen und fassen diese graublauen Augen wie jene. Aber mitten in den gebräunten männlichen Zügen steckt etwas Bläulichweißes und zieht den erschrockenen Blick des Fremden auf sich: es ist eine künstliche Nase, und sie erinnert an einen Sauhieb seiner Kavaliersjugend.

Der Wunsch nach Unabhängigkeit hat ihn vor Bismarcks Fängen bewahrt, den er durch Temperament und Klugheit anzog. Nur so konnte er die Freundschaft erhalten, die er im Amt verloren hätte, und wird dem Hause noch treu bleiben, wenn die andern Junker sich der neuen Sonne zuwenden werden. Beweglicher als seine Klasse saß Kardorff zwischen den rechten Parteien und wagte manchen Ausflug in freiere Luft, blieb aber wirtschaftlich in ostelbischen Vorstellungen verhaftet und hat auf Bismarcks Wendung zum Schutzzoll eingewirkt.

Der Orientale, der neben diesen deutschen Adligen steht, hager, dunkel, mit etwas spitzen Zügen: Eduard Lasker hatte, als der gleichaltrige Bennigsen auf den ererbten Gütern reiten und fechten lernte, als Knabe in einer Posenschen Kleinstadt den Talmud studiert und Schillers »Teilung der Erde« in hebräische Verse übertragen; kein Wunder, daß er der schärfere Jurist, der spitzere Geist, Führer des radikalen Flügels, bald Bennigsens heimlicher Rivale wurde. Als Kritiker, Debatter und Redner ihm überlegen, Idealist des Rechtstaates, während jener der des Nationalstaates heißt, sozialer, aber nicht minder vaterländisch, gleicht er neben jenem Führer einem Generalstabschef, ist sachlich und bedürfnislos, aber auch herrschsüchtig und schon deshalb Bismarck antipathisch, der wohlbeleibte Männer um sich wünscht.

Ein Glaubens- und Parteigenosse hört neben ihm mit bleicher Skeptikermiene zu. Diesem vornüber geneigten älteren Manne mit den schmalen Schultern, der eingesunkenen Brust, den etwas gedunsenen und doch hageren Zügen würde niemand seine Achtundvierziger Vergangenheit glauben, noch weniger die großen Turnversammlungen, die er damals abgehalten; es waren auch nur politische Sprünge und Wellen, und er dürfte sich auf die Glocke des Präsidenten beschränkt haben und die rhetorische Fahnenweihe. Aber damals war Ludwig Bamberger doch, trotz Bluthusten und Fieber, vom inneren Feuer zu den Radikalen getrieben worden; um dieses Feuers willen mußte er fliehen, wollte nach Amerika, blieb aber bei reichen Verwandten in London hängen und wurde mit 26 doch lieber Lehrling in deren Bankhaus, wird reich und kommt noch vor dem Kriege nach Paris, wo sein schweifender Geist anhält und sich an Witz, Stil, Ironie und eleganten Frauen der Weltstadt entzückt, wo sich dem Mäzen alle Kreise eröffnen.

Von nun an nimmt der einst über die Kräfte Aktive das Leben als Schauspiel, in dem er nur zuweilen, bei guter Laune, mittun möchte. Die französische Sprache, die er, heimatlos und Gast aller Kulturen, wie die Muttersprache spricht und schreibt, begünstigt sein geschmeidiges Talent zu beidem. Von der Amnestie zurückgeführt, wird er in Deutschland nationalliberal, erlebt den Krieg fast wie ein Neutraler und schreibt vertraulich den tiefen Satz: »In Paris sitzt die Romantik katholischen Geblütes, in Versailles, im deutschen Hauptquartier der Radikalismus eines Emporkömmlings. Paris ist die Bastille, die gestürmt wird, Favre und Gambetta die Legitimität, Wilhelm und Bismarck die Revolution.« Trotzdem wird er in dieses Hauptquartier berufen, weil Bismarck sein großes Wissen in Bankfragen nutzen will. Leidenschaftslos nennt Bamberger diesen »eine Mischung von Stuartischem Kavalier, preußischem Leutnant, deutschem Feudalherrn und spanischem Don Quijote« – und erkennt dennoch jetzt und später seine Größe, obwohl ihn Bismarck im Grunde nicht leiden kann.

Viel verhaßter freilich ist ihm die Ruhe jenes jungen, bärtigen Kopfes, den er nur sehr selten in seinen Räumen zu sehen braucht; gewiß, heut wird er stundenlang nicht einschlafen, weil dieser Mensch, im Kreis etwas zurückstehend, ihn durch die blitzende Brille mit seinen kritischen Blicken harangiert: Gesundheit, Jugend, Kampfesfreude dringen hier in den Alten und machen ihn eifersüchtig. Aber hinter dieser Stirne weiß er unheimliche Sachkenntnis, in diesem Herzen eine Unbestechlichkeit wohnen, die dem Kompromiß des Gedankens auf Kosten der Grundsätze widerspricht: denn es ist Eugen Richter, in den Konfliktsjahren als Bismarck-Opfer diszipliniert, entlassener Landrat, als unbestätigter Bürgermeister um Amt und Einkommen gebracht, weil er gegen polizeiliche Willkür schrieb, dann Journalist, Gegner Lassalles, während dieser mit Bismarck verhandelte; ein Freund des Gemeinwohls, der bis zur Nüchternheit weder sich noch die Macht, nur immer die Sache will, darum erst Lassalle, nun Bismarck gefährlich nachspürt, und weniger den Stand der Junker, als das persönliche Selbstgefühl dieses Junkers ducken möchte, was ihm durch zwanzig Jahre mißlingt. Darum verläßt Bismarck bei Beginn von Richters Reden den Saal; liest er aber andern morgens beim Frühstück den Angriff, etwa eine Kritik der Heeres vorläge, die der Redner mit Zahlen beschwert, dann mit Enthüllungen erleichtert, so fährt er gleich in den Reichstag, um zurückzuschlagen: »Leider hat der Herr Abgeordnete Richter immer zwischen Häusern und Zeitungen gelebt und ist dem praktischen Leben entfremdet; dieser Selbstherrscher der demokratischen Partei lebt von Übertreibungen und Alarm, immer ist in seinen Reden ein Stachel verborgen.« Worauf Richter mit beleidigender Ruhe: »Ist dem Herrn Reichskanzler bekannt ...?«

Vielleicht sieht der Herr Reichskanzler jetzt hinter dem Rücken seines Gastes die Schatten zweier Anderer auftauchen, die an diesem Büfett freilich wie Bancos Geist erschienen und lieber gar nicht kommen, denn mit ihnen gibt es keine sachlichen Debatten, nur das böse Grollen zweier Welten widereinander, unversöhnlich, in der Erkenntnis: ich oder du! Und doch kann Wilhelm Liebknecht, einer der Schatten, seine Ahnen solange zurückrechnen wie Bismarck, und trifft, wenn er rechnet, auf einen Mann, der Bismarck ähnlicher ist als seine eigenen Raubritter-Väter, auf Luther, dann auch auf viele deutsche Gelehrte, als deren Erbe Liebknecht Korpsstudent wurde. Früh verwaist nach harter Jugend, – und doch, wie leicht war der Weg dieses strebenden Jünglings, wenn er im Stile seiner Klasse weiterging! Aber da ist dies verteufelte Vorurteil der Idealisten, daß es auf das Wohl aller Menschen ankäme, nicht nur auf das der eignen Klasse: so wird man schon mit Zwanzig als Kommunist ausgewiesen, Zürich, Paris, Achtundvierzig, badischer Aufstand; da steht der 22 Jährige mit der Fahne, ruft die Republik aus und wird nachher nur durch Zufall nicht mit den Komplizen erschossen, wie 70 Jahre später sein Sohn für die Mitgründung derselben Republik ermordet werden soll.

Welches Leben führen solche Naturen! Immer vor bösen Richteraugen, zwischen Gefängniswärtern, vor dem schwarzquadratierten Himmel, frei nur im Ausland, in das sie geflohen oder verbannt sind, – und doch zu ihrer Tat grade im Vaterlande berufen, das sie nicht minder lieben als die Legitimen! Auch wer die Zerrungen kennt, die Bismarcks Nerven in vierzigjährigem Kampfe dulden müssen, das Stöhnen dieses zum Herrscher geborenen Dieners, der sieht ihn doch den Tag und das Jahr in immer breiteren Formen des Lebens genießen, Wald und Schloß, die Tafel und den Wein, in denen er sich regenerieren kann, König und Nation wetteifernd, um ihn zu beschenken. »Wenn ich nach unerhörten Erfolgen arm bin, ruft dagegen Liebknecht vor seinen Richtern aus, so bin ich stolz darauf«, und wirklich läuft dies Leben, nach Rückkehr aus zwölfjähriger Verbannung, materiell arm dahin, nur durch Geist erleuchtet, nicht durch Güter, nicht einmal durch Macht; nur durch den Glauben.

Wenn sie sich als zwei Unbekannte träfen, auf einem Waldweg in der Fremde, Bismarck und Liebknecht, würden sie sich zuerst recht gut verstehn: beide lieben die Bäume, kennen die Vögel, und wenn die Rede auf Deutschland käme, auch Deutschland lieben sie beide. Doch rasch würde der Realist den Agitator, der Zyniker den Gläubigen, der Rechner den Phantasten durchschauen, und wenn es nun die Entscheidung gälte, ob man den Waldweg durchtrotzen oder umkehren sollte, gerieten sie gleich widereinander, denn Autokraten sind im Grunde beide.

August Bebel ist es weniger. Er hat keinen Revolutionär im Stammbaum wie Liebknecht, auch keinen Humanisten, vielmehr ist ihm der Gehorsam anerzogen, denn er ist in den Kasematten einer Festung beim Unteroffizier geboren, sollte von Bluts wegen Order parieren, und so treibt den Drechslergesellen nichts als Wissensdurst in den Bildungsverein der Arbeiter. Da klärt sich aber in einem hellen Kopfe schnell Grund und Schuld der eigenen üblen Lage, Groll löst die Zunge, man stachelt die Kameraden auf, kommt in den Reichstag, sucht zugleich sein Geschäft zu betreiben, aber erst Bismarck verhilft ihm zur Ruhe wirklicher Studien, die ihm fehlen: auf der Festung, die ihn nach solcher Kindheit nicht schreckt, begegnet er dem viel älteren Liebknecht, den man mit ihm zusammengesperrt hat, und nun lernt sein Kopf von dem Mitgefangenen theoretische Lehren, für die sein Herz schon gekämpft hat und seine Freiheit schon büßt. Zwei Jahre hat Bismarck ihnen aufbrummen lassen: in dieser Spanne kann man mit Marx, der eben Liebknechts Lehrer in London gewesen, schon fertig werden.

Aber der Sohn des Volkes bleibt praktischer und fähiger zur Wandlung als der Gelehrten-Erbe, sein Menschenverstand ist derber, klarer, seine Kritik simpler und volkstümlicher als die seines neuen und seither immer festgehaltenen Freundes; beiden ist der Glaube gemeinsam, Opfermut, Hingabe von Freiheit und gesunden Gliedern, und wenn Bebel, der mehr als fünf Jahre gesessen hat, in einer Zerrüttung der Nerven nicht schlafen kann, »dann dachte ich oft an Bismarck, der damals auch an Schlaflosigkeit und an neuralgischen Schmerzen litt«

Aber die Schatten weichen, und die Gäste brechen auf, man reicht dem Hausherrn die Hand, man geht: da bewegt sich in einem Sessel, den er den ganzen Abend nicht verlassen, ein Männchen, jetzt ist es aufgestanden, zwergenhaft und mit kleinen Schritten vorwärts strebend, steht es bald vor seinem Gastgeber: der Gnom vor dem Riesen. Nun heben sie die Hände, mit denen der Große den Kleinen zerschmettern, der andere diesen mit magischen Kräften zerdrücken möchte, zum artigen Gruß. Und nun, im letzten Augenblick, erhebt die kolossale Erscheinung ihre Stimme, um dem Zwerg ein Orakel zu entlocken: da steht Windthorst, auf dem armen, kleinen Leib einen Riesenschädel, darin ein breiter Mund, der zu schweigen liebt, aus grauen, wie erloschenen Augen blickt er durch überscharfe Gläser ins Leere, den andern sieht er kaum und sieht ihn darum auch nicht an, aber wie das Männchen steht und zuhört, die rechte Hand über der Brust in den langen schwarzen Rock geschoben, kann der gewaltige Mensch vor ihm auf seinen Zügen ein Flimmern erkennen, das kleinste Zucken dieser immer beseelten Fläche, und wenn der kleine Mann dann den Mund auftut, so erwidert eine feste, etwas knarrende Stimme jener allzu hohen und feinen, die eben aus Bismarcks Munde kam.

Da sie beinahe nichts sieht, so hat die kleine Exzellenz Ohr und Gedächtnis doppelt geschärft, erkennt im Reichstag die Stimme jedes Zwischenrufers, behält, da sie auf der Tribüne keine Notiz benutzen könnte, jeden Einwand im Kopfe und wird den Gegner am Ende seiner Rede sicher lächerlich machen. Nicht umsonst ist man Sohn und Erbe von Juristen, das Schwinden der Gestalt, die angeborne Augenschwäche spornen vollends zur Übung des Geistes, um zu ersetzen, was dem Leib gebricht. So hat der junge Windthorst in Göttingen emsig studiert, für 4 Groschen zu Mittag gegessen, nie getrunken, während gleichzeitig an derselben Stätte der junge Bismarck, nur auf Körperkraft und Mut vertrauend, das Geld seines verarmten Vaters vertrunken und im Karzer seine Übeltaten keineswegs gebüßt hat; so daß jener mit Dreißig schon Oberappellationsgerichtsrat war, als dieser noch durch Ritte, Stürze und Gelage den pommerschen Komtessen zu imponieren suchte.

Nach dem Urteil seiner Freunde war er gläubig, doch keineswegs intolerant und viel zu humorvoll für Prophetengesten; überhaupt machte seine Ironie, die er im Kampf zum kalten Spott erhob, vor sich selber nicht Halt, er amüsierte sich über seine »kleine Person«, seine Häßlichkeit, lachte dann wie ein Schalk, liebte leichte Musik, neckte Damen mit dem anmutigen Ungeschick verwachsener Wesen, hatte aber statt deren überlieferter Bosheit nur einen untrüglichen Blick für die Schwächen der Mitmenschen, ohne sie darum, wie Bismarck, zu verachten. Vielleicht war sein Selbstgefühl nicht kleiner; in der Partei, die er führte, galt er für herrschsüchtig, war vielleicht auch weniger Staatsmann als er glaubte, mehr parlamentarischer Advokat, wie einer seiner Freunde sagt, doch als solcher ein Taktiker ohnegleichen. Körperlos, wie er erschien, brauchte er für diesen Körper nichts zum Schutze, den Bismarck im persönlichen Mute fand, und schien durch solche Vergeistigung der Grundtatsachen zum Anwalt der geistlichen Macht geboren. Er übertrieb die Vorsicht, schrieb Briefe fast nie oder beschwor den Empfänger, sie sogleich zu verbrennen; doch daß er keine Kutte trug, enthob ihn der Demut und machte ihn zum Vorkämpfer, ohne daß er prophetisches Feuer zu affektieren brauchte. War er zum Reichstag in Berlin, so ging er jeden Sonntagvormittag erst in die Hedwigskirche, dann zu Bleichröder; in dieser Benutzung des Ruhetages dokumentiert sich dieser sehr weltliche Glaubenskämpfer, der doch nie etwas für sich zu erhaschen trachtete.

Windthorst ist der einzige gewesen, der Bismarck persönlich besiegt hat; daher der nie verwundene Groll des Besiegten. »Haß, sagte er, ist ein so großer Ansporn zum Leben wie Liebe: mir sind unentbehrlich meine Frau und Windthorst.«

II

Aus drei Siegen stiegen gefährliche Wolken empor; Bismarck erkannte sie in Augenblicken, hielt aber für möglich, sie durch persönliche Macht abzuwenden. 20 Jahre zurück, und der König von Preußen hatte ihn als brauchbar zum Minister bezeichnet, »nur wenn das Bajonett schrankenlos waltet«; 10 Jahre zurück, und der andere König hatte ihn mißtrauisch eingesetzt, um den starken Mann im Innern zu haben; seitdem hatte er die Diktatur nach außen benutzt, um dreimal siegreich zu schlagen. Ist es erstaunlich, daß ein solcher Mann zu seinem Ausgangspunkte zurückkehrt, sich stark genug zur Diktatur im Innern fühlt? Ist es erstaunlich, daß es mißlingt? Stolz darauf, von keiner Doktrin abzuhängen, verkannte er die Gefahr, auf keiner Weltanschauung zu ruhen, und wie er nur viele Parteien mit gleicher Verachtung vor sich sah, entging ihm, daß er keine hinter sich hatte. Da er ohne sozialen Grundgedanken, nur frisch von den Kanonen kam, war dieser große Architekt weniger befähigt, das eigene Haus im Innern einzurichten.

In seinem absoluten Selbstgefühl liegt der tiefere Grund. Solange er in Staaten denkt, sieht Bismarck sich gleichgestellten Gegnern gegenüber und als Schachspieler drüben immer die adäquate Macht, die es zu überlisten gilt oder zu vernichten; im Innern aber fühlt er sich an Wissen, Energie und Kunst im vorhinein jedermann überlegen. Draußen leben große Mächte, die man gewinnen muß, drinnen sind kleine Leute, die nicht widersprechen dürfen, draußen steht man formell unter Gleichen, die berechtigt sind, Deutschlands Gegner zu sein, drinnen kann niemand besser deutsch verstehn: da schickt es sich nicht, die Wege zur Größe des Landes zu durchkreuzen, wenn sie der Meister zeigt. In jenen statischen Fragen Deutschlands in Europa ist er Künstler, in diesen sozialen Problemen Europas in Deutschland ist er Diktator; gewohnt, zwar mit Größen zu rechnen, aber nicht mit Ideen, mit Mächten, doch nicht mit solchen in Zivil, entbehrt er jeder Hingabe und stabiliert innerlich seine eigene Souveränität wie einen rocher de bronze.

Die erste Schlacht verliert er gegen die Kirche.

In Versailles saß eines Tages dem Kanzler der Bischof von Mainz gegenüber, ein katholischer Junkersproß in der Kutte vor dem lutherischen Junker in Uniform; er suchte gewisse Artikel zum Schutze seiner Kirche in die Reichsverfassung zu bringen, und ließ, als er nichts durchsetzte, die Rede aufs Dogmatische gleiten:

– Nach dem Tode sind, wie Exzellenz wissen, die Bürgschaften für die Katholiken stärker als für andre.

Schweigen, Lächeln.

– Oder glauben Sie etwa, daß ein Katholik nicht selig werden könne? – Jetzt erklärt sich der Protestant:

»Ein katholischer Laie unbedenklich; ob ein Geistlicher, ist mir zweifelhaft, in ihm steckt die Sünde wider den Heiligen Geist, der Wortlaut der Schrift steht ihm entgegen.«

Diese scherzhaften Worte erwidert der Bischof mit ironischer Verbeugung. Zwei Staatsmänner in Verkleidung, als General und Bischof angezogen, durchschauen einander und lächeln; aber unter Spiel und Lächeln grollt schon Bismarcks antikatholisches Fühlen. Zugleich sucht er damals den vom »Räuberkönig« bedrängten Papst nach Köln oder Fulda einzuladen, denn »die unmittelbare Anschauung dieser Priesterwirtschaft wird die Deutschen ärger enttäuschen und rascher aufklären, als alles andre.«

Das Gefühl für moralische Mächte fehlt Bismarck auch hier; ja, man kann bei diesem großen Geschichtskenner die Lücke in der Kirchengeschichte erweisen.

In Wahrheit aber rollt hier keinerlei »Kulturkampf« ab: hier war ja ein Kämpfer um die Macht, nicht um die Idee, die er seit zwanzig Jahren nach Bedarf wechselte, übrigens tolerant in allen Dingen, die nichts kosten. Die Kirche bekämpfte er nur als Macht, nicht als Kultur, nur wo sie seinen Staat zu schwächen drohte, da war er ihr Feind. Das alles hat er zwanzig Jahre vorher gewußt, hat schon aus Frankfurt den Kampf »gegen den eroberungslustigen Geist im katholischen Lager« für unausweichlich erklärt, seit Östreichs Konkordat Preußens Feinde immer in jenem Lager gefunden, und seit er die Macht hat, sich selber im Vatikan als »Inkarnation des Satans« bezeichnet gewußt. »Der Kulturkampf datiert vom Schlachtfeld von Königgrätz,« sagte später Windthorst, und wirklich hatten damals die preußischen Hetzer im Talar, besonders ein Berliner Hofprediger verkündet und geschrieben: Europa, mit Einschluß des Sultans, muß evangelisiert werden!

Doch erst das Vatikanische Konzil, das alle Macht in Rom aufs neue sammelte, brachte die Krisis: in den Tagen des Kriegsbeginnes, Mitte Juli 70, war die Unfehlbarkeit des Papstes verkündet worden, und Bismarcks Gefühl dadurch nicht minder getroffen als sein Kalkül. Daß jemand sich unfehlbar nannte, war ihm unerträglich, das glaubte er nicht einmal von sich selber; daß aber ein ganzer deutscher Stand vom Auslande abhängen sollte, schien ihm bedrohlich: im Augenblick, als er an die Front nach Frankreich fuhr, ließ er die deutschen Bischöfe vor Zustimmung, den Papst vor Zwang warnen und kündete alle Gegenzüge an, um seinen Staat vor römischer Macht zu schützen: sonst wären »die Bischöfe der Regierung gegenüber Beamte eines fremden Souveräns.«

Darauf gründen Windthorsts Freunde, noch im Kriege, das Zentrum, als katholische Kampfpartei. Bismarck, dem die Aufrichtung einer deutschen katholischen Kirche mißlingt, geht gleich zum Angriff über und erklärt die Maßregeln des Kölner Erzbischofs für ungültig, der den Bonner Studenten die Kollegien freiheitlicher Theologen verboten hat; weil und während er das Reich zimmert, macht er schon aus dem Kirchenstreit einen Kampf gegen dies Reich, aus Rom einen Stützpunkt aller Reichsfeinde. Als er zurückkehrt, sieht er die neue Partei in einer Front von 57 Mann, an die sich alle Unzufriedenen schmiegen.

Da müßte auch eine gleichmütigere Seele aufbrausen. Zwanzig Jahre hatte sein Geist an diesem Werke gesonnen, acht Jahre hat er dafür gefochten, zuletzt in aufreibenden Wochen gegen alle Widerstände das Ganze unter Dach gebracht, – und nun, da er ermüdet und bestaubt, die Nerven überreizt, heimkehrt, um mit dem Volke zu beraten, was findet er? Eine Phalanx feindlicher Volksboten, zusammengehalten durch einen Glauben, dessen Haupt, fern von Deutschland, gegen den neuen lutherischen Kaiser gesinnt sein muß, wie er dem alten apostolischen nachtrauert. Muß nicht der Skeptiker in ihm, der die Vergänglichkeit seines Werkes eben bezeugte, in den Händen jener Gruppe unsichtbare Hämmer sehn, die ihm das mühsam Erbaute wieder zerschlagen wollen? Wer fordert in solchen Stimmungen Gerechtigkeit von einem leidenschaftlichen Charakter! Entschlossen, was er tut, zu schützen, noch ganz im Rhythmus des Kampfes befangen, überschätzt der Schütze die Distanz, zielt und trifft statt ein paar deutscher Katholiken die große Macht in Rom, ohne sie zu verwunden. Aus der militanten Stimmung des Siegers, aus der Sorge des Erbauers ist der Mißgriff dieses Realisten, seine Furcht vor einem katholischen Weltbund gegen sein junges Reich zu begreifen.

Denn nicht bloß die Partei steht gegen ihn, alle Depossedierten, Welfen, Polen, Elsässer schließen sich fest im Innern, Östreicher und Franzosen knüpfen sich lose von außen an, und die Sozialdemokratie, jung wie das Reich, aber schwach wie Europa, verständigt sich mit diesem ihrem Gegner; unter allen »Reichsfeinden« war das Zentrum nur »am frühesten aufgestanden«. Daß ein paar Theologen von deutschen Universitäten, sogar der Kardinal Hohenlohe gegen das Dogma von der Unfehlbarkeit streiten, daß der katholische König von Bayern diese Proteste schützt, daß die neue deutsche Partei anfangs von Rom aus getadelt wird, erhöht bloß die Verwirrung, in der auch beleidigte Führer unsachlich Partei ergreifen, wie Savigny, dessen Ehrgeiz Bismarck vor ein paar Jahren gekränkt hatte.

Doch Vorurteile und Stimmungen genügen niemals, um nach Bismarcks erstem Zorn ihn zu Entschlüssen zu treiben: erst wenn er sich seine Vorgefühle politisch nachgerechnet hat, wird er handeln. Nach außen, so kalkuliert er, kann man mit solchem Kampf das neue Italien in seinen antikirchlichen Tendenzen stärken, es von Frankreich abdrängen, kann man sich Rußland verbinden, das allgemein im Kampf gegen Rom, speziell gegen die römischen Priester als Aufrührer Polens steht. Im Innern kann man zugleich den Kronprinzen seiner persönlichen Feindschaft, die Liberalen ihrer Unzufriedenheit mit der Verfassung entreißen, denn ihrer naturwissenschaftlichen Weltanschauung kommt nichts gelegener als Kampf gegen die Kirche.

Mit einer Vehemenz, der man das Tempo des Feldlagers noch anmerkt, beginnt Bismarck den Angriff, unmittelbar nachdem er im Mai den Frieden unterschrieb: »Die deutsche Regierung, so läßt er offiziös schreiben, wird sich schon in der nächsten Zeit auch ihrerseits zur Aggression entschließen müssen ... War schon vor 300 Jahren in Deutschland das Deutschtum stärker als das Römertum, wieviel mehr heute, ... wo Rom nicht mehr die Hauptstadt der Welt ist und wo die deutsche Kaiserkrone nicht auf dem Haupt eines Spaniers, sondern eines deutschen Fürsten ruht.« Trennung von Staat und Kirche will Bismarck damals nicht unbedingt, aber eine »stark defensive Stellung gegenüber der aggressiven katholischen Kirche«. Sie zu verwirklichen, macht er zuerst im Reich den Kanzel-Paragraphen, der jede Erörterung staatlicher Dinge von der Kanzel herab mit Gefängnis bedroht, wird aber rasch durch die Bewegung vorwärts getrieben und steigert sich in den nächsten Jahren in Preußen in die »Mai-Gesetze« und ihre Folgen hinein: er hebt die katholische Abteilung im Kultusministerium, die kirchenschützenden Paragraphen der Verfassung auf, greift in die Verwaltung der Bistümer, in den Religionsunterricht der Schule ein, verbannt die Jesuiten und verwandte Orden aus dem Reichsgebiet, macht die Zivilehe obligatorisch, bedroht mit Ausschluß, Buße, Festung und Gefängnis die Gläubigen oder Trotzigen, sperrt ihnen alle Einkünfte, reduziert auf diese Art die Seelsorge, läßt ganze Pfarreien verwaisen, sät Feindschaft zwischen Bischöfen und Priestern, zwischen Priestern und Laien, ins Innere der Familie, stürzt Pfarrer, Bürger, Studenten, Frauen in Gewissensnöte: ein Chaos; der Gefühle und Interessen wird aufgewühlt, und anders, als er selber oft gewarnt, verwirklicht sich nun seine stärkste Drohung: Acheronta movebo!

»Seien Sie außer Sorge, ruft er seinen Gegnern zu: nach Canossa geben wir nicht, weder körperlich noch geistig!« Wie sehr wird er dies Wort bereuen, das bald durch Deutschland und über die Alpen fliegt! Ein Kirchenfürst vergleicht die Regierung mit einem Manne, der in den Fluß geht, ohne seine Tiefe zu kennen, und bei jedem Schritt auf unerwartete Untiefen stößt, ein andrer nennt Bismarck Boa destructor, Windthorst erinnert an die Verfolgungen der ersten Christen, die Bischöfe in Preußen erklären sich gegen solche »Prinzipien eines heidnischen Staates«, der Papst verbietet den deutschen Katholiken Gehorsam gegen die neuen Gesetze. Da steigt Bismarck gewappnet auf die Tribüne, ein ungewohntes Pathos dringt aus ihm:

»Es handelt sich nicht um den Kampf ... einer evangelischen Dynastie gegen die katholische Kirche, es handelt sich nicht um den Kampf zwischen Glauben und Unglauben, es handelt sich um den uralten Machtstreit, der so alt ist wie das Menschengeschlecht, um den Machtstreit zwischen Königtum und Priestertum, den Machtstreit, der viel älter ist als die Erscheinung unseres Erlösers auf dieser Welt, den Machtstreit, in dem Agamemnon in Aulis mit seinen Sehern lag, der ihn dort die Tochter kostete und die Griechen am Auslaufen verhinderte, den Machtstreit, der die deutsche Geschichte ... erfüllt hat, ... der im Mittelalter – einen Abschluß damit fand, daß der letzte Vertreter des erlauchten schwäbischen Kaiserstammes unter dem Beil eines französischen Eroberers auf dem Schafott starb, und daß dieser Franzose im Bündnis mit dem damaligen Papste stand. Wir sind der analogen Lösung der Situation nahe gewesen, übersetzt immer in die Sitten unsrer Zeit. Wenn der französische Eroberungskrieg, dessen Ausbruch mit der Publikation der vatikanischen Beschlüsse koinzidierte, erfolgreich war, so weiß ich nicht, was man auch auf unseren kirchlichen Gebieten in Deutschland von den gestis Dei per Francos zu erzählen haben würde.«

So schleudert er, der sonst mit jedem entbehrlichen Worte spart, fünfmal das Wort Machtstreit seinen Hörern zu und nennt damit das wahre Motiv ebenso offen, wie er die historische Situation durch einen großartigen Vergleich verfälscht. Von Kultur kein Wort: warum also »Kulturkampf«?

Aus völlig anderen Motiven verteidigt dieselbe Sache sein ältester Feind und neuster Verbündeter, Virchow, der den Titel Kulturkampf nach einem Worte Lassalles aufgebracht hatte: »Die protestantische Richtung eröffnet im Geist freier Forschung nach allen Seiten beim Menschen größere Gesichtspunkte, zieht ihn früh zu selbständiger Arbeit heran. Wirken Sie dahin, Ihre Bischöfe zu mehr Freiheit und Ihre Beamten zu selbständigerem Tun zu führen, dann wird alles anders werden ... Diesem undeutsch-römischen Wesen müssen Sie entgegentreten ... Wenn Sie meinen, man dürfe das Gebiet des Glaubens auf das Sinnliche ausdehnen, auf die Dinge dieser Welt, ... dann wären wir verloren, dann kassieren Sie die ganze deutsche Entwickelung!«

Freiheit und Wissenschaft? War nicht noch eben vom Machtstreit die Rede? Zwei Welten, heut wie vor zehn Jahren, Virchow und Bismarck, sind durch die grotesken Sprünge der Politik, die sich als Geist verkleidet, auf die Dauer eines Maskenfestes versöhnt und tanzen miteinander. Aber da erhebt sich der streitbare Mallinckrodt, einer der Zentrumsführer, und schlägt den seelenlosen Anatomen zurück:

»Wo zeigt sich denn die größere Denkkraft der Protestanten? Etwa in der Erscheinung, daß bei ihnen bis zur Verwirrung ein jeder etwas anderes für das Richtige hält? ... Es ist ein Fundamentalsatz von uns, daß die Kirche Trägerin der Wahrheit ist ... Ist eine kompetente Entscheidung ergangen, so hat der Katholik diese als wahr anzuerkennen. Das ist der einfache Unterschied zwischen unserem Autoritäts- und Ihrem Individual-Prinzip. Darum stehen wir nach neunzehnhundert Jahren noch fest geeint und so stark in der Welt als je, während Sie mit mehr oder weniger Trauer sehen, wie in Ihrem Bau die Steine auseinanderbröckeln!« Was mag der Reichskanzler beim Lesen dieser Rede denken? Fühlt er sich nicht weit stärker mit diesem Gegner einig als mit seinen Verbündeten? Bis in den Rhythmus und Stil hat dieser Katholik Bismarckische Prägung und schleudert die analogen Worte demselben Virchow entgegen, der sie von Bismarcks Lippen im Konflikt hören mußte!

Eleganter fechten die beiden Matadore, ihre Reden im Kulturkampf werden zu Höhepunkten der deutschen politischen Debatte, aber immer siegt Windthorst. Als Bismarck ihn wieder einmal als verbitterten Welfen angreift, das Zentrum vor diesem reichsfeindlichen Führer warnt, ihm spöttisch christliche Demut und Leidenschaftslosigkeit anrät, erwidert dieser: »Ich habe viele Fehler, aber den der Leidenschaft in parlamentarischer Debatte habe ich nicht, mein Puls schlägt 60 Schläge, jetzt wie außer dem Parlament. Des weiteren macht der verehrte Herr dem Zentrum den Vorwurf, daß meine kleine Person dazugehört. Ist das eine Anerkennung für mich, ist es ein Tadel?«

Als Windthorst sagt, Bismarck wolle das Schwergewicht der Staatsgewalt ins Parlament verlegen, greift Bismarck mit nervösen Händen nach dem vor ihm stehenden Glase, trinkt hastig mehrmals hintereinander: er zittert auf die Antwort. Windthorst fährt fort: »Wirft man die Kirche aus der Schule hinaus, wer wird den Religionsunterricht übernehmen? Hat der Staat dafür Verständnis und Organe? Dann erbitte ich diesen neuen Staatskatechismus von Ihnen! Das wird ein heidnischer Staat, ein Staat ohne Gott, oder er wird selbst Gott hier auf Erden.« Bismarck will oder kann jetzt nicht antworten, erwidert nur persönlich gereizt: »Ich habe meine langjährigen Proben im Dienste des monarchischen Prinzips in Preußen gegeben, dem Herrn Abgeordneten von Meppen steht dieses, wie ich hoffe, noch bevor«.

Erst am nächsten Tage schlägt er zurück, wieder voller Invektiven: »Das Öl Ihrer Worte ist nicht von der Sorte, Wunden zu heilen, sondern von der, die die Flamme des Zornes nähren. Ich habe selten gehört, daß der Herr Abgeordnete von Meppen um Überredung oder Versöhnung bemüht wäre ... Der Gott, an den ich glaube, möchte mich davor bewahren, daß der Herr Abgeordnete die Disposition über die Spendung seiner Gnade für mich haben könnte, ich würde dabei nicht gut wegkommen ... Sie werden zum Frieden mit dem Staate leichter gelangen, wenn Sie der welfischen Führung entsagen. Die welfischen Hoffnungen können sich nur verwirklichen, wenn Streit und Umsturz im Staate herrscht.«

Windthorst repliziert auf der Stelle: »Ich bin nichts und ich kann nichts; Sie aber, meine Herren, scheinen in der Tat etwas aus mir machen zu wollen ... Ich qualifiziere die Angriffe des Herrn Ministers nicht, denn ich unterstehe der Gewalt des Präsidenten, was bei den Ministern nicht völlig klar ist. Aber auch so trete ich vor keinem zurück. Der verehrte Herr fragt mich, ob ich noch die Anhänglichkeit an die hannoversche Königsfamilie bewahre. Sie wird fortdauern bis in mein Grab, und nichts in der Welt, auch nicht der gewaltige Minister Deutschlands wird mich darin irremachen. Aber in Befolgung der Heiligen Schrift glaube ich, meine Pflicht als Untertan nach bestem Wissen geübt zu haben ... Wenn man geheime Pläne des Zentrums andeutet, wenn man es durch Verdächtigung eines Abgeordneten einzuschüchtern sucht, so sind wir nahe am Terrorismus, der das freie Wort unterdrückt. Ich möchte dem geehrten Herrn doch sagen: Im Glücke dem monarchischen Prinzip nahe zu stehen, ist nicht schwer, schwerer im Unglück, bei auferlegtem Gehorsam!«

So glänzend schlägt Windthorst den Gegner, Später hebt er den Kern dieses Kampfes zwischen Macht und Geist ans Licht: »Der geehrte Herr hat mit seiner Anschauung mehr Erfolg, weil er mehr Soldaten und mehr Geld hat als ich ... Wer zwei Millionen Soldaten hinter sich hat, für den ist es kein Kunststück, auswärtige Politik zu treiben!« Wenn dann Bismarck bei Windthorsts Rede das Haus verläßt, quittiert dieser mit Lächeln: »Bei solchen Angriffen ist es Rittersitte, die Antwort persönlich in Empfang zu nehmen ... Ich hätte großen Wert darauf gelegt, mich mit dem geehrten Herrn vor Deutschland zu unterhalten.« So stolz und geschmeidig, so witzig und böse springt David den Goliath an und zielt ihm nach dem Kopfe.

Den aber wird er nicht treffen! Sehr früh erkennt Bismarck seine Fehler in der Kirchensache, und indem er den Tod des streitbaren Pius, die Heraufkunft des diplomatischen Leo XIII. zu einem verdeckten Rückzug benutzt, weiß er die Verantwortung für diesen von ihm befohlenen Feldzug sogleich seinen Unterführern aufzuwalzen. Innerlich bricht er den Kampf ganz plötzlich ab. »Das Blut trat Bismarck an die Augenränder – so schreibt Andrassy noch Ende 73 wie er vom Papste sprach, seine Worte klangen wie Verwünschungen. Er nannte ihn eine Gefahr für alle Länder, einen Revolutionär und Anarchisten, den ganz Europa bekämpfen müsse, wenn noch ein Fürst auf seinem Throne sicher sein wolle.« Kurz darauf sieht er, Rom ist nicht zu besiegen: da häuft er seinem Kultusminister Falk alle Schuld auf, macht sich vor dem württembergischen Minister Mittnacht in glänzenden Bildern lustig über »den Staat als Gendarm mit dem Schleppsäbel hinter leichtfüßigen Priestern«, behauptet, beim Gesetz über die Zivilehe in Varzin gewesen zu sein, und sagt amtlich dem sächsischen Minister Friesen:

»Der ganze Kampf ist gegen meine Absicht entstanden, ich wollte das Zentrum nur politisch bekämpfen; daß man die ganze katholische Bevölkerung aufgeregt hat, daran bin ich ganz unschuldig. Ich war dagegen, ... aber Camphausen und Falk haben mit Abschied gedroht, und da habe ich nachgeben müssen. Jetzt bedaure ich, diese Gesetze vor der Unterschrift nicht wenigstens gelesen zu haben, es steht gar zu viel Unsinn drin ... Ich bitte Sie, das alles Ihrem Könige zu sagen, er möge mich nicht verantwortlich halten für das, was in den letzten zwei Jahren in Preußen geschehn ist.«

Das ist derselbe Mund, der ein Jahr vorher im Landtage die eine Hälfte der Bürger gegen die andere mit diesen Worten aufgehetzt hatte: »Der unfehlbare Papst ist es, der den Staat bedroht! Er schneidet sich aus den weltlichen Rechten aus, was ihm gefällt ... erklärt unsere Gesetze für Null, erhebt Steuern ... kurz: niemand in Preußen ist so mächtig wie dieser Ausländer!«

Das alles, glaubt er, hat man in Dresden längst vergessen; aber man weiß es in Europa, vor allem in Rom, man wird auch erinnert, daß er 25 Jahre vorher im Landtag ausrief: »Ich hoffe es noch zu erleben, daß das Narrenschiff der Zeit am Felsen der Christlichen Kirche scheitert!« Als ihm der alte Gerlach jene frommen Worte aus seiner Pietistenzeit vorhält, gibt Bismarck die kühne Antwort, damals habe er die protestantische Kirche gemeint. Da freilich mögen die römischen Auguren lächeln, und Pius hat kurz vor seinem Tode den großen Feind einen protestantischen Philipp nennen können und geweissagt: »Am Ende wird ein Felsen den Berg herunterrollen und den Koloß zerschmettern!«

III

Am 18. März 48 war Wilhelm vor der Revolution aus Berlin geflohen; 23 Jahre später, am 17. März, war er umjubelt als siegreicher Kaiser in Berlin eingezogen. Den Tag darauf erhob sich in Paris die Kommune, die Massen bekundeten in ganz Deutschland ihre Sympathie, Bismarck erschrak: »Das hat mich wieder die erste schlaflose Nacht gekostet.« Bebel, nach den Siegerwahlen der einzige Sozialist im ersten Reichstage, rief zwei Wochen nach Friedensschluß von der Tribüne: »Das war nur ein Vorpostengefecht! Ehe wenige Jahre vergehen, wird der Ruf der Pariser Kommune: Krieg den Palästen, Friede den Hütten! zum Schlachtruf aller Proletarier Europas geworden sein!« (Großes Gelächter.) Dann fordert er die Elsaß-Lothringer auf, am Freiheitskampf des ganzen Deutschland teilzunehmen, damit endlich die Zeit komme, wo die Völker Europas ihr Selbstbestimmungsrecht erlangt hätten, was nur die Republik verwirklichen könne. Hierauf Bismarck: »Fürchten Sie nicht, daß ich dem Herrn Vorredner antworte. Sie werden alle mit mir das Gefühl teilen, daß seine Rede in diesem Saal einer Antwort nicht bedarf!« Später aber nennt er diese Rede einen Lichtstrahl, plötzlich die Lage erleuchtend; Staat und Gesellschaft befänden sich im Stande der Notwehr: diesen Feind muß man vernichten!

Lange nach Lassalles Tode hatte er noch mit dessen Nachfolger Fühlung gehalten, seine staats-sozialistischen Ideen nie ganz vergessen. Jetzt, nach der Kommune läßt er alles fallen, berechnet nur, daß er den Gegensatz zu den Liberalen nicht mehr braucht, versucht, durch neue Gesetze das Eigentum zu schützen, jede sozialistische Rede mit Gefängnis zu bestrafen, und als dies der Reichstag ablehnt, warnt er: »Die Sozialdemokratie hat die größten Fortschritte gemacht ... In wenigen Jahren wird das Bürgertum nach Strafbestimmungen lechzen.« Als bei den nächsten Wahlen die junge Partei mit 12 Mann einzieht, ruft er als Heilmittel die Zuchtrute herbei, die Gott über die Menschen verhängt, spricht in vollkommener Unkenntnis der neuen Gedankengänge nur vom »utopischen Unsinn, daß jemand die gebratenen Tauben in den Mund fliegen« und will diese »verbrecherische Torheit mit Luft und Sonne behandeln«. Aber er kommt nicht zum Schlagen: der Reichstag fürchtet sich, Ausnahmegesetze gegen einen Teil der Bürger zu erlassen.

Da löst ein Schuß die Spannung.

Im Mai 78 schießt ein Mann erfolglos auf den im Wagen fahrenden 80jährigen Kaiser, ein verlumpter Student, mauvais sujet, aus der sozialistischen Partei ausgestoßen. Bismarck schlägt bei der Nachricht auf den Tisch: »Jetzt haben wir sie!«

– Die Sozialisten, Durchlaucht?

»Nein! die Liberalen!«

Blitzartig hat er kombiniert: heut muß die Volkserregung die Nationalliberalen für ein Ausnahmegesetz stimmen, auf diese Art wird man die Liberalen endlich los, die jetzt, nach beigelegtem Kulturkampf, nicht mehr nötig sind. Noch am selben Tage fordert er vom Justizminister die Grundzüge des Gesetzes, am nächsten gehen sie den Ministern zu, am zehnten liegt der lange von ihm erwünschte, nun übereilte Gesetzentwurf mit vielen technischen Fehlern dem Reichstag vor, denn »man kann die Sozialdemokratie nur wirksam bekämpfen, wenn man über die Barriere hinwegsetzen darf, die die Verfassung in übergroßer doktrinärer Fürsorge zum Schutze des einzelnen und der Parteien in den sogenannten Grundrechten errichtet hat.« Zwanzig Tage nach dem Attentat ist das Gesetz vom ganzen Reichstag, außer von den Konservativen, bereits abgelehnt. Bennigsen prophezeit, wenn man es annähme, als Folge geheime, also gefährlichere Umtriebe, Erbitterung der betroffenen Klassen »und man wird sagen: wenn die besitzenden Klassen zu solchen Mitteln greifen, Hunderttausende von Mitbürgern außer dem Gesetz erklären, dann brauchen auch wir die Gesetze nicht zu respektieren.« Ein solches Gesetz müsse die stärkste Agitation erzeugen. Auch Richter warnt, durch dies Gesetz unbedeutende Menschen in den Augen der Menge zu Märtyrern zu erhöhen.

Drei Wochen später kracht aus einem Fenster Unter den Linden ein zweiter Schuß: schwer getroffen sinkt der alte Kaiser im Wagen zusammen. Drei Stunden nach der Tat sucht der Geheimrat von Tiedemann, die Nachricht in Händen, den Fürsten im Park von Friedrichsruh: »Schließlich gewahrte ich ihn, der, von seinen Hunden begleitet, langsamen Schrittes im Sonnenschein über das Feld daherkam. Ich trat auf ihn zu und schloß mich ihm ... an. Er war in heiterster Laune, erzählte von seinen Wanderungen an diesem Tage und von der Wirkung auf seine Nerven.«

– Es sind wichtige Telegramme eingelaufen.

»Sind sie so eilig, daß wir sie hier auf freiem Felde erledigen müssen?«

– Leider! Es ist wieder auf den Kaiser geschossen worden, diesmal haben die Schüsse getroffen, der Kaiser ist schwer verwundet. –

Mit einem Ruck bleibt Bismarck stehn. Er stößt in heftiger Bewegung seinen Eichenstock vor sich auf die Erde und sagt, tief aufatmend:

»Dann lösen wir den Reichstag auf!«

Rasch tritt er nun durch den Park dem Hause zu, indem er sich bei Tiedemann nach den Einzelheiten der Tat erkundigt. Beim Eintritt befiehlt er, die Abreise nach Berlin vorzubereiten.

Niemals wird man ihn heller beleuchtet sehn, Otto von Bismarck. Er hat den alten König auf seine Art lieb, weil er ihm seit 16 Jahren die Macht verleiht, seinem Dämon zu leben, seinen Genius zu ermüden; schwer stöhnt er unter dieser störrischen Greisenhand, aber er verachtet ihn nicht wie die anderen, zumindest erträgt er ihn, wie ein längst überall schaltender Sohn den uralten Vater. Vor allem wünscht er sich ein langes Amt und darum dem alten Herrn ein langes Leben; der Kronprinz ist sein Gegner, morgen kann er König, dann wird Bismarcks Macht zu Ende sein. Gefühl und Interesse können ihn zu nichts anderem treiben als zu der ersten Frage nach dem Verwundeten.

Aber dieser Mann ist Kämpfer vor allem, Feind seiner Feinde, haßt in den Nächten, rechnet am Tage, immer den Blick auf den Feind gerichtet, immer auf einen neuen. Wie? Dieser Reichstag, den er geschaffen, setzt seinen Plänen ein Veto? Diese Richter und Windthorst, diese Lasker und Bennigsen sind stark genug, ihm den Kampf gegen jene Zerstörer der Ordnung, Räuber des Eigentums zu untersagen? Hat er nicht eben erlebt, daß ihm die »Schwatzbude« die Waffen aus der Hand geschlagen? Ein rettender Schuß, gleichviel, wer geschossen hat! Noch weiß er nichts von Stand und Partei des unbekannten Attentäters, nichts von der Schwere der Wunde, und ob ein achtzigjähriger Körper sie bestehen kann, er weiß nur eins: solch eine Tat, unschätzbar wie der Sieg in einem Feldzug, bildet die gesegnete Basis eines Wahlkampfes! Nieder mit allen inneren Feinden! Jetzt lösen wir den Reichstag auf!

Neun Tage darauf war das geschehn, ein paar Wochen später hatte der Attentäter eine neue Mehrheit für Bismarck geschaffen.

Daß der Schütze verrückt ist, nie einer Partei angehört hat und zwischen seinem Selbstmord und seinem Tode erklärte, er wollte nicht aus der Welt gehn, ohne einen Großen mitzunehmen: was kümmert das den Staatsmann! Stopft die Zeitungen mit Nobilings Geständnissen und Sünden! Täglich Verschwörungen und Entdeckungen durch den offiziellen Draht! Belagerungszustand für Berlin! Denn »es ist klüger, den unvermeidlichen Zusammenstoß zu fördern, den Aufstand mit Gewalt niederzuwerfen, dann unter dem Eindruck des Schreckens scharfe Gesetze im Reichstag durchzusetzen.« So kehrt nach einem halben Menschenalter der rechtlose Minister zu seinen Anfängen zurück. Blut und Eisen sollen im Innern ertrotzen, was ihnen nach außen gelungen war. Nur diese Maßregel lehnt der Kronprinz ab; als Stellvertreter des Vaters will er seine Regierung nicht mit Blut beginnen. Alle Liberalen erhoffen des Kaisers Tod, des Sohnes Heraufkunft; er aber darf gegen das Ausnahmegesetz selber nicht sprechen, das ja angeblich für seines Vaters Leben gemacht wird. Die Verwirrung seiner Kronprinzen-Gefühle steigt.

Da geschieht das Unerwartete: der Alte hält stand. Gerettet hat ihn nur der Helm, den er an jenem Tage gegen Gewohnheit trug; jetzt hat er, Sieger in drei Kriegen wider Willen, die eigene alte Haut zu Markte getragen, dergleichen begreift das Volk. Der einst gehaßte Prinz wird rasch der populärste Fürst, und als er sich genesen vom Bett erhebt und humorvoll erklärt, Nobiling habe ihn besser behandelt als seine Ärzte, ihm fehlte nichts als dieser Aderlaß: da jubelt ganz Deutschland, und auch Bismarck findet seinen Herrn freier, lebendiger als seit langer Zeit. Er und das Volk, der Kronprinz und seine Frau: ganz Europa beginnt nach solcher Feuerprobe zu ahnen, daß diesem König ein märchenhaftes Alter bestimmt sei, wie seit Jahrhunderten keinem Fürsten. So hat der Schuß allen Teilen genutzt: getragen von der Stimmung des Augenblickes, wagt Bismarck den gefährlichsten seiner Schritte.

Aus den Attentats-Wahlen, für die Bismarck die Parole immer neu durchkorrigiert hat, ist die Linke sehr geschwächt, die konservative Rechte verstärkt hervorgegangen: nun kann der Meister dem Reichstag sein Ausnahmegesetz aufzwingen, doch nun tut er's in doppelter Schärfe. Jetzt wettert er die Liberalen nieder wie einst, nimmt Windthorsts Hilfe an, der lächelnd den Bankerott der Kirchenpolitik verkündet, dreht so die Front und hat auch noch den Vorteil, Zentrum und Nationalliberale abwechselnd zur Mehrheit zu benutzen. Nach dem neuen Gesetz, erst auf 2, dann weiter immer auf 4 Jahre angenommen, können die Landesbehörden selbständig alles unterdrücken und bestrafen, was sich »auf Untergrabung der Gesellschaftsordnung« richtet. Drucker, Buchhändler, Schankwirte können vertrieben und eingesteckt, ja, wer sich zur sozialistischen Lehre nur laut bekennt, kann schon deshalb verbannt werden, Freiheit der Presse und der Versammlung hört für diese Kreise auf, jeder Präsident kann Belagerungszustand über seine Provinz verhängen.

Wie im Wetterleuchten treten während dieser Debatte die Umrißlinien eines neuen Jahrhunderts hervor. Ganz Junker und Heilige Allianz, als hätte er sich nie Napoleon genähert, ruft Bismarck den Sozialisten zu: »Wenn Sie den Leuten glänzende Versprechungen machen, mit Hohn und Spott alles, was ihnen bisher heilig gewesen, als eine Lüge darstellen ... den Glauben an Gott, den Glauben an unser Königtum, die Anhänglichkeit an das Vaterland, an Familie, Besitz, Vererbung dessen, was sie erwerben, ... wenn Sie ihnen all das nehmen, so ist es doch nicht allzu schwer, einen Menschen von geringem Bildungsgrade dahin zu führen, daß er schließlich mit Faust spricht: Fluch sei der Hoffnung, Fluch dem Glauben und Fluch vor allem der Geduld! ... Was bleibt denn einem solchen Menschen übrig, als eine wilde Jagd nach sinnlichen Genüssen, die ihn allein noch mit dem Leben versöhnen können! ... Wenn wir unter der Tyrannei einer Gesellschaft von Banditen existieren wollen, dann verliert jede Existenz ihren Wert!«

Hierauf Bebel: »Der Versuch, die Tat eines Wahnsinnigen, noch ehe die Untersuchung abgeschlossen ist, zur Ausführung eines lange vorbereiteten reaktionären Streiches zu benutzen, die moralische Urheberschaft ... einer Partei zuwälzen zu wollen, welche den Mord in jeder Form verurteilt, die wirtschaftliche und politische Entwickelung von dem Willen einzelner Personen ganz unabhängig auffaßt, richtet sich selbst ... Es handelt sich für uns nicht um Abschaffung des Eigentums, sondern um die gerechtere Verteilung zum Wohle Aller.« Dann breitet er Lassalles Verkehr mit Bismarck aus, vor dem staunenden Deutschland.

Nun beginnen Haß und Korruption, Spitzelei, Sadismus und Streberei sich überall im Lande zu verbreiten, Haussuchungen, Verhaftungen, Verbannungen; entgegen seinem formellen Versprechen an die Nationalliberalen, Belagerungszustand und Ausweisungen »nur im äußersten Notfall« anzuwenden, setzt Bismarck nach 4 Wochen Berlin und Umgebung unter diese Maßregel, weist 67 Sozialistenführer aus Berlin, die Freie Stadt Hamburg wird nach einer schlechten Wahl trotz Einspruches »belagert«; nach und nach kommen über 1000 Jahre abgesessener Freiheitsstrafen gegen 1500 Menschen zusammen. Nach wenigen Wochen sind im Reiche 200 Vereine, 250 Druckschriften, nach einem halben Jahre 600 verboten, Tausende von Existenzen vernichtet –: da kann Bebel an das Mittelalter erinnern, wie damals Windthorst an die Urchristenzeit: »Man hat die Männer unserer Gesinnung aus Arbeit und Brot geworfen, man hat sie beschimpft und verleumdet, für ehr- und rechtlos erklärt, man wollte Unruhen provozieren ... Diese Zeiten der Attentate, der Majestäts-Beleidigungen gehören zu den tragischesten der neueren deutschen Geschichte.«

Zugleich tritt ein, wovor Bennigsen gewarnt, als er noch nein gesagt hat: in zahllosen Geheim Versammlungen, in Wäldern und Steinbrüchen beraten die Führer mit ihren Leuten, sie treffen ihre Brüder in der Schweiz auf offenen oder heimlichen Kongressen: »Die unruhige Vielgeschäftigkeit und zerstörerische Tätigkeit Bismarcks arbeitet uns in die Hände«, 60 schreibt Bebel an Engels, und Liebknecht triumphiert von der Tribüne: »Das Sozialistengesetz ist der eiserne Reifen, der unsere Partei zusammenhält und keine Teilung in Gemäßigte und Radikale aufkommen läßt. Seinem Geburtshelfer muß es bittere Früchte tragen. Wir werden siegen, so oder so, tun Sie ihr Schlechtestes, es wird zu unserm Besten gereichen! Je toller Sie es treiben, um so rascher geht es mit Ihnen zu Ende!«

IV

Als Bismarck Graf geworden, hatte er den Aufstieg seines Geschlechtes aufrecht entgegengenommen, nicht ohne schadenfrohen Seitenblick auf seine Vettern, die ihrer Familie kein Genie zutrauten; als ihn der König bei Rückkehr aus Frankreich zum Fürsten macht, erschrickt er. Er beschließt sogar, seinem Herrscher davon abzuraten, wird aber überrascht, sieht sich vom König als Fürsten empfangen, von der ganzen königlichen Familie, lauter Feinden Bismarcks, beglückwünscht und kann nichts weiter tun. Als ihm aber Prinz Friedrich Karl Vorwürfe macht, warum er nicht lieber dankbar sei, gibt er diesem Offizier die herrliche Antwort: »Ich habe mich immer als Edelmann gefühlt.«

Warum fürchtet Bismarck den neuen Rang? »Als Graf kann man wohlhabend, als Fürst muß man reich sein. Die Standeserhöhung bringt in meine Lebenshaltung eine mir unsympathische Änderung. Übrigens ist es eigentlich schade, ich war eben im Begriff, eines der ältesten Grafengeschlechter zu werden.« Diesen vertraulich geäußerten Bedenken sucht der König an einem Punkte zu begegnen, indem er ihm den Sachsenwald bei Hamburg schenkt, 30 000 Morgen, im geschriebenen Werte von 3 Millionen Talern. Aber den Stolz des Uradels kann der König in Bismarck weder zum Schweigen bringen noch begreifen, – und brauchte doch nur an die eigene jüngste Verwirrung in Versailles zu denken, wo ähnliche Gefühle aus derselben Anhänglichkeit an die Vorfahren ihn eine Standeserhöhung fürchten ließen.

Vergliche er jenen Augenblick des Glanzes als Herr mit diesem seines Dieners, so erriete er auch dessen tiefere Zweifel: die Furcht vor den Vettern. Wie lange werden sich denn die Könige von Bayern und Sachsen den beispiellosen Aufstieg dieses Vetters aus Hohenzollern, wie lange werden sich die Junker aus Pommern und der Mark den ihres Vetters aus Schönhausen ruhig gefallen lassen? Muß nicht Rivalität erwachen, und wird sie sich nicht in jenen wie in diesen Kreisen durch politische Fronde äußern? Neid und Eifersucht der lieben Verwandten, die ihr geringeres. Glück statt ihrer geringen Gaben anklagen, sind, wie so oft, auch hier die innersten Motive jenes Abfalls gewesen, mit dem die Klasse Bismarcks sich vor der Geschichte schändete, statt sich im Lichtkreis ihres einzigen Genies zu spiegeln.

Politische Feinde führten die Spannung zum Bruche, den wohlwollende Gesinnungen vielmehr vereitelt hätten. Diese preußischen Junker, die einen zweiten Kopf und Willen von ähnlicher Stärke niemals hervorgebracht haben, fielen nur formell als Konservative Partei von ihm ab, nicht etwa als deren zufällige Angehörige; mit ihr entfernte sich die letzte Partei vom Staatschef und verdarb ihre eigenen Interessen, indem sie ihm mit den Liberalen eine Gemeinschaft erleichterte, die ihm auch jetzt nicht natürlich war. Sie spielten die Rolle einer beleidigten Gattin, die bei verjüngter Stimmung ihres Mannes sich drohend von ihm trennt und ihn so der Pikanterie fremden Umgangs zuführt, anstatt ihn gefällig davon zurückzuhalten.

Schon im Jahre 68 hatte Bismarck seine Partei gewarnt: mit voller Sicherheit müsse man sich auf eine Gruppe auch in Einzelheiten stützen können, die dieser Partei nicht durchweg gefallen, sonst »muß die Regierung gegen die Konstitution manövrieren und paktisieren ... und verfällt dann in die Schwäche der Koalitions-Ministerien«. Schon damals klagte der stockkonservative Roon über die »neidische und boshafte Überhebung einzelner ... Konservativer. Die Partei muß endlich begreifen, daß ihre heutigen Auffassungen und Aufgaben wesentlich andere sein müssen als zur Zeit des Konfliktes: sie muß eine Partei des konservativen Fortschrittes sein und werden und die Rolle des Hemmschuhs aufgeben.«

Jetzt, da Vetter Bismarck Fürst und Diktator geworden, wächst die Entfremdung, »Ôte-toi que je m'y mette«, sagt Bismarck nicht nur jetzt aus Goltzens und Arnims Geist heraus; noch in den Memoiren, lange nach den Kämpfen, zählt er diese beiden Streber zu seinen Gegnern zweiter Klasse, die dritte aber nennt er seine »Standesgenossen im Landadel, die sich ärgerten, weil ich, in meinem exzeptionellen Lebenslauf, aus dem mehr polnischen als deutschen Begriff der traditionellen Landadels-Gleichheit herausgewachsen war. Daß ich vom Landjunker zum Minister wurde, hätte man mir verziehen, aber die Dotationen und vielleicht auch den mir sehr gegen meinen Willen verliehenen Fürstentitel verzieh man mir nicht. ›Die Exzellenz‹ lag innerhalb des gewohnheitsmäßig Erreichbaren und Geschätzten, die ›Durchlaucht‹ reizte die Kritik ... Ich würde die Mißgunst meiner früheren Freunde und Standesgenossen noch bequemer ertragen haben, wenn sie in meiner Gesinnung begründet gewesen wäre.« Niemand kann die Psychologie dieses Kronzeugen gegen seine eigene Klasse übertreffen. In der Tat hat einer dieser Herren aus Pommern schon im Jahre 72 geschrieben: »Wir werden Bismarck so klein machen, daß er jedem ehrlichen pommerschen Krautjunker aus der Hand fressen muß!«

Mit dem Kirchenstreit, in dem die lutherischen Pietisten für den Papst schwärmten, fing es nur an. Bismarck wurde als Atheist verdächtigt, weil er mit dem Atheisten Virchow gegen die Kirche verbündet war, worauf er in der Abwehr genötigt ist, sich auf der Tribüne in ungewohnten Superlativen für seine »evangelische Seligkeit, die ursprünglichste, tiefste, mit unserer Seele und unserem Heil zusammenhängende Grundlage dieses Kampfes« zu echauffieren. Die Ältesten waren bei diesem Angriff nicht die Schlechtesten, und wenn der alte Gerlach sagt, »Bismarck behandelt mich schlecht, aber ich liebe ihn doch!«, so hört man die Musik des Herzens und hält auch Bismarcks anderen frommen Gönner, jenen Senfft-Pilsach, durchaus für ehrlich, wenn er ihn jetzt, halb höfisch, halb prophetisch ermahnt, »daß Hochdieselben sich ermannen in der Demut, ermannen in Gott, der Sie geliebt hat bis in den Tod und seine durchgrabenen Hände auch heut noch nach Ihnen ausstreckt. Sollten E. D. indessen Gottes Mahnungen ... beharrlich widerstreben, so wird Er dartun, daß Sein Werk wahrhaftig ist, Ihr großes, schönes Werk wird Schaden leiden und Sie werden ohne Zweifel Seinem Gerichte verfallen.«

Dergleichen bringt den Ritter in Harnisch, in der Stunde, wo er es liest, schickt Bismarck die gewappnete Antwort: »Ich hätte gern Gewißheit darüber, daß Ihre mahnende Stimme auch den Ihnen nahestehenden Gegnern der Regierung S. M. des Königs nicht vorenthalten werde, welchen die Demut unseres Erlösers, die Sie mir mit Recht vorhalten, so fremd geworden ist, daß sie im zornigen Dünkel eigener Weisheit und in heidnischer Parteiherrschaft es als ihre Aufgabe ansehen, das Land und die Kirche zu meistern ... In ehrlicher Buße tue ich mein Tagewerk ohne E. E. Ermahnung; aber wenn ich in Furcht und Liebe Gottes meinem angestammten Könige in Treue und mit erschöpfender Arbeit diene, so wird der pharisäische Mißbrauch, den die pommerschen wie die römischen Gegner mit Gottes Wort treiben, mich in meinem Vertrauen auf Christi Verdienst dabei nicht irremachen. Ich bitte E. E. sich Ihrerseits vorzusehen, daß Sie dem Gerichte Gottes nicht eben durch die Überhebung Ihrer an mich gerichteten Warnung verfallen.« Am Schluß empfiehlt er ihm eine Bibelstelle, die lautet: »Herr, hilf mir, mein Gott: denn Du schlägst alle meine Feinde auf den Backen und zerschmetterst der Gottlosen Zähne ... Sela.«

In diesem biblischen Capriccio verebben die letzten Wellen von Bismarcks Christentum.

Die jüngeren Feinde gehen ohne Umschweif auf ihr Ziel und gebrauchen das Kreuz nur, indem sie unter dem Wappen der einst von Bismarck mitbegründeten Kreuzzeitung kämpfen, die, wie seine Memoiren sagen, »unter dem christlichen Symbol des Kreuzes und mit dem Motto ›Mit Gott für König und Vaterland‹ seit Jahren nicht mehr die konservative Fraktion und noch weniger das Christentum ... vertritt«. Hier und in der zum Sturze Bismarcks von seinen Vettern eigens gegründeten »Reichsglocke« beginnt im Jahre 72 der Feldzug der Verleumder gegen Ehre und Integrität des Kanzlers. »Die Ära Delbrück-Camphausen-Bleichröder« heißt die erste anonyme Artikelreihe, die irgendein Redakteur zeichnen muß; es ist der Freiherr von Loë, ein von Bismarck kaltgestellter Diplomat, der diesem schreibt:

»Ich schlage vor, die nächste Nummer der Reichsglocke zu einer Benefiz-Vorstellung zugunsten des Reichskanzlers zu erheben. Vom psychologisch-medizinischen Standpunkte scheint es sehr wichtig, in der Reihenfolge der Artikel zuerst das Pathetische und dann das Komische zu bringen; die Hauptsache ist, daß von vornherein gleich seine Verdauung auf einige Tage gestört wird, und das geschieht nur durch leidenschaftliche Erregung.« Gleichzeitig schreibt ein Manteuffel dem andern, Bismarcks altem Chef und Gegner, der jetzt gegen ihn im Herrenhause gesprochen: »Du brauchst gar keine Badekur, um Minister-Präsident zu werden.« Dies ist hinter den Kulissen der Ton jener Herren. Im Rampenlichte der Artikelreihe heißt es:

»Auch mit dem Fürsten Bismarck sollen, schon ehe er Minister in Preußen wurde, hochfinanzielle Kreise in nähere Beziehung getreten sein. Die intimen Beziehungen des Herrn von Bleichröder zum Fürsten dürften, mindestens indirekt, an die vorministerielle Zeit des Fürsten anknüpfen, als derselbe, um mit spärlichem preußischen Gesandtengehalt und ohne erhebliches Vermögen seinen Souverän in Petersburg, Paris und Frankfurt repräsentieren zu können, allerdings guten Rat in finanziellen Dingen haben mußte ... Indessen darf der Fürst wie jedermann verlangen, daß man ihm so lange nur edle Motive unterlegt, bis sträfliche nachgewiesen worden sind; aber dieser mächtige Staatsmann hat doch berüchtigten Volksausbeutern seine Gunst erwiesen ... Es gibt fast keinen Fehler, dessen sich die gegenwärtige Regierung nicht schon schuldig gemacht hätte, bloß um ihre skandalösen Beziehungen zu Berliner Financiers zu verschleiern.« Und der Freiherr von Loë selber schrieb am Tage vor der Kriegserklärung, im Juli 70 habe er Bleichröder im Ministerium getroffen: »Vermutlich war es nicht das Wetter, welches den Gegenstand ihrer Unterhaltung gebildet hatte; ob an jenem Tage Herr von Bleichröder Ankäufe oder Verkäufe gemacht hat, d. h. auf Krieg oder Frieden spekuliert, weiß ich nicht ... Keinesfalls aber zweifle ich, daß die Freundschaft zwischen Herrn von Bleichröder und Herrn von Bismarck für letzteren von Vorteil, d. h. von intellektuellem Vorteil, gewesen ist.«

Ferner habe Bismarck dem Juden Behrend, Pächter seiner Varziner Papiermühle, Staatsaufträge zugeschanzt; schließlich habe er, wie ein Rittmeister von Puttkamer schrieb, das Gesetz über die hinterpommerschen Lehen nur gemacht, um die Erbfolge seiner Frau an einem Puttkamerischen Lehen zu erwirken.

Ist die Gemeinheit weiter zu treiben? Die eigenen Standesgenossen prangern den Mann, in dessen Schatten sie sämtlich verschwinden, vor der Nation als einen Geschäftemacher an, nehmen ihm aber durch die Glätte der Fassung die Handhabe zur Klage, schädigen ihn doppelt in einer Epoche der Gründungen zwischen schwindelhaften und korrumpierten Existenzen, an deren Ende immer die Juden Zielpunkt der Schmähungen werden, schädigen vor allem das Land, auf dessen Korruption Europa mit Schadenfreude blickt. Während sich dieser Stand an den Spekulationen einer allzu siegreichen Epoche vermittels der Geschicklichkeit meist jüdischer Bankhäuser beteiligt, verleumdet er zugleich auch diese vor dem Auslande und macht Bismarck, als Urheber des nationalen Aufschwunges, zum Erfinder seiner Auswüchse, »denn die Korruption hat ungeheure Dimensionen angenommen ... Es ist ein arges Regiment, unter dem wir leben, sein Name aber ist Bismarck.« Nur dieser Satz war faßbar, der antisemitische Redakteur flüchtete vor dem Gefängnis und schrieb weiter aus der Schweiz.

Dies alles, etwa gegen Windthorst geschleudert, der ja auch bei Bleichröder aus und ein ging, hätte nur sein und aller Gelächter erregt, denn er blieb arm bis zum Tode. Bismarck war entschlossen, Geist und Macht auch persönlich zu nützen, zitierte oft die großartigen Geschenke der englischen Nation an ihre Staatsmänner, machte seinen Fürstenstand von einem solchen Geschenk moralisch abhängig und hat in 30 Jahren ein sehr großes Vermögen erworben.

Aber er war viel zu klug, die Stellung eines Kanzlers als solche, zugleich seinen persönlichen Ruf, und sei es um Millionen, zu riskieren. Was tat er? Als politisches Genie fand er den einzigen Weg, um sein Ziel zu erreichen und sich dennoch nicht zu gefährden: er suchte sich unter den Bankleuten seines Reiches den aus, den er zugleich für den kühnsten und ehrlichsten hielt, verpflichtete sich diesen Mann durch gelegentliche Gespräche im Lauf der Geschäfte und sicherte sich zugleich das denkbar größte Wachstum seines eigenen Vermögens durch eine einzige Unterschrift: er gab ihm Generalvollmacht.

Auch darüber war der Unwille groß, zumal dergleichen Gründerzeiten jeden Verdienenden zum Spitzel des anderen machen; unter den reich werdenden Adligen sprach man von »den Gefahren für das gesamte Staatswohl, wenn der erste Staatsmann des Deutschen Reiches dem ersten Bankier und Großjuden Generalvollmacht für sein Vermögen erteilt«, Moltke und andere Generale suchten Bismarck indirekt von Bleichröder zu trennen, alte Vertraute warnten ihn schriftlich, »ja ich kann es nicht unterlassen, E. D. die Mitteilung zu machen, daß der Volkswitz Bleichröder den Kompagnon der Reichsregierung nennt ... Die altpreußische Ehrbarkeit wird geschädigt ... durch die Begünstigung des Gründertums von oben her.« Bismarck lehnte jeden Rat ab und ließ den Kaiser, dem man gleichfalls warnend schrieb, Bleichröder auf seinem Gute besuchen, während des Kaisers Vermögen ebenso glänzend, nur von einem andern »Großjuden« verwaltet wurde.

»Ich weiß,« sagte Bismarck im Alter, »was ich von Bleichröder und seinen Söhnen als Menschen zu halten habe ... Für mich war er mein Bankier. Es ist erlogen, daß ich ihm Mitteilungen politischer Natur gemacht habe, damit er solchergestalt bessere Geschäfte für mich und sich machen konnte. Wahr ist, daß er mir im Jahre 66 die Mittel zur Kriegsführung brachte, die uns niemand sonst vorschießen wollte. Das war eine Tat, für die ich dem Mann zu Dank verpflichtet war. Als anständiger Mensch lasse ich mir auch von einem Juden nicht nachsagen, daß ich ihn gebraucht und ihn dann für geleistete Dienste, die ich als Staatsmann hoch veranschlagen mußte, verachtet habe.« Noch aus diesem Rückblick ist die Verstrickung von Dank und Hingabe zu lesen.

Auch um Einzelheiten hat sich Bismarck in den ersten zehn Jahren gekümmert, denn er erzählt, er habe erst im Jahre 77 sein letztes ausländisches Papier verkaufen lassen: »Als ich damals hörte, Schuwalow wäre zum Botschafter in London ernannt, da habe ich in schlafloser Nacht kalkuliert: wenn die Russen ihren klügsten Mann in diesem Augenblicke wegschicken, so ist zehn gegen eins zu wetten, daß sie eine Dummheit machen werden. Daher wies ich am andern Tage Bleichröder an, meine russischen Staatspapiere zu verkaufen. Er hat mir nachher für diese Voraussicht sein Kompliment gemacht.«

Dann kaufte er nichts mehr im Ausland, um sein Schach gegen Europa unbefangen weiter zu spielen. Niemals aber hat Bismarck, weder vor- noch nachher, wie später Holstein und andere, nach dem Kurszettel Geschäfte oder gar Politik gemacht; er mag nur mit Bleichröders Kontoauszug in jedem Jahr zufriedener gewesen sein. Freilich hat er seine Varziner Papiermühle bei Staatsaufträgen konkurrieren lassen, erhalten hat sein Pächter den Auftrag, der ihm selbst nichts bringen konnte, nur, weil sein Angebot das niedrigste war. Auch der Vorwurf jenes Puttkamer fällt in sich zusammen.

So konnte Bismarck, aus dem sicheren Hafen seiner Generalvollmacht, im Reichstage mit tödlichen Geschossen wiederschießen: »Wenn ein Blatt wie die Kreuzzeitung ... sich nicht entblödet, die schändlichsten und lügenhaftesten Verleumdungen über hochgestellte Männer in die Welt zu bringen, in einer solchen Form, daß sie ... gerichtlich nicht zu fassen ist, aber doch den Eindruck erweckt: hier wird den Ministern vorgeworfen, daß sie unredlich gehandelt haben, ... so ist das eine ehrlose Verleumdung, gegen die wir alle Front machen sollten, und niemand sollte sich mit einem Abonnement indirekt daran beteiligen ... Jeder, der das Blatt hält, beteiligt sich ... an der Lüge und Verleumdung, die darin gemacht wird.«

Aber die Vettern trotzen ihm: sofort erklären sich 46 Träger der ältesten Namen, denen sich nachher einige hundert Geistliche anschließen, in der Kreuzzeitung als treue Anhänger der königlichen und konservativen Fahne, die sich von ihrem Blatte nicht trennen würden, und »wenn der Herr Reichskanzler die Aufrichtigkeit unserer christlichen Gesinnung in Zweifel zieht, so verschmähen wir es ebenso, mit ihm darüber zu rechten, wie wir es zurückweisen, Belehrungen über Ehre und Anstand anzunehmen.« Unterzeichnet von einer Menge Wedels, Zitzewitz, Marwitz, Seherr-Toss, Gottberg, aber auch von Bismarcks ältesten Freunden und Vettern Blanckenburg und Kleist-Retzow, schließlich »mit tiefem Schmerze« vom alten Thadden-Trieglaff.

So stehen die Zeugen des jungen Bismarck, die einst zu dem Abenteurer hielten, jetzt feindlich auf gegen sein Alter, da er, der Mächtigste im Reiche, sich schäumend ihnen entgegenstellt. Er nimmt diese Liste der »Deklaranten« und druckt sie im Reichsanzeiger, erklärt also den Kampf gegen seine Person für einen Akt der Staatsfeindschaft. Mit solchem Donnerwetter trennt sich Bismarck auf Jahre hinaus von seinem Stande.

Schwerer als der Politiker fühlt sich der klassenstolze Junker in Bismarck geschlagen. Von den Deklaranten und ihrem Anhang liebt er im einzelnen keinen, aber die Gruppe, den Stand empfindet der Feldherr als seinen Stab und hält sich für verraten: sein Stolz ist getroffen. »Wenn der Verkehr mit anderen, die man für gleichgestellt hält, ... plötzlich aufhört und aus Motiven, die mehr persönlich als sachlich, mehr mißgünstig als ehrlich, und soweit sie ehrlich, ganz banausischer Natur sind, der beteiligte verantwortliche Minister von allen bisherigen Freunden boykottiert, als Feind behandelt, also mit sich und seinen Erwägungen vereinsamt wird, so muß das den Eingriff seiner amtlichen Sorgen in seine Nerven und seine Gewohnheit verschärfen ... In meinen Jahren und mit der Überzeugung, nicht mehr lange zu leben, hat der Verlust aller alten Freunde und Verbindungen etwas für diese Welt Entmutigendes, was bis zur Vereinsamung geht, wenn die Sorge um meine Frau dazutritt.«

In jedem dieser Feinde enthüllt sein Zorn die niedrigsten Motive, und als er mit einem Vertrauten die Liste der Junker durchsieht, die gegen seine Kirchengesetze stimmten, hält er, mit seinem Riesenbleistift jeden anzeichnend, diesen Monolog à la Wallenstein: »Gottberg? Der ist wütend, daß er noch nicht Präsident ist. Rosenberg stimmt gegen mich, den ich aus allen Fährlichkeiten gerettet habe! Gruner? Verletzter Ehrgeiz. Puttkamer? Der Mensch hat sich nie aus der Kirche was gemacht, möchte durch Grobheit und Opposition nur zeigen, daß er ganz meinesgleichen ist! Die Kerle ärgern sich, weil ich Fürst geworden bin, und ärgern sich gleichzeitig, wenn ich sie einmal nicht zu Tisch einlade! Ich kenne meine pommerschen Landsleute!«

Sein Zorn trifft vor allem Moritz Blanckenburg, weil dieser erst ein Portefeuille ausgeschlagen und später aus dem Gespräch über ein Börsenpapier mißverstandene Sätze fahrlässig weitergegeben hat, die dann ein anderer Deklarant vor Gericht brachte. So endet die schwärmerisch begonnene Freundschaft, das Lied von Marie von Thaddens Liebe und Tod, Bismarcks Erschütterung und »Erweckung«, in Bodenkredit-Aktien, die Bleichröder für den Herrn Reichskanzler gekauft haben soll und nicht einmal gekauft hat.

Daneben steht und fällt Hans von Kleist-Retzow, Johannas Verwandter, Bismarcks Schlafkamerad in den Zeiten des Landtages, der kleine asketische Freund, mit dem zusammen er als Minister kandidierte, später Pate von Bismarcks Tochter, der ihm nicht anders schrieb als Lieber Herzens-Bismarck und mit dessen religiösen Mahnungen er lange Zeit Geduld hatte: nun stehen sie sich erbittert im Herrenhause gegenüber, und wenn sie sich jetzt in öffentlichen Reden beleidigen, so denken sie vielleicht der Stunden vor 25 Jahren, wo einer dem andern seine Reden gegen die Demokraten zur Probe auf der Stube vortrug. Der Kanzler hatte den Freund noch einmal zu sich gebeten, um ihn zu überreden, aber als er seine Antwort gehört, führte Bismarck das Messer, als zerschneide er das Tuch auf dem Tische, stand auf, ließ ihn gehen und spottete bald von der Tribüne: »Der Herr Vorredner hat sich ja viel mit Theologie beschäftigt und wohl auch einmal die Frage vorgelegt, ob er für sein Seelenheil besser sorgt, wenn er katholisch wird.«

Nachher versucht es Kleist aufs neue, schickt ein Gedicht zur Silberhochzeit, aber Bismarck verbietet seiner Frau, ihm auch nur zu schreiben; dem Diener sagt er, daß es Andre hören: »Herr von Kleist wird nicht gemeldet.«

V

Mit einem Gefühl zwischen Bitterkeit und Wonne sah der 60jährige Bismarck die Menschenfeindschaft seiner zwanziger Jahre bestätigt und erwidert: »Wenn ich schlaflos im Bette liege, sagt er damals zu Lucius, da kommen mir oft Gedanken über ungesühntes Unrecht, das mir vor 30 Jahren widerfahren ist, dann werde ich förmlich heiß darüber und träume im Halbschlaf von Abwehr. Da denke ich z. B. an die rohen Mißhandlungen im Plamannschen Institut, wo man uns mit Rapierstößen weckte.« Wer so nach 50 Jahren noch seinen Erziehern im Halbschlaf an die Gurgel springt, der wird durch den natürlichen Haß, den er erzeugt, in seinen Rachegelüsten immer böser und ist, wie Bunsen, ein feiner Beobachter, bemerkt, »Haß und Rachsucht noch zugeneigter als dies bei Despoten üblich, und in kleinen Sachen klein.«

Nun häufen sich Verfolgungen aller, die andrer Meinung sind, jeder Beleidiger wird, besonders in den siebziger Jahren, dem Staatsanwalt übergeben, für dringliche Fälle hat der Kanzler vorgedruckte Formulare für Beleidigungsklagen, er nennt das Territion. Selten stellt sich ihm einer entgegen, selbst Mommsen, wegen Beleidigung verklagt, hat die Schwäche, den Wortlaut jener Wahlrede abzuleugnen, worauf dann freilich Bismarck trumpfen kann: »Die Anklage war vielleicht ein Fehler, da Mommsen sich aber so erniedrigt zu leugnen, so haben wir gewonnenes Spiel.«

Wenn der Redakteur des Kladderadatsch, mit dem er gern am Familientisch um die Wette Witze gemacht, eine harmlose Bosheit gegen ihn drucken läßt, so läßt er ihn bei schlechter Laune plötzlich verklagen und nach Plötzensee bringen; ja, einem russischen Staatsmann macht er das erstaunliche Geständnis: »Die Galle arbeitet zu sehr in mir, und was schlimmer ist, sie verdunkelt selbst manchmal mein Urteil.« Als bei Laskers Tod in Amerika das Parlament seinen Ausdruck des Mitgefühls mit dem deutschen Volke in formellem Irrtum an den Reichskanzler drahtet, lehnt er ab, diese Ehrung des toten Gegners an den Reichstag weiterzugeben, schickt sie nach Washington zurück. Sein Mißtrauen ist so groß geworden, daß er auf einem Spaziergang im Kanzlergarten beim Anblick eines Kellerlichtes stutzt und fragt: »Was mag da sein? Da wohnt doch niemand. Macht da unten vielleicht einer falsches Geld?«

Jede abweichende Ansicht kann nur noch zwei Motive haben: Bosheit gegen ihn oder Strebertum nach höheren Kreisen. In der Tat werden Höfe, Botschaften, Ministerien immer gefährlichere Zentren der Intrige, und wenn er im Alter seine Memoiren schreiben wird, so wird das längste von allen Kapiteln die Überschrift »Intrigen« tragen. Der Fall Arnim ist nur der berühmteste geworden.

»Ein guter Kopf, aber er hat keinen Raketensatz im After«: mit diesem überwältigenden Bilde, lange vor dem Streite gesprochen, hat Bismarck den Kameraden seiner Kindheit getroffen; sieht man diesen näher an, so macht er einem das Mitgefühl mit seinem Schicksal schwer: so affektiert und eitel, hysterisch, unsicher und feige ist dieser kluge Diplomat gewesen, ein Salonlöwe mit rauschendem Klavierspiel, seit seiner reichen Heirat geizig, ein Schauspieler, der gern den Skrupellosen macht, Machiavell zitiert, in Sprachen plätschert und Bismarck einmal beim Weine vertraut: »In jedem Vordermann in der Karriere sehe ich einen persönlichen Feind und behandle ihn dementsprechend: nur darf er es nicht merken, so lange er mein Vorgesetzter ist!«

Dieser Vorgesetzte, Bismarck, der ihn hochbegabt nennt, macht ihn zuerst zum Gesandten bei der Kurie, dann zum Botschafter in Paris, dazwischen wird er Graf, rennt also rascher seine Bahn als alle anderen. Kein Zweifel, er will Kanzler werden, nähert sich deshalb der Kaiserin Augusta, die in ihm einen Freund der Katholiken und Franzosen und einen Causeur von solcher Glätte schätzt, wie es freilich Bismarck nur war, wenn er wollte, und in Augustas Gegenwart wollte er nicht. Da Bismarck die Republik in Frankreich erhalten, eine Stärkung des Landes durch neue Monarchie verhindern möchte, ist man in jenem Kreis, wie immer, für das Gegenteil, diesmal also für die Legitimen; Arnim kämpft deshalb in Paris gegen Thiers und seine Partei und beeinflußt in Privatbriefen den Kaiser, der in seiner unbestechlichen Ordnung die Briefe dem Kanzler übergibt, wie früher die von Goltz.

Sofort beschließt Bismarck Arnims Sturz, empfängt ihn nicht in Berlin, reist ab, erwidert seine Briefe nicht, während der Kaiser seinen Botschafter wiederholt mit der ausgesprochenen Absicht kommen läßt, ihn dadurch für des Kanzlers Rücksichtslosigkeit zu entschädigen. In diesem Schutze macht Arnim den Denkfehler, man könne im Deutschen Reich mit dem Kaiser gegen Bismarck amtieren. Auf dessen entschiedene Beschwerde an den gemeinsamen Herrn bietet Arnim den Rücktritt an, was der Kaiser ablehnt, nach Arnims Berichte mit der Begründung, es handle sich nur um eine Ranküne des Fürsten, und »Ranküne ist sein vorherrschender Charakterzug; traurig, bei einem so hochverdienten Manne das konstatieren zu müssen«. So gestärkt, wagt sich Arnim in die Höhle des Löwen zu einer Unterhaltung, die beide überliefert haben.

»Im verletzenden Tone gütiger, stiller Hoheit und Herablassung« beginnt Bismarck; dann, auf Arnims Frage, warum er ihn verfolge, stürzt eine Flut von Vorwürfen ihm entgegen: »Seit 8 Monaten haben Sie meine Gesundheit geschädigt, mir die Ruhe geraubt! Sie konspirieren mit der Kaiserin! Sie ruhen nicht eher, bis Sie an diesem Tische sitzen und gesehn haben, daß es auch nichts ist!«

Selten blickt man in die Dämmerwelt dieses Herzens tiefer, als in diesem Augenblicke, wo der Wille zur Macht ihm ein so grandioses Geständnis herauslockt, wo er den letzten Unwert seines Regierer-Tisches in einem Furor entfesselter Wahrheiten vor dem preisgibt, der ihn verdrängen möchte.

Anstatt aber aufzuspringen und dem Chef seine Stellung vor die Füße zu werfen, klagt Arnim mit weicher Stimme:

– Haben E. D. gar kein Vertrauen mehr zu mir? Worauf ihn Bismarck »mit hölzernen Augen« ansieht und erwidert: »Garkeins!« Darauf streckt ihm Arnim die Hand entgegen, er sagt:

– Wollen Sie zum Abschied mir nicht noch einmal die Hand reichen?

»Innerhalb meines Hauses will ich es Ihnen nicht abschlagen, außerhalb bitte ich aber, diese Zumutung nicht an mich zu stellen.«

Nach diesem beschämenden Auftritt wird es Bismarck noch leichter, seinen Herrn vor die Alternative: er oder ich zu stellen, drohend schreibt er dem Kaiser, mit einem »Botschafter von so wenig glaubwürdigem Charakter« wolle er nicht um das Vertrauen des Herrn ringen. »Ich habe, und nicht ich allein, den Verdacht, daß er seine geschäftliche Tätigkeit gelegentlich seinen persönlichen Interessen unterordnet. Beweisen läßt sich dergleichen nicht, aber es ist schwer, mit einem solchen Verdacht im Herzen für die Art verantwortlich zu bleiben, wie dieser hohe Beamte seine Instruktionen ausführt.«

Arnim soll damals gewisse Verhandlungen wegen Zahlung der französischen Kriegsschuld verzögert haben, um eine mit dem Baron Hirsch zusammen unternommene Spekulation nicht zu gefährden. In grotesker Ähnlichkeit begegnen sich diese übrigens gleichzeitigen Beschuldigungen, in denen zwei pommersche Junker und hohe Reichsbeamte, geführt von zwei geadelten Juden, Privatgeschäfte zum Schaden des Staates einander vorwerfen; denn auch Arnim gehört, zwar ungenannt, zu den feindlichen Vettern. Bis in den Wortlaut ähnlich, unbewiesen, auch unbeweisbar, starren diese Verleumdungen einander an, doch nur der Stärkere vermag sie niederzuschlagen.

Der alte Herr will seinen Botschafter höchstens zur Disposition stellen, Bismarck aber fürchtet einen in Berlin intrigierenden Arnim mehr als in Paris, er läßt ihn als Gesandten nach Konstantinopel verbannen. Da macht Arnim die Dummheit. Anstatt abzugehen und im Herrenhause die Kanzlerfronde zu führen, beugt er sich weiter unter den feindlichen Chef, der ihn schon in den letzten Monaten mit schrecklichen amtlichen Erlassen peitschte: »Ich muß ein höheres Maß von Fügsamkeit in meine Instruktionen und ein geringeres Maß von ... eigenen politischen Ansichten beanspruchen, als diejenigen, die Ihrer Berichterstattung und Ihrem amtlichen Verhalten bisher zugrunde lagen.« Dagegen läßt Arnim anonym gewisse Aktenstücke drucken, aus denen seine Voraussicht gegenüber Bismarcks Kurzsicht deutlich werden soll; doch ist er so kurzsichtig, die Entdeckung nicht vorauszusehen. Jetzt hat ihn Bismarck: jetzt kann keine Kaiserin mehr diesen Arnim halten, jetzt kann er den Feind wegen Amtsvergehen entlassen. Bis hierher ist es der Kampf zweier Rivalen, von denen der Schwächere durch Leichtsinn dem Stärkeren seinen Sieg erleichtert.

Nun beginnt Bismarcks Grausamkeit, die den »Fall Arnim« mit legendärer Kraft zur Anklage der halben Nation gegen den Sieger trieb; daß Bismarck den Feind nicht bloß matt setzen, sondern vernichten will, ist der moralische Übergriff, den Mit- und Nachwelt nicht verzeiht. Als Arnims Nachfolger aus Paris das Fehlen gewisser Akten meldet, verweigert Arnim, der sie für Privatakten erklärt, die Herausgabe; aus seiner glänzenden Bahn geworfen, ein pensionierter Beamter, der morgen Kanzler sein wollte, trumpft er auf Protektoren und Abkunft, reizt durch Trotz den allmächtigen Vetter nur noch mehr, der nun, in formalem Rechte, den Bösewicht auf seinem Gute kurzerhand verhaften läßt. Prozeß, neun Monate Gefängnis, Flucht in die Schweiz. Den Prozeß macht Bismarck, um durch einmalige Darstellung vor Gericht jahrelangen Enthüllungen vorzubeugen, und sagt, der Kaiser habe das größere Interesse, die Vorlage aller Akten zu verhindern, als er selbst. Zugleich läßt er Arnim raten, er solle Begnadigung beantragen.

Der aber hat sich nun völlig verrannt, publiziert im Auslande Broschüren ohne Geist und Haltung; darauf neuer Prozeß wegen Preisgabe geheimer diplomatischer Vorgänge, Verurteilung des Abwesenden zu 5 Jahren Zuchthaus, mit Feststellung ehrloser Gesinnung. Als er 4 Jahre später freies Geleit durchsetzt, sich vor dem Reichsgericht zu reinigen, stirbt er vor der Abreise in Nizza, »ehrlos«, heimatlos.

In diesem Prozeß tritt zum ersten und letzten Mal ein Mann vor die Öffentlichkeit, der sie nach seinem Charakter scheut: es ist der Baron Holstein, den Bismarck in Petersburg angelernt, später gegen Arnim, dessen Gegner er war, als eine Art Aufpasser an der Pariser Botschaft verwendet, zu geheimen Berichten über seinen Chef aufgefordert und so erst die schlüssigen Beweise von Arnims Kanzlerträumen empfangen hat. Nun schickt er Holstein im Gericht als Zeugen vor, die Preisgabe seiner Spitzelrolle schädigt diesen schwer und hat, nach seiner eigenen Erklärung, den Grund zu einem Hasse gelegt, der freilich erst im Laufe der Jahre gegen Bismarck zum Ausbruch kommen soll, mit Folgen von weltgeschichtlicher Weite.

VI

Der einzige Mensch um Bismarck, der Treue und Kritik, Freundschaft und Haltung verband, war und blieb Roon; die Stürme der siebziger Jahre gefährdeten auch diese Freundschaft, und nur Roons Ritterlichkeit hat sie gerettet. Mit jenem Ernst, der immer nur dem König und dem Lande, nie sich, der Stellung und der Partei zu nutzen suchte, erkannte Roon die turbulente Entwickelung im Innern und schrieb schon im Jahre 72: »Die Erfolge von 66 oder vielmehr, die an diese Erfolge geknüpften Illusionen von allgemeiner Versöhnung der politischen Gegensätze, haben uns das erste Bein gestellt ..., woraus uns zu erretten der Heldensprung von 70 nicht gedient hat. Die damit verknüpfte Berauschung verhinderte die Rückkehr zur Nüchternheit, und so taumeln wir weiter an Abgründen.«

Trotz solcher Erkenntnisse blieb er an Bismarcks Seite, als fast alle alten Parteigenossen und Vettern sich gegen ihn wandten, und war auf keine Art zum Anschluß an die Deklaranten zu bewegen, obwohl Blanckenburg nicht nur sein Neffe war, sondern politischer Vertrauter seit Jahrzehnten. Seine Liebe zum Vaterlande, tiefer als in irgendeinem Preußen dieser Epoche, auch der Glaube an den Größeren, hielten ihn frei von jeder Eifersucht; klüger und wohlwollender als die Vettern, saturiert durch Macht, fühlte er sich als Zweiter und brauchte nicht zu erröten; er nannte sich selbst den Schild, auf dem Bismarck emporgehoben worden.

Vielleicht war es gerade diese innere Verehrung, die ihn zur Trennung von Bismarck trieb; nach seiner Art konnte er sie nur durch Rücktritt erreichen. Der König, dem nur noch diese beiden alten Diener geblieben sind, erschrickt bei Roons Abschiedsgesuch, tut alles, um ihn zu halten; Bismarck aber erstrebt und erreicht mehr: durch einen Geniestreich hält er den letzten Getreuen und entlastet sich selber, indem er Roons Amtsmüdigkeit mit Erhebung zum Preußischen Minister-Präsidenten vertreibt und die Verantwortung, mitten im Streit mit den Konservativen, von sich auf ihn abwälzt: das alles blitzartig, bei Empfang von Roons Mitteilung, wobei er sofort, Sylvester 72, nach Berlin aufbricht, um alles zu ordnen. In großem Überblick schreibt er vor Abreise am selben Tage dem Freunde, er selber sei krank und könne die Geschäfte nicht wie früher führen:

»So lange der König es befiehlt, will ich ihm als Auswärtiger Minister gern weiter dienen, da ich die mehr als 20jährige Erfahrung in der europäischen Politik und das Vertrauen fremder Höfe nicht auf einen Andern übertragen kann. Aber die auswärtigen Angelegenheiten der stärksten Großmacht nehmen einen vollen Mannesdienst in Anspruch, und es ist eine unerhörte Anomalie, daß der Auswärtige Minister eines großen Reiches daneben die Verantwortung für die innere Politik desselben tragen soll. Mein Gewerbe ist ein solches, in dem man viele Feinde gewinnt, aber keine neuen Freunde, sondern die alten verliert, wenn man es 10 Jahre lang ehrlich und furchtlos betreibt ... Im Innern habe ich den Boden, der mir annehmbar ist, verloren durch die Desertion der konservativen Partei ... Meine Federn sind durch Überspannung erlahmt; der König als Reiter im Sattel weiß wohl kaum, daß und wie er in mir ein braves Pferd zuschanden geritten hat. Die Faulen halten besser aus.« Deshalb wolle er nur Kanzler und Minister des Auswärtigen bleiben.

»Die Verantwortung ... für solche Willensmeinungen S. M., die ich nicht teilen kann, vermag ich in meiner deprimierten Gemütsverfassung nicht mehr durchzufechten. Die meine Bestrebungen kreuzenden Einflüsse sind mir zu mächtig und die ruchlose Überhebung und politische Unbrauchbarkeit der Konservativen hat meine Freudigkeit im Kampfe seit dem letzten Frühjahre gebrochen. Mit den Konservativen ist nichts zu machen, ... gegen sie mag ich nicht ... In diesem Sinne werde ich übermorgen mein partielles Abschiedsgesuch S. M. vortragen ... Wir werden, wenn Gott uns Leben gibt, uns der großen Zeit, die wir gemeinsam durcharbeiteten, als alte Freunde gern erinnern ... In herzlicher und unwandelbarer Freundschaft.«

In so hohem Stil vermag Bismarck den politisch kalt berechneten halben Rückzug als eine Entscheidung des Herzens zu verkleiden; denn daß er bald wiederkommt, ja, daß er nur einen neuen Ruf erwartet, deutet er selber bald den Vertrauten an. Roon aber ist sein moralischer Gefangener; er wird es nur 9 Monate bleiben, denn unter Bismarck zu arbeiten ist schwer, neben ihm unmöglich. Nun hat er sogar seine Macht geteilt, nun soll er als Kanzler einen andern um Erlaubnis bitten, wenn er als Premier etwas will, nun ist Bismarck das Reich und Roon ist Preußen, und alle Friktionen, die nur durch jene Personalunion vermieden werden konnten: die Grundfehler der Reichsverfassung treten hervor und rächen sich am Leibe ihres Schöpfers.

Februar 73: die Verleumdung der Vettern ist auf der Höhe, jetzt haben sie den alten Wagener, Bismarcks Vertrauten, einst Journalist, jetzt Geheimrat, auf einer Korruption erwischt und suchen Bismarcks Mitwisserschaft zu beweisen. Bismarck wütet dagegen vor Roon und andern, die beiden Minister und Freunde sind gereizt, Bismarck fühlt sich nicht genug verteidigt und läßt in heftigem Selbstvergessen seine Wut auch gegen Roon aus. Abends wird er von folgendem Brief überrascht:

»In williger Anerkennung Ihrer Überlegenheit in mannigfachen Beziehungen habe ich mich immer ... bemüht, mit Eurer Durchlaucht auf gutem Fuße zu bleiben; auch heute, wo der Ton Ihrer Vorhaltungen es mir schwer machte, einen Bruch zu vermeiden. Offenbar unterschätzte Ihre ›Explosivität‹ die meinige ... Für die Zukunft aber ähnliche Begegnungen zu vermeiden, ist vielleicht im beiderseitigen, jedenfalls in meinem Interesse. Deshalb richte ich, in Erinnerung an langjährige freundschaftliche Verbindung, an ein Dezennium gemeinsamen Strebens, an E.D. die inständige Bitte, sich jederzeit versichert zu halten, daß Sie immer voll und ganz auf mich rechnen können, solange Sie meine Wirksamkeit in angemessener Weise in Anspruch nehmen, daß Sie dagegen Vorhaltungen oder gar Vorwürfe in betreff meines dienstlichen Wirkens nur unter Übernahme aller in meiner ›Explosivität‹ liegenden Chancen an mich richten können ... Gegen Sie meine alternden Kräfte und meinen geringen Einfluß zu versuchen: dazu bin ich weder töricht noch selbstsüchtig genug. Das ist ganz gewiß! Aber ebenso gewiß auch, daß ich es nicht dulden kann, wenn Sie mich in voller Verkennung meiner Natur wiederum rücksichtslos und feindselig oder gar wie einen renitenten oder saumseligen Untergebenen zu behandeln versuchen sollten, der ich nie war noch bin noch sein werde.« Er bittet, darin »den Versuch zu sehen, E. D. in betreff meiner Auffassung über unsere gegenseitigen Beziehungen und die unerläßlichen Bedingungen ihrer möglichen Fortsetzung vollkommen aufzuklären, und wünsche, Ihnen einen neuen Beweis dafür zu geben – mögen wir uns trennen oder nicht –, wie gern ich bliebe Ihr alter Freund Roon«.

Es ist der schönste Brief, den je in deutscher Sprache verletzte Freundschaft, beleidigter Stolz dem übergeordneten Geiste geschrieben; nichts anderes blieb dem Empfänger, als zu dem Freunde zu eilen und ihn mit Handschlag und dem Blick der großen Augen zurückzurufen. Aber Bismarck, der in seinem Leben viele Briefe des Grolls geschrieben, doch nie einen ähnlichen empfangen hat, beschritt zur Antwort eine schwache Mittellinie:

»Lieber Roon, es tut mir leid, daß Sie mir einen so kühlen Brief geschrieben haben, denn ich glaube, daß ich schon stärkere Explosionen Ihrerseits, wie die meinige von heute, hingenommen oder in kurzer Frist vergessen habe. Ich habe auch von heute den Eindruck, daß der kontagiöse Ausschlag des Zornes bei Ihnen früher ausbrach als bei mir. Ich glaube nicht, daß Sie sich so in meine Haut hineindenken, wie es ein langjähriger Freund sollte, und wie ich es versuchen würde, wenn Sie durch ähnliche Niederträchtigkeiten öffentlich angegriffen würden ... Ich hatte geglaubt, daß ich einer eifrigen Sympathie meiner Kollegen sicher sein würde, wenn meine Ehre und Integrität öffentlich angefochten würde ... Sie haben vielleicht zu viel zu tun, um für persönliche Empfindungen Anderer Zeit und Nerven übrig zu haben. Die Tatsache ist aber, daß sich keine Stimme eines Kollegen, eines Blattes, eines Freundes hat vernehmen lassen, um mir gegen unverdiente und schwere Kränkung freiwillig beizustehen ... Ich muß amtliche Schritte tun, um den Beistand zu erlangen, den mir Freundschaft und persönliches Wohlwollen nicht leisten ...

»Jedenfalls waren meine Empfindungen nicht so überhebend, wie Sie annehmen, sondern die eines Kollegen, der bei schwerer und ungerechter Kränkung da, wo er auf Freundeshilfe glaubt rechnen zu können, geschäftlichen Bedenken und zorniger Zurückweisung begegnet ... Haben Sie, in Erinnerung an zehn Jahre gemeinsamer Arbeit und noch mehr an ältere Zeiten, Geduld mit mir, es wird nicht auf lange nötig sein. Den Kampf für meinen guten Ruf will ich noch durchfechten mit der letzten Nervenfaser, die Gott mir läßt ... Dann werde ich Ihnen keine Gelegenheit mehr bieten, durch ähnliche Unterredungen und Korrespondenzen, wie die heutigen, den Bestand der alten Freundschaft gefährdet zu sehen, die ich gern über mein Dienstverhältnis hinaus mir erhalten möchte.«

Da sitzt nun Roon, Minister-Präsident, im Hause neben dem Kanzler, vielleicht konnte er ihn vom Fenster im Garten herumgehn sehen, als er sich zur Ruhe dieses Briefes abkühlen wollte; muß er bei der Versicherung dieses großen Egoisten nicht lächeln, er würde jeden Freund verteidigen, übrigens ginge er nächstens ab? In seiner Überlegenheit verzeiht Roon die wiederholte Anklage, vergißt als Offizier, daß jener Affront vor Zeugen stattgehabt, die den Anschnauzer des Kanzlers gegen den Minister-Präsidenten sicher eilig weitergetragen haben; er nimmt einen Bogen und überschreibt ihn: »Lieber Bismarck.«

Niemals hat er ihn so, nur zuweilen »Verehrter Freund« angeredet, die Überschrift oft vermieden, weil er sich nicht entschließen konnte, Bismarcks ständige Anrede »Lieber Roon«, zurückzugeben, die ihm zu herzlich war oder zu anspruchsvoll. Indem er ihm heute zum ersten und letzten Male diesen Zuruf schenkt, sucht er die »Durchlaucht« des gestrigen Briefes auszulöschen und zieht zugleich den in den Fürstenstand Verstoßenen wieder in den Bezirk der Liebe. Und mit Liebe und Haltung fährt er fort, zugleich die gestrige Szene selber schildernd:

»Wenn ich solche ›kühle‹ Briefe an Sie schreiben muß, so müssen Sie wissen, daß ich dabei von den schmerzlichsten Empfindungen zerrissen werde, es kann Ihnen ja nicht verborgen geblieben sein, wie hoch und wert ich Sie halte; auch werden Sie sich sagen müssen, daß ich in diesem Gefühl täglich Gelegenheit habe, Lanzen für Sie zu brechen, und diese Gelegenheit nach Kräften wacker benutze, überall, wo ich der Feindschaft gegen Sie begegne. Die Annahme, daß ich, unempfindlich für Ihre Ehre und Ihren Ruf, geneigt wäre, Sie in Lauheit ... preiszugeben, verletzte mich daher aufs empfindlichste, ... und Sie knüpften gestern bedenkliche und unmotivierte Drohungen daran. Als ich meinem Befremden, weshalb dies alles gegen mich gerichtet werde, Ausdruck gab, erfolgten neue Ergießungen unbegründeten Mißtrauens auch in meinen Eifer und Wiederholungen Ihrer zornigen Zweifel an meiner teilnehmenden Sympathie für Sie ...

»Aber genug von gestern und dem hinter uns Liegenden! Ich solle, so schreiben Sie, Geduld mit Ihnen haben ... Sie kennen mich hinlänglich, um zu wissen, daß ich das apostolische Wort ›Einer trage des Andern Last‹ gern immer beachten möchte, und mich demgemäß redlich bemühe. Aber ich bin auch nur ein schwacher Mensch, der es über sein Vermögen findet, wenn er von solchen, die er vor Anderen besonders hoch hält und von Herzen lieb hat, verkannt wird und sich mißhandelt glaubt. Das geht über mein Können. Daher müssen Sie auch mit mir Nachsicht haben und mir nicht zumuten, als stumme Scheibe zu dienen, wenn es Ihnen unmotiviert ›von der Pfanne brennt‹. Was aber die kurze Zeit anlangt, während ich nur noch mit Ihnen Geduld haben möge, so ist es meines Herzens Wunsch und Hoffnung, daß Sie auf die Geschicke unseres Landes noch lange gesegneten Einfluß üben mögen, wenn meine Gebeine längst im Grabe ruhen werden.«

So sprach einst ein Edelmann.

Aber das Unwetter hat nichts ausgelüftet. Es geht auch jetzt nicht, und da Roon um jeden Preis sich Bismarck erhalten will, so nimmt er im Herbst seinen Abschied. Er schreibt dem Neffen, mit Bismarck gegen den liberalen Strom wäre es allenfalls noch gegangen, »gegen beide, das geht über meine Kräfte. An Bismarck selber schließt er mit den männlich entsagenden Worten: »Erlauben Sie mir, Ihnen aus vollem Herzen nochmals mein Adelante, adelantador, atrevido! zuzurufen (Vorwärts, kühner Held!) ... Das werde ich immer tun, bis an mein vielleicht nicht mehr fernes Lebensende, gleichviel, ob ich auf der Bühne oder im Zuschauerraum meinen Platz habe.«

Jetzt ist die Antwort nicht minder schön: sobald Zweck und Mißtrauen fliehen, weiß Bismarck Menschenherzen zu unterscheiden, er kennt den Verlust, den er selber herbeigeführt: »Ich stehe dienstlich auf der Bresche, und mein irdischer Herr hat keine Rückzugslinie, also: vexilla regis prodeunt, und ich will, krank oder gesund, die Fahne meines Lehnsherrn halten, gegen meine faktiösen Vettern so fest wie gegen Papst, Türken und Franzosen. Vermüde ich, so bin ich anschlagmäßig verwendet, und der Verbrauch meiner Person ist vor jedem Rechnungshofe justifiziert. Durch Ihren Austritt bin ich vereinsamt, unter Ministern die einzig fühlende Brust. Der Rest vom alten Stamme ist faul ... Im gelben Sitzungszimmer werde ich die Lücke auf Ihrem Sofaplatze nicht ausgefüllt finden und dabei denken: Ich hatte einen Kameraden.«

In diesem großen Duo zweier Männerstimmen endet das alte Preußen. Elf Jahre zurück, und sie zogen zusammen aus, den Drachen der Demokratie zu erlegen, nur allzusehr schien das den beiden Rittern zu gelingen: sie schossen so lange auf den Geist der Zeit, bis er Hurrah schrie und fiel. Aber nun ist er schon wieder lebendig, nun hat er gar drei Köpfe bekommen und grollt aus der Tiefe; wie soll da die vereinsamte Kraft des Einen genügen, ihn endlich zu töten!

Schnell schließt sich das selten geöffnete Herz, wieder entscheiden nur Zwecke und Interessen: schon ein halbes Jahr später behauptet Bismarck, der Roons Abgang verhindert und ihn durch Präsidentschaft gebunden hatte, Roons Eitelkeit sei an allen Fehlern schuld, er wollte nicht übergangen werden, während Camphausen viel geeigneter war; er habe sich das Arbeiten ganz abgewöhnt und nichts mehr geleistet. Roon aber, der noch sechs Jahre der Stille vor sich hat, steigert in der Entfernung das Bild des Freundes und findet, als Bismarck wieder einmal öffentlich mit Abschied droht, an seinen Neffen die Dichterworte: »Hat Prometheus das Feuer geraubt, so muß er sich nun auch die Fesseln und den Geier gefallen lassen ... Es kann gar nicht darauf ankommen, was er lieber möchte! Man nascht nicht ungestraft vom Baume der Unsterblichkeit. Wollte er jetzt um jeden Preis in das Behagen des Landlebens, so würde er ... sich selbst den Kranz von der Schläfe reißen.«

Als er den Tod vor sich sieht, reist er nach Berlin, quartiert sich in einem Hotel gegenüber dem Palais ein, sieht jeden Morgen Von seinem Stuhl aus die Fahne dort hochgehen, empfängt von drüben Nachfragen und Gaben, schließlich, am vorletzten Lebenstage, empfängt der 76 jährige Feldmarschall seinen 82 jährigen König. Da sitzen die beiden grundehrlichen Greise, Männer an Pflichtgefühl, Kinder an Frömmigkeit, reden von alten Kämpfen, und wie er geht, weist der König nach oben und sagt: »Grüßen Sie mir die alten Kameraden, Sie werden manchen treffen!«

So stirbt Albrecht von Roon.

VII

»Wenn man zum Ochsen hott sagt, so geht er rechts, sagt man hüh, so geht er links, aber der alte Mann versteht weder hüh noch hott!« Mit diesem Stoßseufzer ist Bismarcks geheime Ansicht über seinen König für dies Jahrzehnt bezeichnet; jetzt, wo sie 60 und 80 werden, wird das Verhältnis immer schlechter. Wie hätte auch ein Staatsmann von überragendem Verstände, getragen von europäischen Erfolgen, verwöhnt durch hundertfache Nachgiebigkeit seines Herrn, vollkommen Autokrat in den Geschäften, trotzdem duldsam und höflich bleiben, – wie hätte er überhaupt die Qual des formellen Fragens und Bittens ertragen sollen! Wie aber hätte auch ein dickköpfiger, ehrlicher Greis, getragen vom Königsgefühl, gewöhnt an die Form des Befehlens, dabei duldsam und höflich bleiben, – wie hätte er überhaupt den Anspruch auf Alleinherrschaft anerkennen sollen!

In den Briefen freilich erstirbt Bismarck und wird die Floskeln nie vermindern, die Hof und Geschichte erfordern, ja, in der Kronratssitzung befleißigt er sich, nach dem Bericht von Zeugen, »einer der Hofsprache angenäherten ehrfurchtsvollen déférence«. Wenn ihm dann der König voll Gnade und Freundschaft antwortet, so ist das so echt, wie seine Tränen bei Verleihung des Fürstenranges. Auch kommt es nie zur Eifersucht: der König tut alles, um den Namen des Ministers zu verherrlichen, seine Festbriefe sind immer von Dankbarkeit erfüllt: »Ihr über das Grab hinaus dankbarer, Ihr ewig dankbarer König und Freund.« Als ein Bürgerlicher zwecks Heirat mit einer Prinzessin geadelt werden soll, fragt der König erst Bismarck um Erlaubnis, weil der Kandidat sich einst geweigert hat, auf dessen Wohl zu trinken, denn »ich kann keinesfalls, um zwei Liebende glücklich zu machen, auf die Bitte eingehen, wenn Sie sich dagegen erklären!« Bismarck wiederum rühmt, mit dem stillen Hochmut des Genius, immer wieder und gegen jedermann an seinem Herrn Fleiß und Pflichtgefühl, die seine Vorgänger und Nachfolger weniger ausgezeichnet, die aber Wilhelm buchstäblich Tag und Nacht nicht verlassen haben.

Aber zu Dutzenden von Ministern, Abgeordneten, auch zu unpolitischen Besuchern, die es alle aufgeschrieben haben, ja, zu Fremden spricht Bismarck mit einer Offenheit, die er weitergegeben haben will, und im gegebenen Falle sofort dementieren würde.

»Die Dinge, für die der König jetzt verherrlicht wird, habe ich ihm mühsam abgerungen ... Der Umgang mit ihm wird immer schwerer, mit zunehmender Altersschwäche wird der Mangel an Entscheidungskraft immer unerträglicher.« Zu Hohenlohe: »Er weiß nicht mehr, was er unterschrieben hat, wird dann mitunter grob, wenn er hört, daß etwas geschehen ist, wovon er meint, keine Kenntnis zu haben!« Zum württembergischen Minister von Mittnacht: »Ich habe meinen König, der auch 66 von Abdankung gesprochen hat, auf meinen Schultern auf den Kaiserthron getragen. Und jetzt will er alles besser wissen als sein Minister, alles selber machen.« Zum Gartendirektor Booth, bei der Pfeife, zwischen den Zähnen: »Guter Offizier, liebenswürdig mit Damen!«, und als der Fremde die Reden des einstigen Prinzen Wilhelm im Landtage rühmt: »Nun, die waren ja vorher festgestellt, Beredsamkeit hat er nicht, spricht aber zuweilen gut zu seinen Generalen! ... Was einzig ist an ihm, das ist Treue und Zuverlässigkeit. Es ist nicht genug, daß ich sie meinem Herrn halte, ich muß auch überzeugt sein, daß er für mich einsteht.«

Um so schwerer erträgt es der Diener, wenn er den Herrn einmal untreu findet. Alles erfährt er, was der König gegen ihn äußert: »Immer droht er gleich mit Rücktritt, sagt der alte Herr zu Hohenlohe, nur um seinen Willen durchzusetzen, das kann so nicht weitergehen! Niemand weiß, wohin er mich noch führen will«, und mit Behagen entfaltet Bismarck eines seiner Abschiedsgesuche, das der 80 Jährige wütend zu einem Knäuel geballt hatte, denn am Rande steht doch nur das Wort: Niemals! Wenn er ihn dann wiedersieht, fährt der Herr seinen Diener mit den rührenden Worten an: »Soll ich mich auf meine alten Tage blamieren? Es ist eine Untreue, wenn Sie mich verlassen!« Ein andermal läßt Bismarck sein Gesuch als Drohung in der Schwebe, indem er die Entscheidung erst nach Ablauf seines Urlaubs erbittet, d. h., der König muß fünf Monate warten und schweigen! Der alte Herr ist wieder außer sich: »Sie werden es mir erlassen, den Eindruck, den das Schreiben auf mich macht, irgendwie zu schildern! Um eins bitte ich Sie aber, da Sie selbst schreiben, daß ich den Inhalt Ihres Schreibens geheimhalten möge: den Abschreiber Ihres Briefes eidlich zu verpflichten, zu schweigen ... Ihr tief erschütterter W.«

Und doch liest derselbe König jede Woche die Reichsglocke, und noch in Bismarcks Erinnerungen, wo er dies Verhältnis ins Harmonische stilisiert, beklagt er sich darüber, denn jenes Blatt war nur zu seiner Verleumdung begründet worden. Als einige Herren in der nächsten Zeit zu hohen Beamten ernannt werden, protestiert Bismarck gegen diese offenkundigen Akte des königlichen Wohlwollens für seine Feinde und schreibt dann von einem der drei beförderten Männer: »Seine langjährige Feindschaft gegen mich persönlich ist es allein, welche die Aufmerksamkeit auf ihn hat lenken können, denn er besitzt weder Fähigkeiten noch Verdienste, war im Auswärtigen Amt durch seine in wichtigen Momenten an Geisteskrankheit grenzende Unfähigkeit ein Hindernis und hat nunmehr seit 15 Jahren nichts geleistet als mit der ganzen Verbissenheit verkannter Selbstüberschätzung gegen mich gesprochen und geschrieben.«

Dafür weiß sich Bismarck, immer mit höfischem Respekt, durch Demütigungen seines Herrn zu rächen. Als im Jahre 74 dem König ein Satz in der Thronrede zu scharf erscheint, läßt Bismarck aus Varzin androhen, bei der geringsten Änderung würde er zur Eröffnung nicht nach Berlin kommen; Hohenlohe soll dem König sagen, seine Autoreneitelkeit sei zu groß, um diese Korrektur auf eigene Rechnung zu nehmen. Hohenlohe richtet es aus. »Man kann aber aus dieser Stelle ableiten, sagt der alte Herr aufgeregt, daß wir mit Frankreich wieder Krieg anfangen wollten! ... Davon will ich nichts wissen, ich bin zu alt und fürchte, Bismarck will mich nach und nach wieder in einen Krieg hineinführen!« Als jener höflich widerspricht, streicht Wilhelm seinen Bart und sagt ihm dann nur noch: »Ich werde in dieser Beziehung mit dem Fürsten Bismarck in Streit kommen. Es wird mir lieb sein, wenn Sie in meinem Sinne mit dem Fürsten sprechen wollen.« So lassen sich Herr und Diener durch einen Dritten Wahrheiten sagen, um ja nicht zusammenzustoßen; natürlich tilgt der alte Herr seine Korrektur.

»Das ist nun einmal nicht zu ändern«, erklärt der Kronprinz. »Wenn Bismarck meinem Vater eine Allianz mit Garibaldi oder selbst mit Mazzini vorschlüge, so würde er anfangs verzweifelt im Zimmer herumlaufen und rufen: Bismarck, was machen Sie aus mir! Dann bliebe er mitten im Zimmer stehen und sagte: Wenn Sie jedoch glauben, daß dies im Interesse des Staates unerläßlich ist, so läßt sich am Ende nichts dagegen einwenden.« Da begreift es sich leicht, daß der Humor einiger hoher Berliner Beamter Bismarck in Privatbriefen Caracalla nennt. Dann begreift man, daß der alte Herr auf Bismarcks Bestellung nach einem. Streit ihm zu Neujahr 73 einen rührenden Brief schreibt; Bismarck vertraut auch gleich darauf einem Liberalen zum Weitersagen an, das eigenhändige Schreiben habe ihm vorher im Entwurf vorgelegen, er habe nur zwei orthographische Fehler ausgebessert, und fügt, ganz Mephisto, hinzu: »Eigentlich schade, sonst hätte man später an der Echtheit noch weniger gezweifelt!«

Selten spricht einer die Wahrheit über diese Dinge aus. Unruh wagt es einmal, er sagt zu Bismarck, dem Kaiser werde es die Geschichte anrechnen, »daß er einen so unbequemen Minister, wie wohl noch kein König von Preußen, nicht bloß behält, sondern seinem Rat unbedingt folgt«. Dergleichen hört Bismarck ruhig an, er gibt die klassische Antwort: »Richtig. Die Könige haben einen eigentümlich weiten Blick für alles, was ihnen frommt.«

Niemandes Gegenwart hindert ihn, seinen alten Herrn preiszugeben. In einer Gesellschaft, wo es Lucius aufgezeichnet hat, sagt er im Jahre 75: »Da kommen oft eigenhändige Anfragen, deren Beantwortung ganze Wochen Arbeit erfordert. Der Kaiser raucht nicht, liest keine Zeitungen, nur Akten und Depeschen; es wäre nützlicher, wenn er Patience legte ... Wenn ich aber einmal eine scharfe Entgegnung mache, so wird er weich und äußert: ›Ich weiß schon, daß ich altersschwach bin, aber ich kann doch nicht dafür, daß ich so lange lebe!‹ Das tut einem dann natürlich weh.« Oder er erklärt seinem Arzt die Umständlichkeit der Hofsprache: »Ich kann nicht einfach sagen: es ist Blech, was E. M. sagen, oder: E. M. haben von der Politik die Ansicht eines Quartaners! Das muß alles in kunstgerechten Redensarten angedeutet werden. Die Leute wissen nicht, was dazu gehört, mit einem alten Olympier 18 Jahre lang auszukommen. Es gelingt nur, wenn man immer den Kabinetts-Revolver zur Hand hat.«

Seinem Vertrauten Lucius gibt er auf dessen Lob des alten Herrn diese furchtbare Antwort: »Alle Souveräne haben dasselbe Rezept in der Ausnutzung ihrer treuesten und talentvollsten Berater. Unser König muß auch ein solches Rezept von Friedrich dem Großen haben: er ist steinhart und kalt, er hegt gar keine Dankbarkeit gegen mich, sondern behält mich nur, weil er glaubt, ich könne ihm noch etwas leisten.«

Die Feindschaft mit Augusta kulminiert in den siebziger Jahren: alles, was gegen Bismarck schreibt oder intrigiert, Katholiken und Junker, ist bei der Kaiserin wohl aufgekommen und bei ihrem Berater, dem Hausminister Schleinitz; seit Bismarck mit den Liberalen geht, ist sie nun plötzlich antiliberal geworden. Als sie im Triumphzug in Berlin einzog, am Ende des Krieges, wußte das Volk nicht, und noch heute weiß es kaum, wie heftig sie um Verlegung dieses Triumphzuges zwecks Beendigung ihrer Badekur gekämpft hat, wodurch die Demobilmachung der Truppen um sechs Wochen verschoben wurde, dem Lande neue Millionen an Kosten entstanden sind. Das war nur ein kleiner Cäsarenwahn.

Ihre Haltung gegen Deputierte und Minister im Innern, fremde Fürsten im Auslande brachte beiden Teilen der Reichspolitik schweren Schaden, dem Kanzler die aufreibendsten Kämpfe. »Sie schreibt, klagt er zugleich zwei Vertrauten, eigenhändige Briefe an fremde Souveräne, angeblich im Auftrage ihres Gemahls, durchkreuzt meine Politik, konferiert mit dem französischen Botschafter, folgt seinen und Windthorsts Ratschlägen. Ihre Intrigen grenzen an Landesverrat ... Sie läßt sich Korrespondenzen schreiben, die sie dann dem Kaiser vorlegt und zwar beim Frühstück, denn nachher erhalte ich unangenehme Handbilletts des Kaisers. Wenn das nicht aufhört, werde ich abgehen und dann kein Blatt vor den Mund nehmen.«

Da sie den adligen Botschafter Frankreichs im Wunsche nach Restitution unterstützt und einen schlauen Gecken zum französischen Vorleser hat, der ein Spitzel ist, da sie exotische Typen und katholische Priester bevorzugt, und ihr Schleinitz »als eine Art Gegenminister« alles zuträgt, was Arnim, Windthorst und die faktiösen Vettern gegen Bismarck wissen und meinen, so steigert sich Mut und Hoffnung dieser Kreise, den ewigen Kanzler doch endlich zu stürzen. Bismarck ermittelt, daß die Kolportage der Reichsglocke im Bureau des Hausministeriums besorgt wurde, »der Vermittler war ein höherer Subalterner, der Frau von Schleinitz die Federn schnitt und den Schreibtisch in Ordnung hielt. Die Kaiserin hieß mich ihre Ungnade andauernd fühlen, und ihre unmittelbar Untergebenen, die höchsten Beamten des Hofes, trieben ihren Mangel an Form so weit, daß ich zu schriftlicher Beschwerde bei S. M. selbst veranlaßt wurde.«

Als er sich eines Morgens beim Kaiser über eine Gnade des Hofes für das Zentrum beschweren will, trifft er neben dem Bette des kranken Kaisers Augusta »in einer Toilette, die darauf schließen ließ, daß sie erst nach meiner Anmeldung herunter gekommen war. Auf meine Bitte, mit dem Kaiser allein sprechen zu dürfen, entfernte sie sich, aber nur bis zu einem dicht außerhalb der, von ihr nicht ganz geschlossenen, Türe stehenden Stuhle und trug Sorge, mich durch Bewegungen erkennen zu lassen, daß sie alles hörte.« Abends Ball. Bismarck ersucht sie, die schwache Gesundheit ihres Mannes nicht durch zwiespältigen Rat zu gefährden. »Diese nach höfischen Traditionen unerwartete Wendung hatte einen merkwürdigen Effekt. Ich habe die Kaiserin Augusta im letzten Jahrzehnt ihres Lebens nie so schön gesehen, wie in diesem Augenblick: ihre Haltung richtete sich auf, ihre Augen belebten sich zu einem Feuer, wie ich es weder vor- noch nachher erlebt habe, sie brach ab, ließ mich stehen und hat, wie ich von einem Hofmann erfuhr, gesagt: Unser allergnädigster Reichskanzler ist heut sehr ungnädig.«

In diesen beiden Szenen, die er mit Meisterschaft erzählt, ist sie ganz Augusta: morgens in eifersüchtigem Trotz, der sich jeder Würde begibt, um nur auf alle Fälle mitzuregieren, und sei es hinter der Türe, dann aber abends, mit dem Anspruch einer Königswürde, der in der alten Frau die Spannkraft der Jugend noch einmal erneut und ihr eine Schönheit zurückgibt, deren Ruf drei Generationen erfüllte. Kann man sich wundern, daß Bismarck nichts herzlicher wünscht, als Augustas Tod? »Ein Institut muß fallen, ruft er einmal in humorvoller Wut, die Ehe oder das Königtum: beide zusammen sind ein Unding! Da wir aber das Königtum brauchen, so muß es die Ehe sein!« Ernster zu Lucius: »Wenn man am Abend einig über eine Sache geworden ist, dann wird einem am andern Morgen beim Kaffee das Gegenteil beigebracht ... Ja, wenn der Kaiser Witwer wäre!«

Bismarcks Royalismus ist auf der Höhe der Macht erloschen: jetzt hat er ihn ganz, den Glauben, auf dem jener fußen sollte, fast ganz begraben. Man muß nur die Eingeweihten hören, Bucher und Busch: wie sie einen vom Chef skizzierten Artikel aufsetzen, in dem er seine Drohung mit Abschied in England publiziert, um dann durch Nachdruck in deutschen Blättern den König zum Nachgeben zu stimmen. Als da auf Bismarcks Wink von seinem »zartbesaiteten monarchischen Gemüt und seiner Hingebung an den König« die Rede ist, schreibt Busch, da »grinsten die beiden Auguren einander an«. Dem Minister Mittnacht klagt er selber höhnend vor: »Die Erfahrung, wie schwer die regierenden Herren es den Ministern mitunter machen, kann einem den Gedanken nahelegen, Republikaner zu werden ... In ihren Privatkorrespondenzen reden sie von ihren Ministern ganz harmlos wie von Gutsinspektoren!« Und über einen Staatssekretär spottet er, der würde auch von den homerischen Helden in untertäniger Sprache reden: »Der hochselige Hektor, Königliche Hoheit«. Im Jahre 80 faßt er sich vertraulich dahin zusammen: »Ich bin kein Absolutist, wer einige Jahre Minister gewesen, kann es nicht sein. Man hat nicht bloß mit dem Monarchen zu tun, sondern mit seiner Frau, vielleicht mit seiner Maitresse, dem ganzen Hofgesindel ... Der Hofadel denkt an armselige Äußerlichkeiten und der alte hohe Adel hat einen entsetzlichen Dünkel und Hochmut und pocht auf den alten Stammbaum.«

Dem Minister Scholz aber erklärt er gradezu: »Mit welchem großen Fond royalistischer Empfindungen und Ehrfurcht vor dem König bin ich in mein Amt eingetreten, und wie traurig mußte ich diesen Fond mehr und mehr abnehmen sehen!« Bald darauf, in großartigem Aperçu: »Ich habe drei Könige nackt gesehen, und sie sahen nicht immer gut aus.«

VIII

Mit dröhnenden Schritten durchmaß der Diktator sein Reich. Das Volk, das ihn jetzt den Eisernen Kanzler zu nennen anfing, spottete seiner selbst und wußte nicht wie; denn eisern war er im Innern, wo es durchaus nicht alles Volk wünschte, nach außen blieb er der elastischeste aller Diplomaten. Jedenfalls war ein Mann da, der befehlen konnte: mehr wollten die Deutschen zunächst nicht. Da er niemand traut, weder Verstand noch Treue bei irgendwem voraussetzt, sich selber die größte Klugheit vindizieren darf, in jedem tüchtigen Manne die Heraufkunft des Nebenbuhlers wittert, so wirken alle Motive zusammen, um ihn zum Autokraten zu versteinern, der alles selber machen will. Doch zugleich steigert das nämliche Selbstgefühl, zugleich die »angeborene Tintenscheu«, Menschenfeindschaft und Bäumefreundschaft, das Anti-Geheimrätliche in ihm den Willen zur Ruhe, zum Lande, zu immer längerem, auch fünfmonatigem Urlaub. Dann sollen sie alles in Berlin allein machen – doch wehe, wenn sie es tun! Auch dies hat keiner besser verstanden als Roon, der noch vor seiner Präsidentschaft schreibt:

»Daneben der Eremit von Varzin, der alles selber machen will und dennoch die schärfsten Verbote erläßt, daß man ihn nicht belästige ... Wenn er nicht alle Segel beisetzt, um sich ein erstes Haus und die nötigen Minister für das Reich zu verschaffen, so wird die Geschichte einst streng über ihn richten ... Immer aus der Hand in den Mund leben, geht auf die Länge nicht, wenn auch die Hand noch so geschickt und stark und der Mund ein noch so beredter und scharf bezahnter ist ... Er hat zu wenige aufrichtige Freunde und hört zu viel auf seine Feinde, unter denen diejenigen, die ihn vergöttern, die schlimmsten sind ... Nur weil ich so hoch von ihm halte, möchte ich ihn in manchen Stücken anders.« Bald sehen es alle: Lasker klagt, Bismarck ertrüge keine Minister mehr, nur Bureauchefs, und man schreibt: »Deutschland will von Bismarck regiert sein und verzichtet auch nicht darauf, wenn er von Varzin Krankheit vorschützt. Es will dann lieber ein bißchen weniger regiert sein als von einem andern.«

Die Formen seiner Autokratie wenden sich zunächst gegen Minister und Fürsten, steigern sich gegen den Reichstag und kulminieren gegen Beamte. Herzöge werden nicht empfangen, wenn sie nicht auf die Stunde angemeldet sind, auch Könige können sich Körbe holen. Da ist ein Großherzog um 9 Uhr abends bestellt, um Dreiviertel läßt sich Bismarck in der Arbeit den Waffenrock bringen, zieht um ein Viertel Zehn wieder den Hausrock an und sagt zu dem schreibenden Tiedemann: »Eine Königliche Hoheit soll nicht glauben, daß ich länger als eine Viertelstunde auf sie gewartet habe.« Gleich darauf wird der Großherzog gemeldet, Türen werden aufgerissen, Tiedemann sieht noch, wie Bismarck, der bisher diktierend auf und ab gegangen, sich an den Schreibtisch gesetzt, dann scheinbar in Akten vertieft, den Großherzog herantreten läßt, nun mit tiefer Verbeugung: »Ich glaubte schon, E. K. H. würden mir nicht mehr die Gnade erweisen: die Uhr ist 20 Minuten nach Neun.« Auf solche Art hat er nicht nur den Fürsten bestraft, er hat auch durch die wohlerwogene Geste vor seinem Geheimrat diese Demütigung gleich bekanntgemacht, denn er kennt und nutzt den allgemeinen Klatsch, der in jenen längstvergangenen Zeiten im Auswärtigen Amt geherrscht haben soll. Als der König von Sachsen unangemeldet vorfährt, fragt der sehr preußische Portier: »Ist er bestellt? Nein? Dann kann ich ihn nicht vorlassen.« Worauf der König fortfährt, um nachträgliche Entschuldigungen entgegen zu nehmen.

Für seine Minister und Botschafter ist Bismarck wochenlang nicht zu sprechen, wenn er sie nicht leiden kann oder bestimmte Aussprachen vermeiden will. Lucius und Tiedemann zählen die Künste auf, mit denen man ihm eine Mitteilung beibringen, eine Entscheidung entlocken muß, wenn er nicht mag; das liest sich wie Höflings-Memoiren über russische Alleinherrscher. In gleichem Maße wie die Abneigung der besten Köpfe, in ein solches Schein-Kabinett einzutreten, wächst Bismarcks Verlegenheit, Minister zu finden, und wenn er sie schließlich hereingelockt hat, so möchte er sie bald wieder loswerden; mit Don Juan vergleicht ihn darum ein witziger Graf: erst schmeichele er dem hübschen Mädchen, doch wenn er es hat, so läßt er es laufen. Länger als zwei Jahre hat er fast keinen geachtet, nur wenige gehalten, denn »wenn ich einen Löffel Suppe essen will, muß ich erst acht Esel um Erlaubnis fragen!« Treten aber dann gekränkte Kollegen zu seinen Feinden über, so klagt er über Undankbarkeit, er habe sie doch aus dem Dunkel gezogen.

Jeder Besucher langweilt ihn, außer wenn er selber spricht: »Wer mir etwas zu sagen hat, muß es in 20 Minuten tun; die meisten Gesandten bleiben zu lange, sie möchten immer noch etwas herauspressen, was sie nach Hause berichten könnten.« Auch die höchsten, auch persönlich befreundete Beamte dürfen nicht einmal auf dem Lande ungebeten sich anmelden; da hat selbst der Kaiser sein Recht verloren. Als dieser seinem Pariser Botschafter bei einem Besuche sagt, er nehme an, er ginge nun nach Varzin, was einem Befehl gleichkommt, erwidert Hohenlohe, ohne Bismarcks Aufforderung könne er das nicht. Da stehen sie beide, Kaiser und Fürst, schweigen einen Augenblick, dann stimmt der geduldige Kaiser zu. Will aber Bismarck dem Kaiser etwas sagen lassen, so schickt er denselben Hohenlohe, bei anderm Anlaß, aus Varzin mit direktem Auftrage zum Kaiser.

Eines seiner Autokratenmittel ist die Gesundheit, denn wenn er etwas gar nicht mehr durchsetzen kann, wird er krank, teils wirklich, teils politisch, erklärt nun endgültig abgehen zu müssen und wird vom Kladderadatsch mit der Parodie auf Heine gezeichnet:

»Aus meinen großen Schmerzen
mach ich die kleinen Steuern!«

Alle Abschiedsgesuche – es dürften sechs sein – klagen nicht bloß über zerrüttete Gesundheit, sondern schieben dem Dienst, meist aber dem Kaiser selber die Schuld für diesen Zustand zu. Am selben Tage, wo ihn Hohenlohe »wohl und sehr guter Laune« in Varzin findet, läßt Bismarck ihn dem Kaiser ausrichten, er sei noch immer krank und litte an den Nerven, »denn der Kaiser ist rücksichtslos gegen mich und ärgert mich«.

Vom Reichstag fordert er die Aufmerksamkeit, die er selbst ihm versagt. Als Bismarck im Jahre 79 während eines persönlichen Ausfalles gegen Lasker die Glocke des Präsidenten sich leise rühren hört, unterbricht er sich: »Was soll die Glocke! Es ist ja alles ruhig im Saale!« Nachher zu Lucius: »Ich bin hier als höchster Reichsbeamter und unterliege nicht der Disziplin des Präsidenten, er darf mich nicht unterbrechen, auch nicht mit der Glocke warnen. Wenn er solche Versuche macht, so ist das ein Schritt näher zur Auflösung des Hauses!« Dabei zieht er alle Lanzen auf sich, sein Kampfesmut wächst mit seiner Verachtung. Als Rickert einmal sachliche Angriffe gegen die Regierung erhebt, zieht Bismarck vom Leder: »Ja, meine Herren, Sie greifen die Gesetzgebung, unsere Verhältnisse, die Politik der Regierung an. Wen meinen Sie überhaupt, meinen Sie einen andern als mich? ... Ich kann nicht zugeben, daß Sie mir solche Injurien unter der Rubrik Staat an den Hals werfen, ohne daß ich berechtigt sein soll, zu erwidern!«

Aber in der gleichen Sitzung verändert er das Motiv, geht von der Ehre auf das Spiel über, denn er sagt zu Richter: »Ich kann es, ich möchte sagen, sportmäßig nicht lassen, daß, wenn ich grade hier bin, ich mich gegen derartige Angriffe wehre!« An einem andern Tage beherrscht ihn eine Zwischenstimmung zwischen Selbstgefühl und Bescheidenheit. Da Lasker gesagt hat, ein Mann kann nicht alles können, fühlt er sich als Champion herausgefordert und erwidert: »Ich glaube aber: was Eure Alba können, das kann auch Karl, nicht mehr!« (Er variiert also das Schillersche Wort: Und Karl kann mehr! scheinbar zu seinen Ungunsten). Sehr selten beruft er sich auf seine eigene Geschichte, einmal aber ruft er dem Reichstage zu: »Ich habe mir ja von ganz Europa nicht imponieren lassen, Sie werden nicht die Ersten sein!« In solchen Augenblicken erzittert etwas in seinen schlimmsten Feinden: sie fühlen, das ist die Wahrheit.

Damals fühlte er sich immer mehr als Virtuose der Staatskunst, und belehrte die Ideologen des Reichstages, daß »die Politik keine Wissenschaft ist, wie viele der Herren Professoren sich einbilden, sie ist eben eine Kunst. Sie ist ebensowenig eine Wissenschaft wie das Bildhauen und das Malen. Man kann ein scharfer Kritiker sein und doch kein Künstler, und selbst der Meister aller Kritiker, Lessing, würde es nie unternommen haben, einen Laokoon zu machen«. Wenn er nach solchen Zusammenstößen im Reichstag dann verärgert zu Tische kommt, so meldet sich nach den ersten drei oder vier Gängen wieder der grimme Humor, und er äußert den Wunsch, einmal eine Rede wie jener Mann anzufangen, der beim Festmahl begann: »Gemeine Bande – lange Pause, entsetzte Gesichter – vereinigen uns hier.«

Die Launen, bis zu denen seine Autokratie sich steigert, umspielen am liebsten die Sicherheit seiner eigenen Stellung: da gleicht Bismarck wirklich dem Löwen, der das gefangene Tier, die Macht, immer wieder freizulassen scheint, um es im letzten Augenblick mit seiner großen Tatze doch zu fassen. Im April 80 ist er wütend, weil Preußen zum erstenmal im Bundesrat majorisiert wurde, schon um 10 Uhr läßt er Tiedemann rufen, was noch nie vorgekommen, fordert für heut abend eine Notiz über sein Abschiedsgesuch in der »Norddeutschen«, läßt trotz Abratens Gesuch und Notiz entwerfen: inzwischen geht er im Garten spazieren, tritt bei jedem Rundgang ans Fenster des Schreibenden, um immer bösere Aufträge zu geben: mehrere Bundesfürsten sollen sich samt ihren Vertretern verantworten. Kurz vor Redaktionsschluß der Zeitung rät Tiedemann nochmals, bis morgen zu warten. »Nein!« Inzwischen ist das Abschiedsgesuch von 4 Bogen Länge fertig, ins Chiffrier-Bureau, vier Schreiber sollen es mundieren, weil es sonst unmöglich bis halb fünf in des Kaisers Händen sein kann. Schlag halb fünf wird es durch einen Reiter im Galopp nach dem Palais gebracht, um Dreiviertel geht Bismarck zu Tische. Kaum ist er oben, so schickt er einen Boten herunter: das Gesuch soll nicht abgehen! Tiedemann, nach oben eilend: seit einer halben Stunde sei es fort, man könne zwar versuchen, es vom Flügeladjutanten wiederzubekommen, leider sei aber ja inzwischen die Notiz erschienen, die der Kaiser jetzt eben lesen wird. »Nun, dann lassen Sie's schießen! Er hat mich oft genug hereingelegt, jetzt lasse ich ihn auch einmal hereinfallen!«

Zu solchen Komödien läßt Bismarck sich hinreißen, wenn es die Stellung gilt; nicht in der kleinsten auswärtigen Sache würde er sich den Launen des Für und Wider hingeben, und wenn es einer seiner Leute tut, ist er außer sich. Hier handelt es sich ja nur um die Macht, mit ihr kann man spielen, denn man ist unabsetzbar. Lucius und Tiedemann, zwei Abgeordnete, aus denen er sich einen Staatsminister und einen Chef der Reichskanzlei herangebildet, sind die einzigen, die mittels Takt und Nerven bei Bismarck jahrelang aushalten; später tritt noch der Finanzminister Scholtz hinzu.

Interessant sind Busch und Bucher, beide kaum jünger als Bismarck, beide frühere Revolutionäre, dann als Journalisten entdeckt und in den Dienst übernommen. Gewandt und gewissenlos, subaltern und hohl, ist Busch nach langen Reisen und Fahrten als Redakteur der »Grenzboten« Bismarck aufgefallen, vor dem französischen Krieg herangezogen, nach ihm in Ungnade entfernt worden, hat sich dann auf Schleichwegen, die der Erpressung nahekamen, wieder unentbehrlich gemacht, und ist von Bismarck aufs neue gehalten worden, der mehr von ihm zu fürchten hatte, als Busch von Bismarck. Aber er kennt alle Mittel der Reportage, sieht, hört, merkt sich alles und hat unschätzbare Beiträge zur Erkenntnis seines Chefs in Gestalt jener Tagebücher geliefert, die dem Dargestellten nur allzu wahr erschienen.

Neben diesem breiten, jovialen, immer schlauen und glücklichen Manne ist Lothar Bucher eine problematische Gestalt. Zuerst Jurist, im Landtage von 49 radikaler Abgeordneter, zu Gefängnis verurteilt, nach London entflohen, zehn Jahre einsam, freudlos, arm, nicht weit von Marx, ist er bei Amnestie zurückgekehrt, hat Lassalle bei Bismarck eingeführt; doch ist er, nahe Fünfzig, noch ohne alle Existenz. Da wird man müde. Das ist der Augenblick, wo Bismarck sich seine vorzügliche Feder kauft. Jetzt, in der Konfliktszeit, während sein Londoner Freund Liebknecht die steile, karge Bahn erst recht beginnt, öffnet Bucher die Tür des Auswärtigen Amtes, um sie für immer hinter sich zu schließen. Hier wird man in Ehren Wirklicher Geheimer Legationsrat, wenn man alles mitmacht und sich zu nichts mehr bekennt.

Wenn die unscheinbare, schmächtige Erscheinung aus dem Amte glitt, dann floh sie vor Menschen und Zeitungen, ging mit milden Augen durch die Wälder, sammelte in grüner Botanisier-Trommel Gräser und Moose, kannte die Vögel, und immer sorgte der alte Junggeselle für die Schwester, aß wenig und trank nichts. Wenn er dann wieder durch Bismarcks Türe glitt, so war Tag und Nacht gleich; ging er ins Theater, so mußte er vorher seine Platznummer mitteilen, damit man ihn herausholen konnte. Scharf im Denken, glatt im Schreiben, häufte er englische Artikel, französische Noten, deutsche Gesetzentwürfe: alles, was und wie es der Meister verlangte, dem er seine Seele verkauft hatte, ohne ihn zu lieben. Weil er sich willenlos gemacht, darf er den Herrn auch verbessern und erkennt an dessen Ausdruck, ob die Kritik »gesessen« hat. Dafür war er der einzige Anerkannte; von keinem andern Mitarbeiter hat Bismarck gesagt: »Eine wahre Perle! Er war mein treuer Freund, manchmal mein Zensor«; wogegen er den guten, devoten Abeken einmal seinen Kuli nannte.

Von allen Räten fordert Bismarck beim Vortrage Kürze, beim Schreiben Einfachheit. Wer, wie Tiedemann oder Bucher, lapidar spricht und alles über Nacht leistet, hat ihn nie ungeduldig gesehen. Pathos ist im Reden, Superlative sind im Schreiben verboten, für beides hat er zwei goldene Regeln gebildet: »Je einfacher das Wort, desto größer der Eindruck.« Ferner: »Es gibt keine noch so verwickelte Sache, aus der sich nicht der Kern mit wenigen Worten herausschälen ließe.« Man muß schließlich über Gesetz-Entwürfe von mehr als 100 Paragraphen in 10 Minuten referieren, »die Vorbereitung hat freilich Stunden gekostet«. Als er sich in einer Wirtschaftsfrage orientieren will, ist ihm eine Darstellung von 5 Folioseiten zu lang.

Dabei erträgt er ruhigen Widerspruch und macht ihn sich gleich zunutze, nachdem er im ersten Augenblick frappiert gewesen. Man muß diesen Nervenmenschen, der nichts weniger als »eisern« war, nur verstehen: ist er nervös erregt, so dreht er seine merkwürdig starken Augenbrauen wie andere Leute den Schnurrbart; für solche Tage hat Tiedemann immer oben auf der Mappe eine leichte Sache liegen: »Bemerkte ich beim Eintreten, daß er mit einem weltschmerzlichen Ausdruck der Augen zum Fenster hinaussah und dabei die Augenbrauen drehte, so referierte ich ganz kurz über eine gleichgültige Sache und erhielt gewöhnlich die Antwort: ›Mir ganz egal, tun Sie, was Ihnen beliebt, haben Sie noch mehr?‹« Tiedemann ab. Morgen bei guter Laune wird sein Chef geduldig mehrere Stunden zuhören.

Durch seinen Morgenschlaf verschiebt sich der Dienst um einen halben Tag, am Vormittag bekommt man ihn nicht zu sehn, von 12 bis 6 scharfer Dienst, dann wieder von 9 bis nach Mitternacht. Ja, er ist in so hohem Grade eine Abendnatur, daß er die Sitzungen im Parlament spät wie in England wünscht, denn »abends ist man ein viel besserer Mensch, man redet besser, ist versöhnlicher; morgens ist man in der Stimmung, nur auf eine Behauptung zu warten, die man angreifen kann«.

Ist er aber munter, so fordert er nach Art hochnervöser Naturen von seinen Leuten das Ungewöhnliche: ein großes Konzept in einer Stunde, und während dieser Stunde wird der Schreiber zuweilen zehnmal gestört. »Die Kanzleidiener liefen immer im Trab durch den Saal. Alles ging im Galopp, für keine Arbeit war die erforderliche Muße vorhanden, selbst die stärksten Nerven gingen dabei in die Brüche.« Aber zugleich bestätigt derselbe Tiedemann: »Ich habe nie etwas von Heftigkeit an ihm wahrgenommen ... Mir gegenüber hat er nie einen andern Ton angeschlagen, als unter Gentlemen üblich; im Gegenteil, er war die Höflichkeit selbst und ging in dieser Beziehung weiter als die andern Minister. Freilich, man mußte ihn nicht ungeduldig und nervös machen ... Die Bureau- und Unterbeamten standen sehr in der Furcht des Herrn, sie wußten, daß das kleinste Versehen nicht ungerügt blieb, und vor dem donnernden Jupiter zitterten sie.«

Wenn er in seinem großen, ziemlich leeren Arbeitsraum beim Schein der hohen silbernen Lampe halb liegend sich referieren läßt, so fällt er seine Entscheidungen stets sofort, niemals in sechs Jahren hat Tiedemann ein Schwanken in der Entscheidung bemerkt. Diktiert er aber, so geht er gern auf und ab und spricht, wie von der Tribüne, stoßweise, bisweilen eine lange Pause, dann wieder hervorquellende Worte; oft zwei bis drei gleichbedeutende Wendungen zur Wahl. »Da man ihn nie unterbrechen durfte, er verlor dann sofort den Faden, so war es sehr schwer, ihm zu folgen. Ende 77 diktierte er mir einen Bericht an den Kaiser, ... eine hochpolitische Darstellung der Entwickelung unserer ganzen Parteiverhältnisse seit der Verfassung: er diktierte ununterbrochen fünf Stunden, rascher als gewöhnlich, ich hatte die größte Mühe, nur die leitenden Gedanken zu Papier zu bringen. Es war überheizt, ich fürchtete, einen Schreibkrampf zu bekommen: rasch entschlossen zog ich meinen Rock aus und fuhr in Hemdsärmeln fort. Der Fürst sah mich zuerst etwas erstaunt an, nickte mir dann aber verständnisvoll zu und ließ sich nicht unterbrechen. Als ich nun an die Ausarbeitung ging (150 Folioseiten), ... staunte ich über die tadellose Disposition des Ganzen ... Es war eine schnurgerade Auseinandersetzung ohne Wiederholungen und Seitensprünge.«

Sachliche Strenge und persönliche Höflichkeit, durch die er im Dienst zugleich als Autokrat und Kavalier erscheint, hält er auch in anderen Geschäften aufrecht. Da er weder Geduld noch Zeit hat, um sich zu Anzügen Maß nehmen zu lassen, so muß der Kleiderkünstler mit den Augen messen; mißlingt ihm das, so empfängt er diesen Brief: »Sie haben mir früher Sachen gearbeitet, die gut saßen, aber Sie haben leider die Gewohnheit davon verloren und nehmen an, daß ich mit dem Alter kleiner und dünner werde, was doch selten der Fall ist ... Was Sie mir seit 70 geschickt haben, ist nicht zu brauchen, und ich habe von einem sonst so intelligent betriebenen Geschäfte wie dem Ihrigen nicht erwarten können, daß Sie die Naturgeschichte des menschlichen Körpers so wenig studiert haben.« In so verdrießliche Humore begibt sich dieser große Stilist, wenn er einen tüchtigen Untergebenen tadeln muß.

Dagegen ist sein Selbstgefühl immer in nervösem Flusse, wenn er mit Gleichgestellten verkehrt: Kollegen sind ihm von vornherein unerträglich, deshalb behandelt er sie schlechter als seine Geheimräte, die sich ja nicht wehren können. Mehrere Minister berichten von seiner »unnahbaren Höhe«, er habe sie wie Hilfsarbeiter behandelt: »Er ließ mich sitzen, schreibt der Marineminister von Stosch, und nahm mit mir meine Arbeit durch wie der Schullehrer das Opus eines dummen und widerspenstigen Zöglings ... Jeder Einwand wurde kurz abgeschnitten, es blieb nichts übrig als zu schweigen und nachzugeben.« Auf diese Art verliert man in einer halben Stunde für immer Bismarcks Achtung. Eulenburg dagegen, dem als Minister ein formelles Unrecht geschehen, zwingt mit einem scharfen Proteste den Gewaltigen zu diesen Zeilen: »Nach Inhalt Ihres Schreibens bin ich unter dem Eindruck, daß Ihnen gegenüber eine Taktlosigkeit in der Form begangen ist, für die ich Sie um Verzeihung bitte, obschon ich sie nicht verschuldet, höchstens ermöglicht habe.« Bis auf die Urenkel wird dieser Brief in der Familie des Adressaten aufgehoben werden. Andere Minister, die nach freundschaftlichen Beziehungen zu Bismarck von ihm in ihr Amt erhoben wurden, verlieren regelmäßig erst jene, dann dieses, erhalten nach kurzer Zeit erst beleidigte Privatbriefe, dann böse amtliche Verweise und enden als erklärte Feinde ihres ehemaligen Freundes; denn Dank wird von seiner Seite immer erwartet, nie gespendet.

Nur in seltenen Augenblicken rührt sich dies Gefühl in seinem Herzen: dann fällt ihm plötzlich eine Geste ein, die ihm niemand vorgemacht hat oder nachmachen könnte. Als er, nach dem Sieg über Frankreich, zwischen Moltke und Roon hinter dem Kaiser durchs Brandenburger Tor einreitet, bemerkt er auf besonderer Tribüne die Beamten seines Ministeriums. Da ergreift er von den drei Lorbeerkränzen, die man ihm auf den Sattelknopf gehängt, einen und wirft ihn seinen Mitarbeitern zu.

IX

Als sie im Jahre 60 eines Winterabends am Petersburger Kaminfeuer saßen, der Chef mit Schlözer, Croy, dem jungen Holstein und dem Hauslehrer der Kinder, kam die Rede auf die Unsterblichkeit; Holstein suchte zu beweisen, daß sie allein im Nachruhm garantiert sei. Darauf griff Bismarck zu seinem Glas auf dem Kaminbrett und sagte: »Wissen Sie was, Herr von Holstein? Dieses Glas Médoc ist mir lieber als dreißig Seiten Beckers Weltgeschichte!«

In dieser Verachtung des Ruhmes, über den er als Student wie als Greis gespottet hat, ist sein Charakter nach einer Seite deutlich und eng abgegrenzt; es ist vielleicht seine folgenreichste Verschiedenheit von Napoleon, der ohne Plutarch und den Ruhm nichts geworden wäre. Als nun in den siebziger Jahren Beckers Weltgeschichte heranrückte, blieb der Held dieser dreißig Seiten ganz unbestechlich. Er wußte, wer er war; er hat in seinem Carlyle alle Stellen doppelt und dreifach angestrichen, wo dieser vom politischen Genie spricht, und ihm zum 80. Geburtstage mit einer Verehrung gratuliert, die er nie einem deutschen Geiste gezollt hat; allerdings hatte Carlyle 50 Jahre zuvor ähnliche Briefe von einem größeren Deutschen erhalten.

Der Beifall der Mitwelt ließ Bismarck kalt: da er die Menschen verachtet, ist ihre Verehrung ihm peinlich. Schon im Reichstag, wo Richter ihm Unkenntnis der Wirtschaft vorgeworfen, fügte Bismarck seiner Antwort, er könne das Urteil seiner Mitbürger ruhig erwarten, ausdrücklich hinzu, »ich will von Nachwelt nicht sprechen, es ist mir zu pathetisch«. Wenn sich vor dem Reichstag die Menschen sammeln, um ihn anfahren zu sehen, so stört ihn das alles, und er erklärt, was für ein Gesicht er als verhaßter Minister machen mußte, wo man vor ihm ausspuckte, das wußte er wohl: jetzt müsse er ein anderes zu machen erst lernen. Sein König lädt ihn zur Nagelung von Fahnen, deren eine Bismarcks Wappen und Namen erhalten soll, aber er lehnt ab, dort könne man sich höchstens erkälten, und wenn ihm Wilhelm Brillanten zu einem Orden mit den rührenden Worten schickt: »Es ist die letzte Dekoration, die ich Ihnen bieten kann, und sie ist eigens für Sie erfunden,« so sagt er zu Hause: »Ein Faß Rheinwein oder ein gutes Pferd wäre mir lieber gewesen.«

Die Bismarck-Öldrucke amüsieren ihn, und als er sich in einer Allegorie als weißer Friedensengel in ausgeschnittenem Gewände sieht, mit einem Kranz von Vergißmeinnicht und Lorbeer auf dem kahlen Schädel, staunt er über seine »transzendentalen Möglichkeiten«. Aber auch die ersten Denkmäler sind ihm peinlich, vor dem Lande spricht er es offen aus, »daß ich für diese Art von Dank gar nicht empfänglich bin. Ich wüßte nicht, welches Gesicht ich machen sollte, wenn ich an meiner Statue in Köln vorbeiginge ... In Kissingen stört es meine Promenaden-Verhältnisse, wenn ich gewissermaßen fossil neben mir stehe«.

So kalt läßt den Realisten der Ruhm: aus ihm kann man nichts machen. Die öffentliche Meinung aber, die er braucht, hört er nicht auf, zu bearbeiten, und pflegt zu diesem Zwecke die Stilisierung seiner Person mit um so größerem Zynismus, als ihn selber die auf die Mitwelt berechnete Wirkung kalt läßt. Derselbe, der sich im Denkmal nicht sehen mag, unterstützt alle Darstellungen seiner Taten und Originalitäten, zum Zweck der Propaganda. Sybel wird angestellt, »Die Gründung des Deutschen Reiches durch Wilhelm I.« unter Öffnung der Archive zu schreiben, aber Bucher muß vorher die Stücke sichten und darf ihm nur die »ungefährlichen« Akten ausliefern; weshalb denn die sieben Bände nach kurzem beinah entwertet waren. Hesekiel, Busch und andere legen ihm vor dem Druck ihre Bücher »Unser Reichskanzler« und dergleichen vor, in deren Bogen er nicht bloß streicht, auch Zusätze verlangt und moniert, wo er zu schlecht wegkommt; ja, er übergibt Hesekiel Privatbriefe, sorgsam ausgewählt, von denen solche aus dem Jahre 70 schon im Jahre 77 erscheinen dürfen.

Nach ihrer politischen Wirkung berechnet er jede Nuance des Auftretens. Derselbe Mann, der sich bei Hofe laut über den Oberhofmeister der Kaiserin beklagt, weil er ihn nicht begrüßt habe, zieht auf einer Fahrt durch Östreich die Vorhänge seines Zuges zu, um durch die Zurufe der jubelnden Menge in einer krisenhaften Zeit seine Wiener Kollegen nicht zu verstimmen.

Seine Ausnutzung der Presse ist bis heute von niemand wieder erreicht worden: Tag und Nacht, und dies buchstäblich, müssen seine unterworfenen Federn präparieren, suggerieren, resümieren, dementieren. Wie er das Gift dosiert; aus welchem deutschen Winkel oder aus welcher fremden Hauptstadt er seine Nachrichten oder Artikel nach Berlin kommen läßt, um durch scheinbar unbefangene Stimmen die Öffentlichkeit zu bearbeiten; welche Erfindungen über sich selbst er in seinem Arbeitszimmer diktiert, damit sie dann aus Stockholm nach Potsdam zurückkommen: das ist alles von solcher Meisterschaft, daß selbst sein getreuer Tiedemann ihn abschließend »mehr Mephisto als Faust« nennt. Als im Jahre 72 Arnim von Augusta ermuntert wird, diktiert Bismarck dem Doktor Busch in Varzin einen Artikel über »die Wünsche einer hohen Dame nach einem Wechsel im Kanzleramte«, und als er eine östreichische Debatte braucht, läßt er Bucher als gelegentlichen Korrespondenten der Kölnischen Zeitung aus Stolp in Pommern »eine zufällige Information« verbreiten.

Im Jahre 74, auf der Höhe des Kirchenstreites, kam ihm abermals eine Kugel gelegen. Ein paar Monate zuvor hatte er mit verachtendem Stolze dem Reichstag zugerufen: »In meinem ganzen politischen Leben ist mir die Ehre zuteil geworden, sehr viele Feinde zu haben. Gehen Sie von der Garonne ... bis zur Weichsel, vom Belt bis zur Über, suchen Sie an den heimischen Strömen der Oder und des Rheines umher, so werden Sie finden, daß ich in diesem Augenblicke wohl die am stärksten und – ich behaupte stolz – die am besten gehaßte Persönlichkeit in diesem Lande bin!« Er wußte nicht, daß um diese Zeit ein belgischer Kesselschmied dem Erzbischofe von Paris Bismarcks Kopf wegen seines Kampfes gegen Rom angeboten, freilich hinzugefügt hatte: »Ich bin bereit, der Arm zu sein, der das Ungeheuer erschlägt, wenn Sie glauben, daß Gott mir verzeihen wird, und Sie mir die Summe von 60 000 Franken zahlen, wenn das Ungeheuer noch vor Ablauf des Jahres seine fluchwürdige Bahn beschlossen haben wird.«

Wenige Monate später schießt ein junger Mann in Kissingen in seinen Wagen, verletzt aber nur leicht einen Finger; der Mann bekennt sich zum Zentrum. Bismarck ist froh. Zuerst werden mehrere Priester vernommen, die dem Manne angeblich geholfen, den Wagen aufgehalten haben; dann fängt ein Pressekrieg an, der ein halbes Jahr überdauert und im Reichstage kulminiert. Dort ist ein Zentrumsmann so ungeschickt, zu sagen: ein halb Verrückter habe auf den Fürsten Bismarck geschossen, darüber sei ein guter Teil der deutschen Denkernation ins Delirium geraten. Darauf erhebt sich Bismarck zu einer seiner geschliffensten Reden; er ist verletzt, nun strömen alle Haßgefühle zusammen:

»Der Mann, den ich selbst gesprochen habe, ist vollkommen im Besitz seiner geistigen Fähigkeiten. Wir haben ja auch ärztliche Atteste. Ich begreife es, daß der Herr Vorredner jeden Gedanken an eine Gemeinschaft mit einem solchen Menschen scheut ... Er wird gewiß nie im Innersten seiner Seele auch nur den leisesten Wunsch gehabt haben: Wenn dieser Kanzler einmal irgendwie verunglücken könnte! Ich bin überzeugt, er hat das nie gedacht. Aber mögen Sie sich lossagen von diesem Mörder, wie Sie wollen, er hängt sich an Ihre Rockschöße fest, er nennt Sie seine Fraktion! (Große Unruhe.) Ich erzähle Ihnen ja nur die geschichtlichen Tatsachen ... Dieser Kullmann hat mir auf meine Frage geantwortet: ›Ich wollte Sie umbringen wegen der Kirchengesetze ... Sie haben meine Fraktion beleidigt!‹ (Große Heiterkeit). Dann hat er auf meine Frage vor Zeugen gesagt: ›Das ist die Zentrumsfraktion im Reichstage.‹« In diesem Augenblicke ruft Graf Ballestrem Pfui! zur Tribüne. Bismarck müßte nach seinem Temperament herunterkommen und den Grafen niederschlagen. Aber er zieht nur die Brauen zusammen und siegt mit den kühlen Worten: »Pfui ist ein Ausdruck des Ekels und der Verachtung. Glauben Sie nicht, daß mir diese Gefühle fern liegen. Ich bin nur zu höflich, sie auszusprechen.«

Das Attentat beschäftigte ihn lange, hier ist wohl der einzige Punkt seiner Laufbahn, wo der Gedanke an Rücktritt von ihm ernsthaft erwogen wurde. Er ist in größter Aufregung, als er Bennigsen erklärt, jetzt gehe er: zweimal habe man auf ihn geschossen, täglich warne ihn die Polizei: »Mag ein andrer Kanzler von katholischen Gesellen auf sich schießen lassen! Am ersten April werde ich Sechzig, dann ziehe ich mich als Landedelmann zurück!« Auf dies Ziel streben seit langem Frau und Tochter: jetzt kommt seine Stimmung ihnen entgegen.

Eigentlich ist in diesem Jahrzehnte Johannas Einfluß ganz geschwunden, statt ihn zu besänftigen, bekräftigt sie jeden Ausbruch seines Hasses und hat, nach allen Berichten, nicht ein einziges Mal in einem Menschenalter den Versuch gemacht, Brüche zu vermeiden oder zu heilen. Sie liebt ihn und haßt darum fast alle Menschen, er ist ja jedermanns Feind; dabei wächst mit steigenden Jahren ihre Leidenschaftlichkeit, Eulenburg sieht sie einmal im Alter in Verteidigung des Gatten ein Glas zerschlagen. Im Parlament war sie überhaupt nur einmal, sie hätte es nicht ausgehalten, und sagt bei einem seiner Berichte: »Ich hätte mit Stuhlbeinen geworfen!« Als sie aber zu Crispi äußert: »Sie haben recht, mein Mann ist wirklich gut«, lächelt er spöttisch und sagt: »Das ist nicht jedermanns Ansicht.«

Noch jetzt muß er sie leise mahnen, bei Abfahrt zu einem Bazar sagt er ihr vor einem Fremden: »Aber Ihr bleibt mir nicht länger, als der König bleibt. Es schickt sich nicht für Euch, Euch lange im Gedränge herumzutreiben.« Dafür bindet sie ihm bei Tische vor ausländischen Ehrengästen die Krawatte. Doch unvermindert umhegt sie seine Zärtlichkeit, und wenn er auch oft lange Sommerwochen ohne sie verbringt, so schreibt er ihr doch nach 30- und 40 jähriger Ehe: »Mein Liebling ... Ich schreibe Dir diesen Liebesgruß«, oder er drahtet aus Friedrichsruh: »Ohne Pferde und ohne Frau halte ich es hier nicht länger aus. Wir kommen morgen zurück.« In Berlin gefällt es ihr jetzt besser als ehedem, und ihre Freundin bezeugt vor einem langen Aufenthalt in Varzin, »der Fürstin graut davor, da die absolute Einsamkeit ihr auf die Nerven fällt«.

Befremdet steht man vor den übereinstimmenden Berichten dieses ungeistigen, formlosen Hauses. Warum lebt der Herr dieses Hauses, nicht bloß der mächtigste, auch der bedeutendste Deutsche seiner Zeit, in der Jugend ein Weltmann, noch heut als Unterhalter und Erzähler von allen gerühmt, die ihm vertraulich begegnen: warum lebt er auf der Schattenseite des Geistes? Wüßte man nichts von seinem Leben als dies, man würde das Ungeistige der Epoche erraten.

In was für Räumen er lebt, ist ihm ästhetisch gleichgültig, wenn nur die Sessel bequem sind; als man ihm Roons neue Einrichtung rühmt, sagt er: »Leute, die viel auf schöne Möbel halten, pflegen schlecht zu essen.« Zwischen geschmacklosen Möbeln, Ehrendiplomen, die an häßlichen Tapeten kleben, auf Mahagonistühlen, die mit Kretonne überzogen sind, in einem Durcheinander von Farben sitzt oder liegt der gewaltige Mensch auf seiner Chaiselongue nach Tische bei seinen Gästen, den schwarzen Tuchrock bis zum Hals geschlossen, weißes langes Halstuch, anstatt Kragen, die ihn alle drücken, den Reichshund zu Füßen, lange Pfeife, Zeitungen auf den Boden herunterlesend; »Internationale Gepflogenheit des Verkehrs, erzählt Eulenburg, der jahrelang dort aus und ein ging, war in diesem Kreise nicht zu finden; der Hauch provinzieller Edelleute aus kleiner Begüterung ist niemals aus dem Salon Bismarck gewichen.« Fast immer sind Gäste im Salon, außer den Mitarbeitern junge Offiziere, die die Söhne einführen. Verwandte, meist Adel, alles formlos, bei Wein, Bier, Kognak, »ein merkwürdiges Tableau im Salon des ersten Diplomaten des Jahrhunderts! Der Qualm eines Tabakskollegiums, dazwischen glänzende Toiletten der Damen«.

Dem Milieu entspricht die Unterhaltung. Wenn der Fürst nicht erzählt oder politische Glossen macht, und auch dann kommt ein geistiges Gespräch gar nicht zustande, selbst seine Monologe werden im Durcheinander einer führerlosen Geselligkeit oft unterbrochen; seine Darstellungen historischer Augenblicke, Emser Depesche, Attentat, Versailles, wiederholen sich in allen Berichten und kehren durch die Jahrzehnte immer wieder; in denselben Berichten steht das Bedauern, daß ein Sohn, eine Meldung, eine Speise Bismarcks interessanteste Darlegung unterbrochen habe. Zur Hochzeit der Tochter, als sehr viele Menschen erschienen, schwirrten die Wirte nach Bismarcks eigener Erzählung »wie zwei Fliegen in einer geschlossenen Laterne umher, griffen ungerufen ein und brachten alles in Unordnung«.

Wer von deutschen Geistesträgern in den Jahren 70 bis 90 bei ihm verkehrt habe, darf man nicht fragen; es war niemand. Die Brüder Lindau, die Bismarck brauchte, Curtius und Wildenbruch sind wohl die einzigen Ausnahmen. Anders die Liste derer, die Bismarcks Haus in zwei Jahrzehnten nie betreten und doch die Berliner Gesellschaft geistig beherrscht oder besucht haben: Heyse, Storm, Wilbrandt, Brandes, Ibsen, Björnson, Menzel, Klinger, Brahms, Helmholtz, Dubois-Reymond, Langenbeck, Robert Koch, Hermann Grimm, Erich Schmidt, Scherer, Rodenberg, Ranke, Fontane: niemand! Und dabei ist der Kreis der Bismarck-Gegner, wie Virchow, Freytag, Mommsen, hier gar nicht erwähnt. Als Langbehn (der Rembrandt-Deutsche) der Fürstin Johanna Hölderlins Hyperion gebracht hatte, sagte sie ihm nach der Lektüre: »Wir haben so gelacht!«

Diese Anomalie besagt nichts gegen Bismarcks tiefe Blicke in Shakespeare und Goethe, Schiller und Byron, von denen seine Jugendbriefe zeugen; es zeigt sich nur, hier und in den Hunderten von Gesprächen, die überliefert und von denen keine zwei Dutzende geistiger Natur sind, wie dieser Kopf, erfüllt von Plänen, dieser Wille, bedrängt von Kämpfen, aus Hygiene, doch auch aus Autokratie dem Umgang mit Männern ausweicht, die weder Geschäfte noch Zwecke, keine Partei, nicht einmal Feindschaft mitbringen.

Die Folgen sind verhängnisvoll. Denn wer 30 Jahre lang nichts Neues mehr liest, nur noch zuweilen Verse von Heine und Byron, Uhland und Rückert, sich auch persönlich von allen nichtpolitischen Bewegungen seines Landes ausschließt, wird dieses auf die Dauer immer ungeistiger regieren, die Trennung von Staat und Geist in deutschen Landen erneuern, die drei großen Bewegungen Europas: Weltwirtschaft, Kirche, Sozialismus verkennen und ihnen durch Zölle zugunsten der Regierenden vergebens zu begegnen suchen. Der alte König sah und hörte in seiner Beschränktheit mehr von den Fragen der Zeit als Bismarck, dessen Kopf sonst die wichtigsten Dinge in einem Tischgespräch aufgefangen und rasch verarbeitet hätte. Die Indolenz seiner Familie vereinigte sich seinem Willen zur Bequemlichkeit, und wenn die immer überreizten Nerven des Diktators ausspannen wollten, so mußte der deutsche Geist die Kosten tragen. Er hätte sich auch von selber zurückgehalten, denn damals bewahrten die deutschen Gelehrten noch Haltung vor Uniformen und Exzellenzen, ihre Disziplin erschien ihnen wichtiger als die des Staates. Bedeutende Köpfe historischer Bildung beurteilten Bismarck damals wie folgt:

Brandes: »Bismarck ist ein Glück für Deutschland, wenn er auch kein Wohltäter für die Menschheit ist. Er ist für die Deutschen, was ein paar ausgezeichnete, ungeheuer starke Brillen für den Schwachsichtigen: ein Glück für den Kranken, daß er sie findet, aber ein großes Unglück, daß er sie braucht.«

Burckhardt (1877): »Das Abdizieren und Wiederkommen macht den Eindruck, als wüßte er einfach nicht mehr weiter. Er hat sich in allen großen Fragen des Innern ziemlich verkalkuliert ... Es ist möglich, daß er etwa in einer großen europäischen Krisis, wenn sich eine solche an den bevorstehenden Türkenkrieg hängen sollte, noch einmal den Ton angibt. Aber das Innere des Reiches kann er nicht mehr heilen.«

Fontane (1881): »Gegen Bismarck braut sich allmählich im Volk ein Wetter zusammen, in der Oberschicht ist es lange da. Nicht seine Maßregeln sind es, die ihn gradezu ruinieren, sondern seine Verdächtigungen. Er ist ein großes Genie, aber ein kleiner Mann.« 93: »Man muß immer wieder das Riesengroße zurückrufen, was er genial zusammengehobelt hat, um von diesen krassesten Widersprüchen ... nicht abgestoßen zu werden. Er ist die denkbar interessanteste Figur, ich kenne keine interessantere; aber dieser beständige Hang, die Menschen zu betrügen, ist mir eigentlich widerwärtig. Dem Zweck schließlich alles unterzuordnen, ist überhaupt ein furchtbarer Standpunkt.« 95: »Diese Mischung von Übermensch und Schlauberger, ... von Heros und Heulhuber, der nie ein Wässerchen getrübt hat, erfüllt mich mit gemischten Gefühlen und läßt eine reine, helle Bewunderung in mir nicht aufkommen; etwas fehlt hier, und grade das, was recht eigentlich die Größe leiht.«

Nietzsche: Beim Anblick eines Schlafrocks:

»Kam, trotz schlampigstem Gewande,
einst der Deutsche zu Verstande,
weh, wie hat sich das gewandt!
Eingeknöpft in strenge Kleider,
überließ er seinem Schneider,
seinem Bismarck, den Verstand!«

Und doch ist es Bismarck, der sehr tiefe Dinge über die Historiker gewußt hat: »Es gibt zwei Gattungen, die einen machen die Wasser der Vergangenheit klar, so daß man auf den Grund sehen kann, die anderen machen sie trübe; zu den ersteren gehört Taine, zu den letzteren Sybel;« obwohl ihn Sybel verherrlicht, Taine angegriffen hatte. Sein kritischer Blick erkannte den Größten des Jahrhunderts, denn er sagte: »Historiker sehen auch immer durch ihre eigene Brille: Carlyle schätze ich so hoch, weil er es versteht, sich in die Seele anderer hineinzuleben.«

X

Schloß Friedrichsruh war ein Hotel gewesen, und wenn der Hamburger Bürger am Sonntag in den Sachsenwald fuhr, so schlief und aß er dort, wo nachher Bismarck einen großen Teil seiner Kanzlerschaft, sein letztes Jahrzehnt fast ganz verbracht hat. Von Schönhausen über Varzin nach Friedrichsruh nahm der Schloßcharakter immer mehr ab, während der Herr in der Reihenfolge seiner Wohnsitze vom Baron zum Fürsten aufstieg. Wenn er ablehnte, in diesen neuen Wald ein Herrenhaus zu bauen und selbst dem alten Hotel so wenig aufhalf, daß zu seiner Zeit die alten Nummern über den Zimmern stehen blieben, so fragt man sich doch, warum er bei seinem Ahnenstolz nicht lieber Geld und Neigung auf den Ausbau des Stammhauses verwendet hat. Kniephof, in das seine Erinnerung immer wieder zurückkehrte – nur diese Stelle, in der Welt hat er geliebt – war weggegeben, aber von der Familie wieder zu erlangen; Schönhausen, wo er geboren war, ist immer sein Eigen geblieben. Hamburg war ihm, als er in seine Nähe zog, fremd, Varzin war ebenso wildromantisch wie Friedrichsruh, das Haus ebenso nüchtern, aber nicht schlechter; auch teilte er seine Sommer zwischen den beiden Gütern.

Bismarcks Heimatliebe war auf Pommern beschränkt, das Naturgefühl dehnte sich aus über die nordische Landschaft. Der Wald war seine Heimat, gleichviel, wo er lag, in Ungarn, Rußland, Dänemark war er ihm teuer; der Sachsenwald vom ersten Tage vertraut wie die wohlbekannten Varziner Strecken; hier allein ist Bismarck von jedem Zweck genesen, heute wie in der Jugend findet er den dichterischen Ausdruck dieser Leidenschaft:

»Ich liebe die großen Bäume, sie sind Ahnen ... Wenn ich die Bäume nicht so liebte, wüßte ich nicht, wie ich leben sollte. Die Freude an der Natur ist ein Gottesgeschenk, das man sich selber wohl weder geben noch nehmen kann ... Einem Menschen, der die Natur nicht liebt, mißtraue ich fast ... Wenn ich gut schlafe, träume ich von den Tannenschonungen, die frischgrün im Frühjahr stehen, feucht vom Regen, darüber Triebe machen – dann wache ich erfrischt auf ... Hier kann man stundenlang im Wagen und auf Bänken lungern und ins Grüne stieren, ohne Gedanken und ohne Langeweile«; doch wohl auch mit Gedanken, denn er gesteht ein andres Mal: »Die wichtigsten Entschlüsse habe ich in der Einsamkeit, im Walde gefaßt.«

Nur in den Wäldern wird Bismarcks Menschenfeindschaft das Objekt entzogen, da kann er sich höchstens noch über falschen Baumschlag ärgern, und wenn er einen fluchenden Knecht am Waldrand auf die Ackerpferde einhauen sieht, so steigt er vom Pferde und haut mit der Peitsche auf den Knecht ein. Um jeden Baum feilscht er mit dem Oberförster: »Was? der Wipfel ist verdorrt? Ich bin ja selber zopftrocken«, und er entblößt den kahlen Schädel. Es gibt in seinem Leben vielleicht kein schöneres Bild, als ihn mit seinen Söhnen im Friedrichsruher Walde zu sehen, wie sie dürre Wipfel herunterschießen, um des Försters Auge zu täuschen: er, vor dessen Befehlen alles zittert, braucht diesen Schleichweg, um seine Lieblinge vor dem eignen Beamten zu schützen. Er jagt sogar fast gar nicht mehr, um das Rehwild zu schonen, und sagt zu einem fragenden Besucher bei Tafel sehr abweisend, er esse nicht gern sein eignes Wild; indessen läßt er die Gäste jagen.

Dabei ist beinahe nichts Romantik, alles Erkenntnis im Anblick des einzelnen, aber eine liebende, keine kritische, wie im Anblick der Zeit. Zwar, er erklärt, in Friedrichsruh eine Brille zu tragen, weil ihn hier alles, in Berlin keine, weil ihn dort nichts interessiere; in Wahrheit ist die Brille hier schwächer, der Geist versöhnlich. Mit 70 schreibt er seiner Frau diese realistische Idylle:

»Es ist sehr schön hier, wenn auch der Flieder 3 und die Eichen hier 6 Tage gegen Berlin zurück sind. Die Dornblüte ist genau wie in Berlin ... Keine Nachtigall, aber ungezählte Grasmücken, Stare und dergleichen, namentlich der Kuckuck, den ich in Berlin noch nicht hörte. Ich fragte: wie lange noch? Der Schmeichler antwortete 12, die beiden letzten aber nur noch schwach. Der Mühlenstau ist ein richtiger Reinfall, macht sich aber fürs Auge sehr schön. Der früher natürliche Sumpf, Moder und Wasser gemischt, ist durch Kunst und Kosten um einige hundert Schritt nach oberhalb verschoben und das klare Wasser so viel größer. Die Mühle mahlt, regnet aber durch. In Silk ... steht der Roggen etwas dünn, und die Gerste braucht mehr Regen, der Knecht klagte ... Die Karpfenteiche sind sehr fein geworden; die neuen Pflanzungen wieder zu tief in der Erde! Der Baukamp aber reizend. Wolle Gott dich bald ganz genesen lassen!«

In den Wäldern wird Bismarck sogar gerecht. Wie er in Varzin von Wilddiebereien hört, fährt er auf bloßen Verdacht zum alten Müller in die Fuchsmühle hinaus mit seinen Gästen und flucht ihn zusammen. Darauf nach Hause, den Oberförster zitiert, dieser erklärt, der Alte besäße gar kein Gewehr und sein Sohn sei im Felde gefallen. Da schweigt Bismarck höchst betroffen eine Weile, dann sagt er: »Dann muß das Essen warten, und Sie, meine Herren, werden mir den Gefallen tun, noch einmal mit mir zu fahren.« Zurück zur Mühle, der Alte kommt aber nicht heraus, Bismarck aus dem Wagen, tritt mit den Gästen ein und bittet um Entschuldigung wegen der Beleidigung. Ein Analogon bei vielen ähnlichen Ungerechtigkeiten im Dienst gibt es nicht: die Geschichte ist einzig in seinem Leben. Bismarck hütet die Ehre eines Untergebenen, der sich nicht wehren kann, seine Bitte um Verzeihung wirkt tief auf alle Zeugen, zugleich, entlastet er damit sein Gewissen von andern Fällen; denn nach seiner protestantischen Natur geht jeder Exzeß seinem Denken nach, und er mag mit Ministern und Kanzleidienern, mit Förstern und Fürsten, die er verklagt oder beleidigt hat, sich in seinen Nächten länger beschäftigt haben, als einer von den Geschädigten glauben und als er selber je einräumen würde.

Worauf er auch hier bis ins höchste Alter hält, das ist der formelle, sogar feierliche Empfang: Minister oder Gutsnachbar, die Frau Pastor oder die Prinzessin von Weimar beschreiben seine Haltung in der Haustür als die gleiche, vornehm und ritterlich. Bismarck hat auch niemals die Hand im Handschuh gereicht, ihn vielmehr abgestreift und dann die Rechte geboten. Drinnen aber, in den nicht hohen Zimmern mit den breiten, niedrigen Fenstern, spielt sich das heben der Familie, mit den Gästen formlos ab; zwischen abenteuerlichen Humpen, Aschenbechern und Bildern, aneinander geschobenen Tischen mit gewürfeltem Gedeck sitzt man hier bei jeder Art von Getränk. Ist es still im Hause, so schreibt er seiner Frau: »Adelheid liest Italien, Herbert schreibt nebenan, Tyras knackt an einem riesigen Knochen und der Teekessel singt dazu.« Tiedemann, der wochenlang dort beim Fürsten arbeitet, findet, wenn er um 12 herunterkommt, gewöhnlich nur die Fürstin, »die um diese Zeit schon aufgestanden ist.« Gegen eins erscheint Bismarck, läßt sich während des großen Frühstücks vortragen. Dann meist zwei- bis vierstündiger Ritt mit Sohn oder Tochter, Schritt oder Trab, Tiedemann mit eingeknöpftem Taschenbuche für Notizen, wobei oft die wichtigsten Geschäfte erledigt werden, erst die letzte halbe Stunde in schärferer Gangart. Seit dem letzten Attentat sind einige Geheimpolizisten in der Nähe, einer folgt ihm immer: er muß ihn dulden und zahlt so auch in der Einsamkeit den Tribut der Macht. Um sechs Uhr Diner, »immer vier Gänge mit Sekt, Tischwein und Portwein ... Es war ein Vergnügen, ihn vor einer Schüssel mit Gänseklein zu beobachten. Von den Krebsen meinte er einmal, sie hätten die sonderbare Eigenschaft, daß sie immer kleiner würden, je häufiger die Schüssel herumgehe«. Dann in dem großen Salon am Kaminfeuer, das er selber unterhält, »die interessanteste Stunde des Tages. Da enthüllte er seine geheimsten Gedanken ... Unerschöpflich in Mitteilungen aus seiner Vergangenheit ... Um 9 ging er in sein Arbeitszimmer, und nun begann für mich die Zeit der Arbeit. Bis Mitternacht mußte alles erledigt sein, halb ein Uhr Teestunde bei der Fürstin, eine Stunde«.

Neben dem Dienst unterbricht die Stille des Waldes sein steter Ärger über steigende Ausgaben, schwindende Einnahmen. In Berlin, wo er 18 000 Taler Gehalt bekommt, braucht er nach seiner eigenen Angabe über 50, und beklagt sich über die Kosten, die Titel und Dotationen machten: »Ich war in guter Lage, bevor ich die erste Dotation bekam, seitdem geht alles in Varzin auf. Ich habe außer meinem Gehalt und der Pacht von Schönhausen keinen Groschen Einnahme ... Die ganzen Pachterträge bleiben hier und reichen nicht. Die Zukunft wird das alles wohl ins Geleise bringen, ob zu richtigen Zinsen, das weiß ich nicht. Die neue Dotation (Friedrichsruh) ist ... sehr wertvoll, bisher aber brachte sie mir nur eine Ausgabe von 85 000 Talern, die ich aufgenommen habe, um eine veräußerte Parzelle mitten darin zu kaufen, den einzigen Fleck, wo man sich etablieren kann, wenn man nicht in einem verwunschenen Jagdschloß im wüsten Walde wohnen will.« Immer wieder klagt er seinem Bruder, das Getreide in Varzin sei kaum zu verwerten, das Holz im Sachsenwalde bringe nichts, und mit dem Salonwagen reise er teurer als früher, »denn alle Reparaturen muß ich zahlen, einen eigenen Mann dafür fürstlich belohnen, da ich einmal das Malheur habe, Fürst zu sein ... So gern ich mir meine Söhne als bequem situierte Landedelleute dachte, so unwillkommen war mir der Gedanke an Fürsten mit unzureichendem Einkommen«.

Indessen verpachtet er die Papiermühlen von Varzin für jährlich 80, eine Pulverfabrik am Elbufer für 12, aus Friedrichsruh zieht er 34 000 Taler »eine schöne Revenue, nur muß man nicht Fürst dabei sein. Auf diesen Schwindel werde ich mich wohl nicht mehr recht einleben«. Und dann kommt Johanna und klagt dem Lächelnden in Gegenwart eines Hausfreundes vor, seit einer Stunde suche sie in ihrem Haushaltsbuch ein Manko von elf Mark fünfzig.

Als zum 70. Geburtstage in ganz Deutschland für eine Bismarckspende gesammelt wird, geschieht es mit der Begründung, man wolle dem Kanzler eine Summe »für nationale Zwecke zur Verfügung stellen«; Hunderte von Kleinbürgern geben dafür ihre Groschen, Tausende von Arbeitern werden von eifrigen Fabrikherren dazu bestimmt, es kommen schließlich über zweieinhalb Millionen zusammen. In amtlicher Entscheidung, die Bismarck selbst herbeiführt, spricht der König von »1,2 Millionen Mark, die Ihnen an dem Tage zu öffentlichen Zwecken zur Verfügung gestellt worden sind. Ihrem Antrage entsprechend, will ich Sie hierdurch gern ermächtigen, jene obige Summe und die noch zu erwartenden, gegenwärtig noch ausstehenden weiteren Ergebnisse der Sammlung anzunehmen, und überlasse Ihnen, mir seinerzeit von ihrer Absicht der Verwendung der Spende Mitteilung zu machen.« gez. Wilhelm. Bötticher.

Aber nach Rücksprache mit dem Beschenkten kauft das Comite für 1½ Millionen einige Güter rings um den Stammsitz Schönhausen, und der Herzog von Ratibor überreicht ihm am Geburtstag die Urkunde über das lastenfreie Eigentum an diesen Gütern, die »früher zum Bismarckischen Familienbesitze gehörten, im Laufe der Zeit aber verloren wurden.«

Das Erstaunen ist allgemein, obwohl der Beschenkte aus den ersten 1,2 Millionen, die man ihm bar übergibt, eine Schönhausener Stiftung zugunsten von Kandidaten des höheren Lehramtes macht. Die Formel, die Nation habe ihrem Führer seinen Stammsitz zurückerworben, findet wenig Glauben, dieser war nie verloren gewesen, und selbst jene von seinen Vätern längst aufgegebenen Güter konnte der zweimal dotierte Fürst selber zurückkaufen. »Im Publikum, schreibt Lucius, herrscht eine gewisse Voreingenommenheit gegen diese Auffassung. Viele meinen, er sollte eine milde Stiftung machen.« Er aber bezieht sich aufs neue auf die Engländer, die ihren Helden noch viel mehr zahlten, und vergißt oder kennt nicht die Enttäuschung der armen Leute, die nur an eine Stiftung gedacht hatten. So gewiß die Vorwürfe seiner Vettern in den siebziger Jahren Verleumdungen waren, so sehr hat er sich jetzt mit dieser Maßnahme geschadet.

Es ist ein schwacher Augenblick in Bismarcks Leben.

Auf dem Lande sucht er immer wieder Nerven und Organe zu beruhigen oder zu heilen, macht aber durch Unmaß im Essen und Trinken alles nur schlimmer. Ist er auf Krankenkost gesetzt, so sieht ihn Lucius nach der Suppe nur eine fette Forelle, Kalbsbraten und drei schwere Möweneier vertilgen, dazu mehrere Burgunder probieren. Da er behauptet, nur nach viel Bier zu schlafen, so ißt er möglichst viel Kaviar und andere Reizmittel, um sich Durst zu machen. Als er über Störungen der Verdauung, Appetitlosigkeit und Neuralgien stöhnt, verzeichnet Hohenlohe als Gast nacheinander die folgenden Platten, denen der Hausherr zugesprochen habe: Suppe, Aal, kaltes Fleisch, Krevetten, Hummer, Rauchfleisch, rohen Schinken, warmen Braten, Mehlspeise. Wenn man dann aber sein gutes Aussehen rühmt, so erwidert er: »Ich wünschte, ich sähe scheußlich aus und fühlte mich besser ... Das ist eben ... mein Unglück, daß ich nie Mitleid finde! Dieser Druck im Gehirn, so daß mir alles, was dahinter liegt, oft wie eine gallertartige Masse vorkommt ... Blut ist ein ganz besondrer Saft, aber der Nerv ist ein noch viel absonderlicherer Lebensfaden, an dem wir armen Kreaturen zappeln.«

Der Grund ist die Autokratie. »Alle früheren Ärzte, sagt er, habe ich behandelt, jetzt endlich habe ich einen, der mich behandelt«. Damals, in seinem 68. Jahre, war er so aufgeregt und doch apathisch müde, litt an Migräne, Gesichtsschmerz, Schlaflosigkeit, Darmstörung, Schwellung der Beine, Krampfadern und wurde bei 247 Pfund Gewicht von seinen Ärzten wegen Magen- und Leberkrebs aufgegeben. Ernst Schweninger, Bills Arzt und Freund, sieht ihn in Varzin und gibt, befragt, den Angehörigen die Antwort: »Wenn der Fürst in dieser Weise fortwurstelt, wird spätestens in einem halben Jahr der Zusammenbruch eintreten.« Nach diesen ersten erstaunlichen Worten befragt ihn der Kranke selber und erhält nur die Antwort: »Ich kann keine Schlagworte äußern ... keine sogenannten Krankheiten behandeln.« Das imponiert Bismarck, so hat noch niemand zu ihm gesprochen: hier ist ein Mann!

Dann, in Berlin, beginnt der eine Gewaltmensch mit dem andern eine Kur, daß ihm Hören und Sehen vergeht. Er zwingt ihn, um acht Uhr aufzustehen, mit Hanteln zu üben, einen ganzen Tag nur Heringe zu essen. Als Bismarck ausruft: »Sie sind wohl verrückt!« erwidert Schweninger: »Dann lassen Sie sich einen Tierarzt kommen, Durchlaucht!« und verschwindet. Mit diesem, von Schweninger oft erzählten Auftritt ist seine Macht über den Mächtigen entschieden: Bismarck unterwirft sich. Vierzehn Tage verläßt nun der neue Arzt nicht sein Haus, Essen und Trinken, Aufstehen, Liegen, Arbeit, Schlaf wird aufs peinlichste geordnet und überwacht. Nach zwei Wochen entschiedene Besserung. Schweninger geht zum ersten Male aus: sofort läßt sich der Kranke eine »Dreimännerportion Buttermilch« bringen. Magenkrampf, Gelbsucht, ab nach Friedrichsruh, neue Überwachung des Gefangenen; auch in Kissingen und Gastein verläßt der Arzt ihn keinen Tag. Nach ein paar Monaten ist der Patient gesundet und gesteht selber, er käme verjüngt in die Tretmühle zurück.

Indem er sich nicht imponieren ließ, sondern imponierte, hat Schweninger Bismarck das Leben gerettet; hätten andre Deutsche auf andern Gebieten ein Gleiches gewagt, sie hätten ihn nicht immer unlenkbar gefunden.

XI

Wann hat der ewig unzufriedne Mann in diesen Altersjahren sein Leben genossen?

Im Anblick der Kinder, denen er alles verzeiht und erlaubt, außer persönlicher Freiheit, im seltenen Anblick des Jugendfreundes und beim Weine. Wie er äußere Ehren dem Weine unterordnet, zeigt er in dem drastischen Einfall, seine sämtlichen russischen Orden, die er doppelt hat, auf einem großen Silberhumpen anzubringen, was dem Kaiser mißfällt. Jedem Menschen, sagt er, ist ein bestimmtes Quantum Wein und Tabak bestimmt »ich nehme für mich 100 000 Zigarren und 5000 Flaschen Champagner in Anspruch«, und als jemand lacht, rechnet er's vor.

Von den Freunden kommt der alte Keyserling so gut wie gar nicht mehr. »Keyserling ist der einzige Mensch, vor dessen Verstand ich in meinem Leben zuweilen Angst hatte.« Mit diesem erstaunlichen Lobe hält er sich etwas fern. Das fühlt der weisere Freund und kommt ein Jahrzehnt nicht zu ihm aufs Land, denn »Bismarck ist ja doch ... ein Potentat geworden; macht sich das Zusammenkomme:! zufällig, so ist er immer der treuste und liebenswürdigste Freund, aber ihn aufzusuchen zu müßigem Behagen, dazu ist jeder seiner Augenblicke zu bedeutend geworden.«

Wenn aber Motley kommt, das sind noch immer Bismarcks glücklichste Tage; er kommt erst nach achtjähriger Abwesenheit, im Sommer 72. »Ich war um so angenehmer überrascht, schreibt ihm Bismarck, deine Handschrift zu sehen, als ich vor Öffnung des Briefes erriet, daß er das Versprechen eines Besuches hier enthalten würde. You are a thousandtimes welcome ... The first day that you can dispose of is the best one to come to see us.« Dann schreibt er ihm genau die Züge auf, die er nach und von Berlin benutzen muß. Motley bleibt eine Woche, Bismarck bringt mit ihm täglich 14 Stunden zu: das hat er im ganzen Leben noch mit niemand ausgehalten.

»Er ist etwas stärker, berichtet der Freund nach Hause, und sein Gesicht verwitterter, aber ebenso ausdrucksvoll und gewaltig wie immer. Er sieht wie ein Koloß aus, aber seine Gesundheit ist schon erschüttert. Er kann nie vor 4 oder 5 einschlafen ... Auf den Spaziergängen sprach er die ganze Zeit in der einfachsten, lustigsten und interessantesten Weise über alles, was sich in diesen furchtbarer. Jahren ereignet hat, aber er sprach davon wie alltägliche Leute über alltägliche Dinge sprechen, ohne jede Affektation, ja er ist durch und durch einfach, so voll des Laisser-aller, daß man sich die ganze Zeit vorsagen muß: dies ist der große Bismarck, der größte Lebende ... Von allen, die ich kenne, klein und groß, ist er am wenigsten Poscur ... Gewiß hat nie ein natürlicherer Sterblicher gelebt und auch kein gemütlicherer.« Noch einmal erweist sich bei diesem letzten Besuche, denn Motley hat nur noch ein paar Jahre vor sich, die Wirkung eines klugen, freien und heiteren Mannes, der nichts will, man erkennt aufs neue, warum keiner aus seiner Klasse, weder Frau noch Söhne noch Bruder, noch viel weniger Roon oder ein anderer Mitarbeiter seines Standes, dies beschwerte Herz zu solcher Frische erlösen konnte; nur dieser Sohn und Vertreter einer fernen Republik und eines fremden Erdteils.

Bismarcks Herzensfreunde aber waren stumm. Mit seiner Menschenfeindschaft steigt die Liebe zu den Hunden, die ihn das ganze Leben begleiten, noch länger als selbst seine Frau. Aus allen Gesprächen und Tagebüchern, zwischen Plänen, Entschlüssen und Befehlen, in der Wilhelmstraße und in den Wäldern, zu dunklen Zeiten und in den stolzesten Tagen: immer blicken die Köpfe dieser eisengrauen oder schwarzen Doggen hervor, die ihrem Herrn glichen, denn auch sie waren riesig und nervös, kühn und gefährlich. In langer Reihe liegen 6ie im Park von Varzin begraben, an einer Aussicht, neben den Lieblingspferden, acht Hunde. Sie sind die einzigen Wesen, mit denen Bismarck nicht bloß Geduld hat wie mit den Kindern, die er auch besänftigt, statt sie aufzuregen; da sie nichts von ihm wollen, nie Widerstand leisten, immer schweigen und doch alles zu verstehen scheinen, schmiegt er sein altes Herz immer fester an diese Geschöpfe. »Ich liebe die Hunde, sie lassen es einen nie entgelten, daß man ihnen Übles getan hat«: in diesen Worten enthüllt er im höchsten Alter mehr von seinem als von ihrem Wesen.

Wenn er die junge Rebekka ungehorsam findet, so behandelt er sie wie ein verzognes Mädchen, lacht über ihre Schlauheit und Koketterie; wenn Flora »wie verrückt durch die großen Zimmer jagt«, Sultan jede Unterhaltung stört, so lassen sie Herr und Haus gewähren. Wenn ihn eine dienstliche Unterredung nervös macht, so streichelt er noch häufiger den seidnen Hals an seinen Knien; wenn sie in Friedrichsruh unter seinem Tisch geduldig gewartet haben, die großen Köpfe auf die Vordertatzen gedrückt, aber den Blick immer wieder zum Herrn heraufdrehend, und nun steht er auf und greift zum Eichenstock, dann umwedeln sie ihn, denn nun geht es endlich in den Wald. Wenn Johanna den Tapezier anklagt, er hätte die Vorhänge zu lang gemacht, so lobt ihn der Fürst, denn dann könnten die Hunde weicher liegen. Schwankt er, ob er im Sommer nach Gastein gehen oder zu Hause bleiben soll, so entscheidet schließlich Sultan, der nicht wohl und für den die Reise zu beschwerlich sei. Ästhetische Grafen entsetzen sich bei Tische, wenn der Herr große Stücke Fleisch kommen läßt, um sie seinen Hunden quer durchs Zimmer zuzuwerfen.

Im Amt benutzt Bismarck auch diese Intimsten, wie alles, was er hat, kann oder mag, um seinen faszinierenden Eindruck zu erhöhen, den er nicht gemacht, aber stilisiert hat; wenn er aufsteht, und zugleich mit ihm die beiden riesigen Reichshunde sich erheben, den gefährlichen Staatsmann flankierend, während er einem Besucher entgegengeht, so weiß er dies zu verwerten. Auch traut er ihrem Instinkt und erklärt sie entschieden für klüger als die Pferde; als Sultan einen neuen Verwalter akzeptiert, indem er ihn erst beriecht und ihm dann den Kopf auf die Knie legt, ist der Mann gleich auch beim Fürsten eingehoben, »denn ich habe große Achtung vor der Menschenkenntnis meines Hundes, er ist schneller und gründlicher als ich, ... ich gratuliere.«

Seinem König dagegen hat er dessen Haltung gegen seine Dogge sicher nie verziehn. Als nämlich der Zar, großer Hundefreund, seinem Onkel Wilhelm den Tyras rühmt, den er eben kennengelernt, äußert der Kaiser den höflichen Wunsch, ihn auch einmal zu sehen. »Tyras wurde gerufen, benahm sich ganz wunderlich, behandelte den Kaiser wie Luft, worauf dieser sagte: ›Ein schöner Hund, hat leider geschnittene Ohren, wie alle Möpse!‹« Es war eine Katastrophe.

Sultan, Geschenk eines marokkanischen Fürsten, war wohl der schönste von allen, nur darf ihn niemand anders als Sultl rufen, denn sonst, sagt der Herr, könnte es Verwicklungen mit der Türkei geben. Im übrigen ist er kein Orientale: denn als er eines Abends beim Wiedersehn in Varzin an die Kette gelegt wird, »nahm er dies so übel, daß er seine Kette zerbiß, sich durch zwei Zoll dickes Holz durchfraß, so daß sein Blut an den Splittern klebte, und das Weite suchte. Seitdem macht er die Wälder unsicher. In der Gegend ist er noch, und ich hoffe, wir finden ihn wieder. Bill und Philipp sind ... abgeritten, um Sultan zu suchen, werden sehr naß geworden sein. Nachschrift: Jungens naß zurück. Sultl Wolf geworden, lebt von Rehkälbern, wird Jagdobjekt werden müssen.«

Sultan kehrt zurück, bleibt noch 5 Jahre der Freund seines Herrn, wildert zuweilen, manchmal bestraft, meistens verwöhnt. Da trägt sich, nach Tiedemanns Berichte, diese tragische Geschichte zu:

»Der Fürst befand sich (in diesen Herbsttagen) in einer Stimmung, die ich an ihm noch nicht kannte, ... war von morgens bis abends aufgeräumt und für jeden Scherz zugänglich. Da wurde gestern beim Kaffee plötzlich entdeckt, daß Sultan verschwunden sei; da er in einem nahen Dorf ein Liebesverhältnis unterhielt, so nahm der Fürst an, er sei wieder einmal dorthin gelaufen, er war ärgerlich und erklärte, er werde den Hund einmal tüchtig durchprügeln. Wir gingen auf unsere Zimmer, um noch bis zum Postschluß zu arbeiten, als es gegen 11 unten lebendig wurde. Dann hieß es, Sultan, der vor kurzem nach Hause gekommen sei, liege in den letzten Zügen.

»Unten bot sich ein wirklich erschütternder Anblick. Auf dem Fußboden saß der Fürst, den Kopf des sterbenden Hundes in seinem Schoß haltend, er flüsterte ihm liebkosende Worte zu und suchte, seine Tränen vor uns zu verbergen ... Trotz Herberts Bitten blieb er immer bei ihm sitzen, stand auf, kehrte aber wieder zurück. Als der Hund tot war, sagte der Fürst: ›Die alten Germanen hatten eine freundliche Religion; sie glaubten, sie würden nach dem Tode in den himmlischen Jagdgründen alle die guten Hunde treffen, die ihre Gefährten gewesen waren. Ich wünschte, ich könnte das glauben.‹ Er ging in sein Zimmer und kam an diesem Abend nur noch, um gute Nacht zu sagen ...

»Heut morgen war es, als ob wir uns in einem Trauerhause befänden, es wurde nur mit verhaltener Stimme gesprochen. Der Fürst hatte nicht geschlafen, ihn quälte unaufhörlich der Gedanke, daß er den Hund noch kurz vor seinem Tode gezüchtigt hatte. Obgleich die heute morgen vorgenommene Obduktion ergeben hatte, daß Sultan an einem Herzschlag gestorben sei, machte er sich immer wieder selbstquälerische Vorwürfe. Nach dem Frühstück stiegen wir zu Pferde, der Fürst war einsilbig, er suchte die Wege auf, wo sein lieber alter Hund ihn zuletzt begleitet. So trabten wir lange im strömenden Regen vorwärts. Als ich einmal neben ihm ritt, sagte er, es sei sündlich, so wie er getan, sein Herz an ein Tier zu hängen, er habe aber nichts Lieberes auf der Welt gehabt und müsse mit Heinrich dem Fünften sagen: ›Ich hätte einen Beßren besser missen können!‹ Und dann setzte er zu einem langen Galopp an, daß Reiter und Pferde dampfend vor dem Schloß anlangten.«

Vier Tage später: »Er kann noch immer nicht über den Tod seines Hundes hinweg, namentlich darüber, daß er ihn noch so kurz vor seinem Tode geschlagen hat. Selbstquälerisch redet er sich immer wieder ein, daß er hierdurch den Tod des treuen Tieres verursacht habe. Er klagt sich an, als jähzornig, brutal, der jedem Schmerz bereite, der in Berührung mit ihm komme. Und dann wieder macht er sich Vorwürfe, daß er über den Tod eines Tieres solange und so tief traure.«

Die Geschichte hat ihresgleichen nicht in seinem Leben, und sie paßte nicht in irgend ein anderes. Eine Legende; zugleich die Probe eines problematischen Charakters.

Wie dieser Hund zuerst von einem morgenländischen Fürsten gebracht wird, der sich den Kanzler des Deutschen Reiches verbinden möchte, so scheint er schon ein verzauberter Prinz; wie er dann in seiner ungebärdigen Jugend keine Kette erträgt, sich durchs Holz durchbeißt und im Walde von jungem Wild lebt, scheint er, ein Enkel seines Herrn, die Züge des tollen Junkers auf Hundeart zu wiederholen, und eben das gefällt dem Herrn. Nun kommt es zu Szenen, wie es bei gestrengen Großvätern nicht anders sein kann, bis sich das wilde Wesen bei einem Abenteuer ruiniert.

Da fällt den verlassenen Herrn plötzliche Reue an, daß er das Wesen schlecht behandelt habe. Hat er ihn vielleicht umgebracht? Wie aber, wenn es Sünde wäre, sein Herz an ein Tier zu hängen? Erlaubt es der Glaube, zu dem man sich bekennt? Waren die alten Germanen nicht bessere Menschen? Hat er nicht selbst in den Zeiten seiner Bekehrung jenen heidnischen Fürsten zitiert, der sich nicht taufen ließ, um lieber zu seinen ungläubigen Vorfahren zu kommen? Wie aber, wenn der Christengott ihn nur mit diesem Streiche warnen, auf andere Sünden weisen, seinen Jähzorn, seinen ganzen Egoismus ihm enthüllen wollte! Aus Jahren und Völkern, von Kämpfen und Listen, von Siegen und Unterwerfungen fallen in diesen Trauertagen ihm Menschen ein, die er gekränkt, beleidigt, vielleicht in den Tod getrieben wie diesen Hund, der ihm, wer weiß, die Prügel nicht vergessen konnte, – und nun ziehen vor dem zusammengebrochenen Herzen jene bleichen Scharen vorüber, seine Feinde alle, die überwundenen, der stählerne Wille ist plötzlich zerronnen, der Zweck so ungeheurer Bewegung in Frage gestellt, und wenn er von diesem Alpdruck erwachen wird und die Geschäfte weitergehen und die Kämpfe, so wird nur Eines Wirklichkeit sein: der starke, gute Hund, Begleiter seiner Wege, liegt dort bei der Aussicht neben den andern begraben. Nun sind es Neun.

XII

»Eigentlich bin ich eine träumerische, sentimentale Natur; die Leute, die mich malen, machen alle den Fehler, mir einen gewaltsamen Ausdruck zu geben.« (Die Entwicklung dieser Linie zeigt ein Blick auf unsere Tafeln III, VII, IX, XVI, XIX.) Hier wird ein Teil seine seines Wesens von ihm bezeichnet, und wenn er in der Jugend sein taedium vitae zuweilen auf Byronsche Art stilisiert, in der Mittelzeit die Lebenslust des Kämpfers ihn erhalten hat, so fielen ihn nun im Alter Melancholien öfter und schwerer an: das Vorgefühl der Jugend war, mehr als erwünscht, Wahrheit geworden. Faust wacht in nie beruhigtem Bestreben, Mephisto in nie ermüdendem Zynismus, um jedes Erreichte zu entwerten; wollte ein schlechter Erzieher der Jugend beweisen, daß alles Ringen subjektiv umsonst sei, so wäre Bismarck sein klassischer Zeuge. In seiner Umgebung aber ist niemand, der diese entscheidenden Stimmungen begriffe und ehrte; Johanna sagt zu Lucius:

»Wie sein Diener Heinrich sich vor einer Woche erschossen hat, ist er ganz außer sich gewesen, schlaflos im Bette, und hat sich alle traurigen Fälle vergegenwärtigt ... In solchen Zeiten machen wir dann den tollsten Unsinn, mit den Hunden usw., nur um ihn zu zerstreuen.« So unverstanden und verkehrt behandelt, lebt Bismarck zwischen den Menschen, die ihn lieben. Aber die dunklen Gedanken kommen doch, wenn sie müssen, und so öffnet er eines Tages, als er 62 ist, auf der Höhe der Macht, nachdem er eine Weile schweigend vor sich hingesehn, vor mehreren Hörern die Lippen zu diesem ergreifenden Überblick:

»Wie wenig Freude und Befriedigung hat mir die ganze Sache gemacht. Niemand liebt mich deshalb, niemand habe ich glücklich gemacht, weder mich noch die Meinigen noch andere.« Man protestiert, unbeirrt fährt er fort: »Wohl aber viele unglücklich. Ohne mich hätte es drei große Kriege nicht gegeben, wären 80 000 Menschen nicht umgekommen, Eltern, Witwen trauerten nicht ... Das habe ich indessen mit Gott abgemacht ... Aber Freude hatte ich wenig oder gar keine von allem, was ich getan habe, dagegen viel Verdruß, Sorge und Mühe.« Es ist nicht das einzige Mal, daß er so spricht, Holstein und Bucher bestätigen ähnliche Stimmungen. Sie zeigen wieder den lutherischen Geist, der Verantwortung sucht, anstatt ihr auszuweichen, doch zugleich den Anspruch des Emporkömmlings, egozentrisch, wie er den preußischen Naturen des Königs oder Roons unfaßbar bleibt.

Zuweilen wendet er diese Stimmungen – Ermüdung ins politische, dann sind sie von Stolz überschimmert. Im Jahre 77, im Kreise von zwei Dutzend Hörern, sagt er an einem parlamentarischen Abend: »Wenn ein Mann früh auf Jagd geht, fängt er an, auf allerlei Wild zu schießen, und ist bereit, ein paar Meilen über schweren Boden zu gehen, um auf einen wilden Vogel zum Schuß zu kommen; ist er aber den ganzen Tag umhergegangen, seine Tasche voll, und er ist nahe seiner Behausung, hungrig, durstig, todmüde, dann will er nur noch Ruhe. Er ... macht keine paar Schritte mehr, um ein paar Feldhühner. Kommt aber jemand und sagt: Im tiefsten Teil des Waldes können Sie auf ein Wildschwein ankommen!, da werden Sie sehn, daß der müde Mann, wenn er Jägerblut in den Adern hat, alles vergißt, in den Wald losgeht, bis er das Wild erlegt hat. Ich bin seit Sonnenaufgang auf der Jagd gewesen, es wird spät, ich bin müde, andre Leute mögen auf Hasen und Rebhühner schießen. Wenn aber ein Keiler zu erlegen ist, lassen Sie's mich wissen.«

Munter wird er nach solchen Epochen der Ermüdung, sobald sein alter Zynismus sich belebt: da ist es denn der wahre Mephisto, der seinem nächsten Freund im Walde anvertraut:

»Als ich noch jung war, habe ich mich für einen ganz gescheiten Burschen gehalten, aber jetzt bin ich überzeugt, daß niemand den Ereignissen gebieten kann, daß niemand wirklich mächtig oder groß ist. Ich muß immer lachen, wenn ich mich preisen höre als weise, vorhersehend, ich übte großen Einfluß auf die Welt usw. Während Unbeteiligte überlegen, ob es morgen regnen oder die Sonne scheinen würde, ist ein Mann in meiner Lage genötigt zu entscheiden: es wird regnen oder sie wird scheinen, und dieser Entscheidung gemäß zu handeln. Hat er recht geraten, dann ruft alle Welt: Welcher Scharfsinn, welche Prophetengabe! War es falsch, dann schlagen die alten Weiber mit Besenstielen nach ihm. Wenn ich nichts gelernt habe, so habe ich Bescheidenheit gelernt!«

Großartig, wie nur noch in jenen aufgeregten Worten zum Feinde Arnim, springt hier vor dem Freunde Motley ein völliger Nihilismus hervor: Geständnisse eines Menschen von höchstem Selbstgefühl, der doch vertraulich alles Verdienst preisgibt, sich auf der Lebenshöhe noch ganz als jener Fatalist enthüllt, der er von Anbeginn war, und nun, auf unheimlicher Umwegen, zu einer Bescheidenheit gelangt, hinter der das Gelächter des Menschenverächters knattert.

In solchen Stunden verjüngt sich sein überrunzeltes Antlitz, der junge Abenteurer tritt wieder hervor, und dann beneidet er den Abenteurer. Da sitzen sie bei einem kleinen Fest ihres Varziner Pächters, die Stimme eines Zigeuners dringt durch die offne Türe, man schickt ihm ein Glas Sekt heraus, nun erscheint er mit der Harfe in der Tür, mit einer Verbeugung, wie Bismarck sie seinem König macht, singt von den Tagen der Rosen, trinkt auf den Fürsten, dann geht er singend. Johanna fragt, wie man ihm zu einem ordentlichen Leben verhelfen könne. Da sagt Bismarck: »Solchen Menschen ist damit nicht geholfen, ihre Freiheitslust ist viel größer als der Wunsch nach Ordnung und nach dem, was wir gewöhnlichen Menschen Glück nennen.« Dann schweigt er, blickt der verschwundenen Erscheinung nach, als wäre sie seine eigene Jugend, und sagt: »Eigentlich eine beneidenswerte Stimmung! Ein beneidenswertes Dasein!«

Und doch hält er sich an das Leben, »wie jeder ordentliche Mensch«. An einem jener ›Meilensteine‹ begründet er dem Bruder seine Lebensgefühle: »Es geht mit den letzten Jahren unseres Erdenlebens wie mit allen Abwärts-Bewegungen, sie vergehen in steigender Beschleunigung ... Ich kann nicht sagen, daß mir diese schnelle Förderung angenehm wäre, denn so deutlich ich mir auch gegenwärtig halte, daß jeder Tag der letzte sein kann, so gelingt es mir doch nicht, den Gedanken liebzugewinnen. Ich lebe gern. Es sind nicht die äußeren Erfolge, die mich befriedigen und fesseln, aber die Trennung von Frau und Kind würde mir erschrecklich schwer werden ... Ich habe Glück gehabt, in dem, was ich dienstlich angriff, weniger in meinen Privatunternehmungen ... Worin mich Gott aber am meisten gesegnet hat, und worin ich am eifrigsten um Fortdauer dieses Segens bitte, das ist die friedliche Wohlfahrt im Hause, das geistige und körperliche Gedeihen der Kinder, und wenn mir das bleibt, so ... sind alle Klagen frivol.«

Diese Kinder, denen er das Leben leicht macht, treten mit bismarckischem Egoismus auf. Die Tochter, von einem Hausfreunde »mehr sonderbar als gemütvoll« genannt, nimmt an äußerer Unförmigkeit und innerer Dumpfheit mit den Jahren zu. Mit ihrem zerstreuten Blick und ihrer Moquerie ist sie doch hilflos, unpraktisch und so unordentlich, daß Eulenburg in der Gesandtschaft, die sie mit ihrem jungen Gatten Rantzau soeben verlassen, an ihrem Bette zwölf Rohrstühle findet, darauf drei halbgegessene Torten, ringsum überall Vögel, Meerschweinchen, Hutschachteln: »Ich bin mit Marie oft zusammengeraten, vertraut Bismarck seiner Freundin Spitzemberg. Mann, Kinder und wir erfüllen sie, aber sonst fast kein Mensch. Sie ist innerlich essentiell faul, darin liegt es.« Und auf die bedauernde Antwort, daß die Tochter seine Interessen nicht teile, gesteht er sogar: »Das ist ja bei meiner Frau auch so, es hat dies auch sein Gutes gehabt, ich war daheim in einer ganz andern Luft.«

Von den Söhnen sind anfangs beide, dann nur Herbert, Gehilfen des Vaters, der fleißigere von ihnen scheint weniger begabt, Bill, der Begabtere, faul. Dieser heiratet «eine Kusine, der andere darf nicht nach Neigung heiraten. Beide starke Zecher, sterben früh, um die Fünfzig. Die Bismarcks hatten nie, die Menckens einmal im Großvater einen Mann von Bedeutung hervorgebracht: nun, nach dem einzigen Genie, degeneriert die Mischung sogleich wieder in dessen Kindern, die vom Vater vor allem das Unmaß, wenig von der Hingabe der Mutter geerbt zu haben scheinen.

Auch in das Elternhaus haben die Kinder kaum einen Menschen von Geist oder Schönheit gebracht. Ein einziges Mal versuchte es der Älteste, aber da er wagte, gewisse Stimmungen des Vaters zu durchkreuzen, kam es sofort zum Kampf, und er verlor.

Der Bruch mit den Konservativen war politisch längst geheilt, nur der Groll war geblieben, als Herbert Ende der siebziger Jahre sich in die Fürstin Carolath verliebte, um bald Freund der galanten, von ihrem Gatten meist getrennten Frau zu werden. Sie will sich scheiden lassen, um Herberts Gattin, mehr wohl, um Bismarcks Schwiegertochter, dafür sogar Protestantin zu werden, und da sie eine der schönsten Frauen und zugleich Tochter eines der vornehmsten Geschlechter ist, Elisabeth, Tochter des Fürsten Hatzfeld-Trachenberg, so wäre die Scheidung zu verzeihen, und ein an sich weicher Vater, der sich den 30jährigen Sohn zum Erben in Amt und Stand erzogen hat, hätte wohl Grund, ihm diese erste Bitte seines Herzens zu erfüllen.

Aber Elisabeth hat zwei Schwestern, deren eine mit dem Generaloberst von Loë, die andere mit dem Hausminister von Schleinitz vermählt ist: Spitzen der Bismarck-Fronde, Schleinitz seit Jahrzehnten Augustas Vertrauter, Loë Bruder des Führers der verleumderischen Junker. Und diese Männer sollen Herberts Schwäger werden? Die wird man an die Hochzeitstafel oder doch einmal zur Taufe laden müssen? Der Geist jener bestgehaßten Familien, in deren Salons alle Unzufriedenen ihre Glossen über das Haus Bismarck, ihre Pfeile gegen den Gründer schleudern, wo die Verleumdungen blühen und Eifersucht zu staatsgefährlichen Intrigen steigt, soll sich seinem Hause verbinden? Steckt hinter dieser Liebschaft nicht ein Komplott? Rache und Mißtrauen, Haß und Wachsamkeit bestimmen ihn, die Heirat zu verbieten.

Indessen liegt die schöne Frau um Herberts willen in der Scheidung, die Presse hat schon geklatscht, mit den Ihrigen ist sie beinah zerfallen; romantisch und amourös, mehr, als es die höfischen Verwandten erlauben, mietet sie sich in Venedig im Palazzo Modena ein, und hält man ihre Briefe von dort neben Herberts, so scheint sie die Rechnende, er aber ist der Erschütterte; seine Leidenschaft kann groß, größer muß die Furcht, wohl auch die Ehrfurcht vor dem Gewaltigen gewesen sein.

»Anfang Mai – schreibt Herbert an Philipp Eulenburg – (nach ausgesprochener Scheidung) will ich selbst nach Venedig fahren und mit ihr suchen, ob es eine Möglichkeit gibt, das Leben für sie wie für mich so einzurichten, daß es noch weiter zu ertragen ist ... Ich würde dann nach der Rückkehr noch einen letzten Versuch bei meinem Vater machen, ich fühle jetzt schon, als ob es sich um Leben und Sterben handelt, und wie es dann wird, das weiß nur Gott! Hier stehe ich der unbeugsamen Unmöglichkeit gegenüber, der Fürstin das zu widmen, was von mir an Leben noch übrig ist.«

Zwei Tage später: »Mein Vater hat mir unter schluchzenden Tränen gesagt, es wäre sein fester Entschluß, nicht weiter zu leben, wenn diese Heirat zustande käme, er hätte genug vom Leben, nur in der Hoffnung auf mich noch Trost bei all seinen Kämpfen gefunden, und wenn das jetzt ihm auch noch genommen würde, wäre es aus mit ihm. Zu den drei bis vier Leuten, mit denen er gesprochen hat, soll er sich noch viel unglücklicher und ängstlicher geäußert haben ... Und von meiner Mutter haben mir zwei Ärzte gesagt, daß ihr Zustand gefährlich wäre ... und daß eine starke Gemütsbewegung gleich zum Äußersten führen würde! Auf der andern Seite ist die arme Fürstin kaum ... genesen, ganz allein, und hofft bestimmt auf die Heirat und wird vielleicht wieder krank, wenn sie sich von der Unmöglichkeit für jetzt überzeugen muß ... Und scheide ich selbst aus dem Leben, so mache ich der Fürstin ihre Lage noch schwerer und allen, die mich lieben, den schwersten Kummer.«

Wieder nach zwei Tagen: »Mein Vater sagt mir, es vertrage sich nicht mit seinem Ehrgefühl, daß sein Name mit allem, was Hatzfeld, Carolath, Loë usw. heißt, verschwägert würde, und wenn solche Dinge über eine Frau erzählt würden, könnte sie nie seine Schwiegertochter werden; ich müßte bedenken, daß ich den Namen nicht allein trüge, sondern daß alles, was denselben träfe, ihn und meinen Bruder ebenso berührte, er würde sich ›mit Zähnen und Nägeln‹ dagegen wehren! – Die Fürstin schreibt mir, nach dem Zeitungsskandal wäre jede andere Lösung als die durch Heirat absolut ausgeschlossen, wären jene Artikel nicht erschienen, so würde sie die Heirat gar nicht wollen! Da ist mein Vater ganz anderer Ansicht ..

»Dabei wird mir der Abschied aus dem Dienst verweigert, ich kann also ohne Konsens gar nicht heiraten, (vor Ablauf von 10 Monaten geht es überhaupt gesetzlich nicht), und ich muß doch auch daran denken, daß ich der Fürstin gar nichts bieten kann, denn nach den Majorats-Statuten, wie sie eben mit Genehmigung des Kaisers geändert sind, ist derjenige Sohn enterbt, der eine geschiedene Frau heiratet, und da mein Vater nichts hat außer dem großen Grundbesitz der beiden Majorate, so bleibt mir nichts. Pflichtteil gibt es bei Majoraten nicht. Dies wäre ja nun egal, wo ich doch in keinem Fall nach der Heirat lange leben könnte, denn der Bruch und das Verderben meiner Eltern würde mich umbringen; bin ich aber nach der Heirat tot, so hat die Fürstin dadurch die Hälfte der Rente verloren, die Fürst Carolath ihr zahlen muß, so steht es im Vertrage, und dann hätte sie gar nicht genug zum Leben. Es ist eben jeder Ausweg genommen, und so bitter, wie mein Vater sich jetzt über die Fürstin äußert, ist gar kein Gedanke, daß er mir dann Geld geben würde. Er sagt, wenn die Fürstin seinen Namen trüge, würde ihn das zum Selbstmörder machen! ... Wie mich diese Unterredung mit meinem Vater erschüttert hat, dafür gibt es keine Worte, davon werde ich mich nie erholen, ich kann das nie vergessen, daß mein Vater um meinetwillen so aufgebracht ist.«

Eine Woche später: »Die Fürstin schreibt, ... die Bibel sage, daß der Mann um der Frau willen, die er liebte, Vater und Mutter verlassen solle ... Daß meine Reise nach Venedig geheim bleiben könnte, ist unmöglich: die Verwandten der Fürstin, welche zum Teil leider bedenkliche Leute sind, werden dafür sorgen, daß es in die Zeitung kommt. Diese sowohl wie die Carolaths wünschen nichts dringender als die Heirat, allein schon aus pekuniären Rücksichten, um jeder Verpflichtung los zu sein. Der Fürst Carolath ... würde allerdings bedeutende Summen sparen, wenn es zur Heirat käme. Die ersten Zeitungsartikel stammen von seinem hiesigen Rechtsanwalt ... Mein Vater hat mir erklärt, wenn ich absolut nach Venedig reisen wollte, so würde er mitreisen, ihm läge an mir und an der Verhinderung der Heirat mehr als am ganzen Reich, seinen Geschäften und dem Rest seines Lebens – allein ließe er mich auf keinen Fall reisen, da wolle er selbst mit der Fürstin sprechen ... Mich haben diese Unterredungen mit meinem Vater so umgeworfen, daß ich zu allem unfähig bin. Ich könnte jetzt nie mehr auch nur einen Tag glücklich werden ... Nachdem die Fürstin jahrelang mit mir im Gerede gewesen und jetzt durch Zeitungen ... aufs äußerste kompromittiert wird, halte ich es für Ehrenpflicht, sie zu heiraten, selbst wenn mein Gefühl erloschen wäre. Mein Vater bestreitet das, ich kann es aber nicht anders empfinden, und habe die weitere Empfindung, daß ich mein Ehrgefühl preisgeben soll, um meiner Eltern willen! Wie soll man das zu überleben vermögen!«

Als alles vergeblich ist, bricht Elisabeth mit ihrem Freunde, läßt ihn ihre Verachtung und durch dritte Personen wissen, daß es ihr glänzend ginge. Erschüttert bleibt Herbert zurück: »Ich leide unter dem alles niederdrückenden Bewußtsein, ein Vertrauen getäuscht zu haben, das nun einmal in mich gesetzt war, und das ich doch also auch ins Leben gerufen haben muß ... Und es muß mein Verschulden sein, daß es geschehen ist! Nur mich selbst klage ich an, ich bin mir zuwider ... Der Rest meines Lebens liegt vor mir wie eine endlose sandige Pappelallee in flacher Gegend, ich wate darin weiter, trotz aller Müdigkeit, wenn ich auch genau absehe, daß es immer so bleiben wird wie jetzt.«

So bleibt am Ende Herbert als der einzige übrig, der leidet und der die Sympathie des Lesers dieser romanhaften Briefe erweckt. Auch sein Vater hatte dereinst mehreren die Ehe versprochen, aber er war von Bord gesprungen, als ihn die Ernüchterung faßte, und lief auf und davon; man hielt ihn auch nicht lange, denn er war nur ein adliger Abenteurer von Anfang Zwanzig, ohne Stellung und Geld. Jetzt hat er dem Sohn dies alles geschaffen, der muß dafür büßen: »Zu stark, um ihn in Demut zu beerben, und viel zu schwach, um es ihm gleichzutun.«

Freilich ist es leicht, Herbert vorzuwerfen, er hätte es so weit nicht kommen lassen sollen; schwerer selbst heute für den Leser, den Ausweg zu finden. Herbert unterlag dem drohenden Blick des gewaltigen Vaters.

Die Haltung der Dame ist typisch: mit allen Mitteln betreibt sie die Scheidung, um den mächtigen Freund zur Heirat zu zwingen, sucht seine Reise nach Venedig zu ertrotzen, damit der Skandal ihn zur Legalisierung nötige, ruft am Ende gar die Bibel an, will aber weder als Gattin Raum in der kleinsten Hütte noch Riviera-Villen als bloße Geliebte: den Namen und die Güter will sie mit Herbert erwerben, und als sie sich verrechnet hat, beginnt sie auf andre Art ein großes und galantes Leben, oder setzt es fort.

Dahinter hetzen die Ihrigen und schieben alles der Verwirrung zu: ein Gatte, der nicht zahlen möchte, Schwestern, die ihre Helfer haben, um den Konflikt durch Schmähartikel zu schüren und die Heirat mit einem Hause zu betreiben, das sie hassen, da hierbei alle nur gewinnen würden: an Geld, denn niemand brauchte für die abenteuerliche Verwandte weiter zu sorgen, an Macht, denn der verfeindete Diktator muß sie von nun an aufnehmen und ihren Söhnen zu Stellungen helfen; vielleicht sogar – so schimmern die Hoffnungen – wird er wirklich von diesem Schlage gebrochen, macht seine Drohungen wahr, geht ab: dann wäre Elisabeth gelungen, was keiner Reichsglocke gelang, wie im Märchen hätte die schöne Prinzessin den alten Drachen erlegt und stände nun als Siegerin mit dem kleinen Atlasfuß auf seiner harten Schale.

Aber der Drache ist tausend Jahre, kennt alle Künste seiner Feinde, weiß Gifte und Mittel. Wie? Hat er sich dafür die Mächte Europas unterworfen oder verbündet, um dem Manöver einer galanten Frau zu erliegen, die nicht einmal reich ist? Wie ein Meister greift der große Diplomat in den Konflikt und führt ihn zum Siege.

Wie kann man Herbert fassen? Ein weiches Gemüt, Furcht und Ehrfurcht vor dem Vater, übrigens an Gütern hängend und nicht imstande, jedenfalls nicht gesonnen, sich je aus eignen Kräften durchzuschlagen. In ein paar großen Szenen schwört Bismarck zunächst als Vater, dem Amte zu entsagen, das Reich zu verlassen, ja, sich zu töten, wenn der Sohn nicht abläßt, zugleich werden Ärzte mobil gemacht, die der Mutter Tod voraussagen. Dann faßt er ihn als Chef an und verbietet seinem Beamten die Ehe ohne Konsens; schließlich als Majorats-Herr: er eilt zum Kaiser, der ihm die Wälder geschenkt hat und nun die Statuten dahin ändern muß, daß Herbert sein Leben lang arm bleibt und mit der schönen Freundin von der Rente leben mag, zu der ihr Mann verurteilt wurde.

Noch mehr! Es ist zwar lange her, doch nicht umsonst war man einst Kenner der Frauen und weiß, was ein Maiabend im gotischen Palazzo anrichten kann, in den Armen der Gebebten. Darum auf keinen Fall Venedig, und wenn, so reist der Vater mit. Muß nicht der Sohn, als Diplomat und Kenner der öffentlichen Meinung erzogen, das Tödliche dieser Komik ausrechnen? Für immer wäre er vor Europa lächerlich, wenn Reporter, Photographen und Coupletsänger den alten Bismarck aus der Gondel steigen ließen, um seinen verliebten Sohn zu retten.

Aber da ist ein Punkt, den wiederholt beständig der Bedrängte; hier gilt es, ein moralisches Versprechen einzulösen, denn ohne diese Liebschaft hätte die Fürstin keine Scheidung gebraucht, um sich auf eigenen Wegen zu amüsieren. Einen solchen Hieb pariert der alte Fechter leicht: sie war längst eine galante Frau, und was man heut mit Herberts Namen über sie schreibt, das mag gestern und morgen mit andern wahr sein; der Name, den der Sohn verteidigen will, lohnt nicht die Mühe. Er aber will den Namen Bismarck nicht in einem Atem mit Loë und Schleinitz hören, und wenn hier Ehre gegen Ehre steht, dann geht die seine vor.

Wie? Leidenschaft und Gewissenspein? Das Ehrgefühl des ältesten Sohnes? Dergleichen überwindet die Jugend! Vorwärts!

XIII

Während einer Kissinger Kur, im Herbst 77, diktiert Bismarck seinem Sohne diese Zeilen: »Ein französisches Blatt sagte neulich von mir, ich hätte le cauchemar des coalitions. Diese Art Alp wird für einen deutschen Minister noch lange und vielleicht immer ein sehr berechtigter bleiben. Koalitionen gegen uns können auf westmächtlicher Basis mit Zutritt Östreichs sich bilden, gefährlicher vielleicht auf russisch-östreichisch-französischer. Eine große Intimität zwischen zweien der drei letztgenannten Mächte würde der dritten unter ihnen jederzeit das Mittel zu einem sehr empfindlichen Druck auf uns bieten.« In der Sorge vor diesen Eventualitäten, nicht sofort, aber im Laufe der Jahre, schwebt ihm vor, nicht das Bild eines Landerwerbes, sondern das einer politischen Gesamt-Situation, »in welcher alle Mächte außer Frankreich unser bedürfen und von Koalitionen gegen uns durch ihre Beziehungen zueinander nach Möglichkeit abgehalten werden«.

Hier liegt der Grundgedanke seiner Kanzler-Politik, erwachsen aus drei Erwägungen: Deutschlands Lage, Europas Eifersucht und die Gegensätze der Mächte. Aus diesen Sätzen tritt der Realist hervor und der Schachspieler: er weiß das Nötige vom Erwünschten zu trennen, sein Selbstgefühl will doch kein Dorf mehr nehmen, da er das ungünstig gelegene Vaterland, Quelle und Objekt der Macht, niemals mit Weltmachtswünschen gefährden darf; zugleich stellt er sich die Großmächte als Gegenpartei geeinigt vor und sucht den englischen Läufer vom russischen Turm, den gallischen Springer von östreichischen Bauern abzudrängen.

In der Welt glaubt ihm niemand: Briefe der englischen Königin, Berichte russischer Staatsmänner, Reden französischer Demagogen klingen wider vom Mißtrauen gegen Bismarcks Friedenswillen. Dokumente der Furcht und des Hasses häufen sich gegen den »Eroberer«. Denn dafür mußte ihn die Welt halten: hatte er nicht in sieben Jahren mitten im friedlichen Europa drei Kriege vom Zaun gebrochen, die er alle mit Annexionen beschloß? Hatte er nicht im Herzen des Erdteils, wo die deutsche Zerklüftung seit drei Jahrhunderten allen Nachbarn das Feld zur Korruption freigab, einen Kolossus aufgerichtet? Sieger durch Blut und Eisen im eignen Lande, dann gegen fremde Länder: wie sollte er diese napoleonische Waffen-Schöpfung halten als in immer neuen Eroberungen? Sein eigenes Volk nennt ihn ja den Eisernen Kanzler!

Daß dieses Volk von seinem Wesen wenig verstand, hat zu dem Irrtum beigetragen, der auf die Dauer dem deutschen Namen zum Verhängnis wurde. Ein Rückblick auf seinen Charakter, auf die Stimmungen dieses komplizierten Herzens genügte allein, jene Vorurteile zu entkräften; ein Vorblick in die Akten, Briefe und Gespräche dokumentiert, ein Überblick über die zwanzig Jahre seiner Kanzlerschaft beweist es. Ob man auch ohne die drei Kriege zur Einigung gelangen konnte, hat er sich noch im Alter oft gefragt, und in den Memoiren für 1849 nicht bestritten. Gewiß ist nur, daß er diese Kriege nicht führte, um zu erobern, vielmehr nur gelegentlich seiner Siege erobert hat: er glich einem verwöhnten Manne, der auf dem Wege seines Ehrgeizes Frauen findet und nimmt, weil er kein Kostverächter ist.

Nie aber hat er Kriege um Eroberungen gemacht. Nicht um Schleswig zu erobern, zog er aus, sondern um den nationalen Wind in Preußens Segel zu fangen; nicht um Hessen und Hannover, sondern um Östreichs Ausschluß ging es das zweite, nicht um das Elsaß, sondern um Frankreichs Veto ging es das dritte Mal. Aber nach Siegen, die an Schnelligkeit und Kraft seine eigenen Hoffnungen überstiegen, setzte er sich dann zur Karte und nahm, was sich ihm bot.

Denn um nach außen den Bogen je zu überspannen, war Bismarck zu sehr Meister: freilich schoß er nicht zu kurz, aber sicher niemals zu weit; warum ihm im Innern dies Distanzgefühl fehlte, ist untersucht worden: »Mir sind die auswärtigen Dinge an sich Zweck und stehen höher als alles übrige«, hatte er im Jahre 66 gesagt. Er hatte das Glück, Kriege immer zu finden, wenn er sie brauchte, hat aber nie den Moment der Überlegenheit mißbraucht, um zu siegen. Zwanzig Jahre lang erhielt er die Ruhe Europas, und wenn die Nachwelt manches Verdienst ihm schmälern muß, dies bleibt: Bismarck hat den Frieden Europas durch zwanzig Jahre erhalten.

Nicht aus Humanität noch aus Furcht, den Ruhm zu verlieren: nur aus der Überzeugung, daß nicht noch einmal Europa stille zusehen, daß vielmehr Koalitionen sich bilden würden, deren Drohen ihn noch im Jahre 69 theoretisch auf Elsaß verzichten ließ. Wie Bismarck, direkt und indirekt, Frankreich nach dem Jahre 71 behandelt hat, das führt nach der Verdunkelung von Versailles zu seiner staatsmännischen Höhe, zu Nikolsburg zurück. »Unser Bedürfnis ist, von Frankreich in Ruhe gelassen zu werden und zu verhüten, daß, wenn es uns nicht den Frieden halten will, es Bundesgenossen findet; so lange es solche nicht hat, ist uns Frankreich nicht gefährlich, und so lange die großen Monarchien Europas zusammenhalten, ist ihnen keine Republik gefährlich. Dagegen wird eine französische Republik sehr schwer einen monarchischen Bundesgenossen gegen uns finden.«

Hier sagt er, warum er Koalitionen der anderen verhüten, selbst aber solche suchen muß. Von 50 bis 70 hat Bismarck Preußens Isolierung gewollt, um in den großen Krisen sich teurer zu verkaufen; jetzt, für das mächtige Deutschland, will er Bündnisse. Damals war er schwach und wollte deshalb allein sein, jetzt, da er stark ist, sucht er Freunde. Über seine Epoche hinaus bleibt der Grundgedanke richtig:

»Unser Interesse ist, den Frieden zu erhalten, während unsere kontinentalen Nachbarn Wünsche haben, geheime oder amtlich bekannte, die nur durch Krieg zu erfüllen sind ... Wir sollen uns bemühen, Verstimmungen, die unser Heranwachsen zu einer wirklichen Großmacht hervorgerufen hat, durch den ehrlichen und friedliebenden Gebrauch unsrer Schwerkraft abzuschwächen ... Die Achtung vor den Rechten anderer Staaten ... wird dem Deutschen Reich und seiner Politik erleichtert, einerseits durch die Objektivität des deutschen Charakters, andrerseits durch die verdienstlose Tatsache, daß wir eine Vergrößerung unseres unmittelbaren Gebietes nicht brauchen, auch nicht herstellen könnten, ohne die zentrifugalen Elemente im eigenen Gebiete zu stärken. Mein ideales Ziel, nachdem wir unsere Einheit innerhalb der erreichbaren Grenzen zustande gebracht hatten, ist stets gewesen, das Vertrauen ... auch der großen Mächte zu erwerben, daß die deutsche Politik, nachdem sie die injuria temporum, die Zersplitterung der Nation gutgemacht hat, friedliebend und gerecht sein will ... Internationale Streitigkeiten, die nur durch den Volkskrieg erledigt werden können, habe ich niemals unter dem Gesichtspunkt des Göttinger Comments und der Privatmensuren-Ehre aufgefaßt.«

Bismarck hat sich in den Siebziger Jahren nach Tiedemanns Zeugnis wiederholt einen Europäer genannt; er ist es im großen Zuge seiner äußeren Politik gewesen, insofern er sich nie nationalistisch gab, nie glaubte oder gar erklärte, sein Volk wäre das auserwählte; er war »völlig frei von vulgärer Vaterlandsliebe«. »Die Elsässer, sagt er zu einer Abordnung, betrachtete ich von jeher als die Elite des französischen Volkes, sie haben die besten Soldaten und haben in meinen Augen den Vorzug, von beiden Nationen etwas Gutes zu besitzen. Wenn ich jede Französin mit einem deutschen Kernmanne vermählen könnte, würde ich einen tüchtigen Menschenschlag erhalten.« Wenn er Thiers zum Geburtstag gratulieren will, so fragt er ihn vorher durch die Botschaft an, ob etwa seine Volkstümlichkeit durch den Namen Bismarck leiden könne, und als Thiers stirbt, veranlaßt Bismarck seine Freunde, ein Glas zu seinem Gedächtnis zu leeren. Er hätte im Jahre 75 Frankreich ein zweites Mal mit Waffen schlagen können, er war durch vergrößerte Cadres und dröhnenden Revancheruf von drüben gereizt; aber er zertrat den Funken, denn »die scheinbare Gehässigkeit eines Angriffs, nur um Frankreich nicht wieder zu Atem kommen zu lassen, hätte den willkommenen Vorwand zunächst für englische Humanitäts-Phrasen geboten, dann aber auch für Rußland, um aus der Politik der persönlichen Freundschaft der beiden Kaiser einen Übergang zu der des kühlen Staatsinteresses zu finden, da damals ... an der Newa schon einige Zweifel darüber herrschten, ob es richtig gewesen sei, es so weit kommen zu lassen, ohne in die Entwickelung einzugreifen.«

In dieser Krise vom Frühjahr 75 schien für einen Augenblick die Entente von 1915 Deutschland einzukreisen. Der Kirchenstreit war ein Vorwand, Franz Josef, Victor Emanuel, Leopold II. nahmen die katholische Partei, Gortschakow näherte sich mit Balkan-Augen den Franzosen, selbst England kam aus Mißstimmung den Russen nahe: Bismarcks ganzes System ist gefährdet, zum erstenmal steht er vor diplomatischer Niederlage. Was tut er? Erst bringt er mit einem Artikel »Ist Krieg in Sicht?« alle Mühlen zum Drehen, Rom, London, alle wenden sich, schon aus Haß gegen Bismarck, für den Moment dem russischen Kanzler zu, dieser gibt den Engländern auf dem Balkan in einem kleinen Punkte nach, geht zur Lösung oder zur Zuspitzung der Krise mit dem Zaren nach Berlin. Dort empfängt Bismarck ihn völlig friedfertig, zeigt ihm sein neuestes Entlassungsgesuch, wonach er krank sei, aber entbehrlich, da alles ruhig sei, erzählt es auch dem Zaren, der im Grunde froh ist, nicht schlagen zu müssen.

So sieht sich der eitle, schlaue russische Greis von seinem Schüler düpiert; die letzte Chance zum Ruhm entflieht, er sucht das Mögliche noch zu retten und sendet in alle Hauptstädte seinen Vertretern eine offene Depesche, die (bei nicht ganz sichergestelltem Wortlaut) ungefähr sagte: »Maintenant la paix est assurée.« Diese Depesche, gemacht, um Gortschakow über Bismarck, Mütterchen Rußland über den furor teutonicus siegen zu lassen, macht Europa glauben, Rußland und Gortschakow hätten das friedliche Frankreich vor der Raubgier des bösen Mannes gerettet.

Bismarck ist wütend und hat, nach seiner Erzählung, dem Russen sogleich furchtbare Wahrheiten gesagt: »Man darf einem Freunde nicht plötzlich von hinten auf die Schulter springen, um dort eine Zirkusvorstellung auf seine Kosten in Szene zu setzen! ... Liegt Ihnen daran, in Paris gerühmt zu werden, so brauchen Sie deshalb unsre russischen Beziehungen noch nicht zu verderben! Ich bin gern bereit, in Berlin Fünf-Francs-Stücke schlagen zu lassen mit der Umschrift: Gortschakow protège la France. Wir können auch in der deutschen Botschaft in Paris ein Theater aufstellen, wo Sie der französischen Gesellschaft mit derselben Umschrift als Schutzengel in weißem Kleide und mit Flügeln in bengalischem Feuer vorgeführt werden!« Darauf soll Gortschakow unsicher erwidert haben. Gewiß ist, daß der Streit in Bismarcks Gemüte die tiefsten Folgen hatte, die bald in weltgeschichtlicher Entscheidung mitwirken sollten.

Zwar, der Zar fährt sogleich ohne Anmeldung bei Bismarck vor und tritt mit den Worten ein: »Lassen Sie mir das erste Wort, um zu versichern, daß ich selber nie an die Gerüchte von deutscher Kriegslust glaubte!« Ein anderes Mal erzählt Bismarck sogar, der Zar habe seinen Kanzler mit den Worten fallen gelassen: »Lassen Sie ihm diese greisenhafte Eitelkeit!« Bismarck aber scheint von diesem Greis diplomatisch geschlagen, überdies hat er ausnahmsweise ein politisch reines Gewissen: er wird diese Stunde nicht vergessen. Er verbietet zwar, seinen Gegner für jetzt zu widerlegen, der die Zustimmung des Zaren überall drucken läßt, aber er hebt es sich auf, und wenn ein alter Mann nicht einschlafen kann wegen des »ungesühnten Unrechtes«, das man ihm vor 50 Jahren in der Schule angetan, so muß ein solcher Affront auf der Höhe der Macht sein Rachegefühl in Spannung halten.

Schon ein Jahr später wird ihm von den Russen die ränkevolle Frage gestellt, sich für Rußland oder Östreich zu entscheiden. Gleich nach der letzten Krisis, im Sommer 75, hatten neue Aufstände der eingeborenen Balkanvölker gegen die Türken die Eifersucht der beiden Kaiserreiche akut gemacht; alles, was sich dort vorbereitete, hing von Bismarcks Entscheidung ab. Durch das Drei-Kaiser-Bündnis hatte er gleich nach dem Frieden versucht, die Balkan-Rivalen zu paralysieren: »Ich gedenke mich nicht einzumischen, sagte er vertraulich, gerade dadurch könnte ein europäischer Krieg entstehen ... Nähme ich für den einen Staat Partei, dann schlüge sich Frankreich sofort auf die andre Seite ... Ich habe zwei mächtige Wappentiere an ihren Halsbändern, die halte ich auseinander, erstens damit sie sich nicht zerfleischen, zweitens damit sie sich nicht auf unsre Kosten verständigen.« Diese grandiose Grundidee popularisierte er im Reichstag mit den Worten: »Ich würde zu irgendeiner aktiven Beteiligung Deutschlands an diesen Dingen nicht raten, so lange ich in dem Ganzen für Deutschland kein Interesse sehe, welches auch nur – entschuldigen Sie die Derbheit des Ausdruckes – die gesunden Knochen eines einzigen pommerschen Musketiers wert wäre.«

Aber er kannte die Problematik dieses Kaiser-Bündnisses zu gut, er zweifelte, ob seine Kunst die Genossen dauernd trennen würde. Das einzige, was diesem Bündnis moralisches Gewicht versprach, waren eben die drei Kaiser, deren Allianz sich zugleich gegen Republik und Demokratie richtete, und die sich lieber leidlich vertragen, als von dem Unleidlichen geschlagen werden wollten. So hat Bismarck in den siebziger Jahren den östlichen Dreibund gefördert, ja, geschaffen, den er in den fünfziger Jahren zu sprengen verstanden hatte. Der dynastische Wunsch nach der eigenen Sicherheit war in Romanow und Habsburg größer als die Eifersucht der Eroberer; um aber die Allianz zu einer Heiligen wie ihre Väter zu gestalten, dazu fehlte diesen drei Erben der gefürchtete Gegner.

In dieser wunderlichen Ehe zu Dreien war Deutschland der jüngere Mann, um den sich zwei reife Frauen stritten, der Streit ging von den beiden Frauen aus; um so schwieriger wurde es auf die Länge für ihn, zwischen beiden die Mitte zu halten. »Halten wir uns im Kampfe zwischen Rußland und Östreich neutral, sagte Bismarck damals zu Hohenlohe, so wird uns das der Geschlagene nie verzeihen. Würde Östreich ganz vernichtet, so wäre das kein Vorteil, denn wir könnten wohl die Deutschen annektieren, aber was sollten wir dann mit Slaven und Ungarn machen? Gegen Östreich zu kämpfen, verbietet uns die öffentliche Meinung, Rußland wird uns gefährlich, wenn Östreich zugrunde geht: nur mit ihm können wir Rußland in Schach halten.« Kurz nach dieser Erklärung sollte Bismarck gefährlich auf die Probe gestellt werden.

Gortschakow hatte im Frühjahr 76 sich von Bismarcks Botschafter sagen lassen müssen, sein Berliner Theatercoup vom vorigen Jahre hätte »Mißtrauen und Unsicherheit« gegen Rußland zurückgelassen; er log die schwärmerische Antwort, wenn man Bismarck noch seinen Schüler nenne, so wäre er es nur, wie Raphael der Schüler Peruginos gewesen. Umso boshafter setzte er die Diplomatenschlacht fort und stellte, da er das Dilemma seines Gegners kannte, ihm plötzlich eine Falle: von Livadia aus richtete er im Herbst 76 durch den deutschen Militär-Attaché eine Anfrage nach Berlin, ob Deutschland im Fall eines Russisch-Östreichischen Krieges neutral bleiben würde. Seine diplomatischen Finger waren viel zu gelenkig, um eine solche grobe Anfrage ohne Berechnung der Grobheit zu wählen. Bismarck, der die Depesche in Varzin liest, befiehlt seinem Amt zuerst eigenhändig, und zwar mit ihm ganz ungewohnten Unterstreichungen, »eine so indiskrete Frage mit der Wendung abzulehnen, daß wir nicht sicher wären, zu welchem Zwecke Gortschakow die Erklärung verlange, und welchen Gebrauch er davon machen werde ... Die Frage ist ebenso dreist wie unzeitig, intrigue cousue de fil blanc«. Das Ganze nennt er in seiner Wut einen »Versuch, uns zur Zeichnung eines Wechsels in blanco zu bewegen, den Rußland ausfüllen und Östreich wie England gegenüber verwerten oder doch benutzen will«.

Auch hier hat Bismarck die persönlichen Stimmungen mit der Logarithmentafel seiner Kalküle nachgeprüft. Er wußte sehr gut, wonach ihn sein Gegner fragte: darf Östreich zerstückelt werden? Sagte er Nein, so tat er es in Voraussicht der panslawistischen Flut, die dann den ganzen Osten überschwemmen, später Deutschland abhängig machen würde. Da war es besser, daß sich der Zar einen Denkzettel holte; die drei großen Orient-Konkurrenten, Rußland, Östreich, England in Spannung untereinander, in Hoffnung auf Deutschland zu erhalten, war seit langem seine Politik gewesen. Jetzt wollte er den Weltkrieg verhindern und Rußlands vorbereitete Armee nach dem Balkan ablenken, als er, nochmals zur Antwort gedrängt, erwiderte: er könnte zwar ruhig zusehen, daß seine beiden Freunde gegenseitig sich Schlachten liefern, nicht aber daß der eine oder der andere am Schlüsse schwer verwundet daliege und als Großmacht ausscheide.

Nun konnte Gortschakow seinem Herrn à la lettre beweisen, daß Bismarck es wäre, der ihn von der Goldenen Kuppel der Hagia Sophia zurückhielt, worauf der überzeugte Zar, statt den Franz Joseph zu erschlagen, sich sogleich in Reichstadt mit ihm über den Balkan vorläufig einigte, für seine Ruhe Bosnien versprach, das Gewitter nach Südosten ablenkte, mitten im Winter auf Konstantinopel loszog, in den Dardanellen aber englische Schiffe und andre Schwierigkeiten antraf und überhaupt sich vor der Weltstadt von den Mächten aufgehalten fühlte, worauf er im Frieden von San Stefano das »Gleichgewicht erschütterte«.

»La question qu'il s'agit de résoudre n'est ni allemande ni russe: elle est européenne,« hatte Gortschakow in seiner Antwort an Bismarck geschrieben, der aber schrieb daneben: »Qui parle Europe, a tort. – Who is Europa?« Dieselben breiten, etwas humoristischen drei Worte hatte er 10 Jahre vorher dem drohenden englischen Gesandten vorgehalten. »Ich habe das Wort Europa immer im Munde derjenigen Politiker gefunden, die von anderen Mächten etwas verlangen, was sie im eigenen Namen nicht zu fordern wagten.« Mit diesen damals noch richtigen Worten erwiderte er, natürlich nur intern, die russische Phrase.

Aber in Petersburg dachte noch ein andres Gehirn europäisch, schlug ein männlicheres Herz neben dem alten Kanzler, und als man beim Frieden von San Stefano, der die Türken aus Europa verdrängte, den Vasallenstaat der Bulgaren vergrößerte, Östreich sich von Rußland umklammert, England bedroht fühlt, und so ein zweiter, furchtbarerer Krieg bevorsteht, da eilt Graf Schuwalow, Bismarck seit langem befreundet, zu ihm, damit er vermittele. Der liegt krank in Friedrichsruh, Gürtelrose, Neuralgien, wegen Gesichtsschmerzen hat er sich sogar den Bart stehen lassen; er empfängt den Russen und lehnt ab.

Wieder, wie vor der Annexion der Reichslande, bleibt sein erster politischer Instinkt untrüglich. Schon vor ein paar Monaten, als man ihn offiziös um deutsche Vermittelung zu fragen begonnen, hatte er entschieden abgelehnt, denn »wir könnten kaum glauben, daß die Vermittlung einer andern Macht so eingerichtet werden könnte, daß sie nicht den Charakter einer Pression auf Rußland annehme: unter dem Druck einer solchen würde den Russen das Nachgeben aber nur erschwert werden ... Unsere Verhältnisse zu Rußland sind uns bei den weiten Grenzbeziehungen zu diesem Reiche viel wichtiger als die ganze Türkei: wir sind fest entschlossen, darin nicht eine ganz unnötige Trübung durch Übernahme einer Vermittlung eintreten zu lassen«. Daß er nachher, im Alter, diese Intervention für die größte Torheit seines Lebens erklärt habe, ist nicht erwiesen und klingt falsch; gewiß ist nur, daß er sie vorher verwarf. Aber Schuwalow läßt nicht locker, und anderen Tages kommt, von ihm bestellt, eine Depesche vom Zaren Höchstselbst, worin er Bismarck darum bittet: er würde darin den Beweis seiner Anhänglichkeit erkennen. Was tun? Vor kurzem hatte Bismarck selber seinem Petersburger Botschafter geschrieben: »Ein Monarch und ... ein so nahestehender wie Kaiser Alexander, bleibt Ihnen und mir gegenüber ... immer im Rechte einer Dame.«

Zudem hat das Attentat auf den Kaiser soeben das Sozialistengesetz wahrscheinlich gemacht: Bismarck fühlt sich dadurch innerlich gestärkt; dazu mögen grollende Gedanken an den alten Gortschakow getreten sein, der nun unter seinem Präsidium schwitzen müßte. So sagt er, wie in Versailles, zum Entschluß eines anderen Ja, verleugnet damit einen Grundzug seines Wesens, steht vom Tische auf und diktiert seinem Sohne in 25 Minuten das Programm des Berliner Kongresses.

»Wir werden als ehrliche Makler handeln«, sagt Bismarck für die Öffentlichkeit; Bleichröder aber, der das liest, nickt bedächtig mit dem Kopfe, und eine uralte Erfahrung taucht in ihm auf, als er erwidert: »Einen ehrlichen Makler gibt es nicht.«

XIV

Am 13. Juli 70 hat Bismarck die Emser Depesche, am 13. Juli 74 die Kullmannsche Kugel empfangen, am 13. Juli 78 die Berliner Kongreßakte unterschrieben. Der 13., dem er sonst wie dem Freitag gern auswich, hat ihm zweimal Glück im Unglück gebracht; die Frage war, ob er nicht diesmal, nach glänzendem Erscheinen, ihm später Schaden bringen sollte. Denn glänzender nach außen war kein Augenblick in seinem Leben als dieser, da er sich im Kuppelsaale seines Amtspalais in der Mitte des großen Hufeisens als Präsident von Europa erhob, um die Staatsmänner der Großmächte zu begrüßen; dergleichen hatte man seit Jahrzehnten nicht erlebt. Der weiße Vollbart gab ihm den Aspekt des Patriarchen, aber sein Leiden und die Höflichkeit, in fremder Sprache zu präsidieren, dabei der Ehrgeiz, auch französisch frei zu sprechen, vor allem die Fragwürdigkeit der ganzen Unternehmung machten ihn unruhig, so daß er etwas befangen und »nicht ohne Nervosität« den Kongreß eröffnete.

Am grünen Tische ringsumher sitzen zwanzig leitende Männer von sieben Nationen. Rechts von Bismarck sitzt die Monarchie. Ist das nicht ein Zigeuner, der heut einmal den Honved-General spielt? Seine schmalen, hageren Züge gehen etwas durcheinander, Nase und Ohren groß, genießerischer Mund, kurzer Bart, etwas wild und gar nicht feierlich: es ist Graf Andrassy, der Mann der schnellen Auffassung und der langsamen Entschlüsse; daneben Graf Karolyi, der ewige Berliner Botschafter, den sogar der Krieg nur auf ein paar Wochen von hier vertreiben konnte; und, damit doch auch ein Wiener unter den Wiener Vertretern sitze, der Baron Haymerle, bei dem alles spitz ausläuft, die Nase wie der Bleistift, mit dem er gleich zu dozieren anfangen wird.

Der Mann zu Bismarcks Linken, der aussieht wie Merry Old England, bequem und lustig, Führer der Franzosen, mehr Archäolog als Minister des Äußeren, von Namen und Abstammung englisch, ist Waddington; aber sein Nachbar, der Graf St. Vallier, überbeweglich, stellt die Nation besser dar, er ist von der Fiebrigkeit eines sanguinischen, übrigens schon gebrochenen Menschen; daneben die geistvollen Züge des dritten, Desprez, halb Kammerdiener, halb Geistlicher.

Doch was will hier der Ferne Osten? Ist jener kleine Listige nicht ein Japaner? Das ist Graf Corti, der Italien hier mit mehr Verstand vertritt als sein Nachbar, Graf Launay, der Kavalier. Daneben sitzt ein blauäugiger deutscher Landsknecht, der trägt einen Fez. An dieser Tafel scheint alles vertauscht, man sieht, wie töricht das Geschwätz von Rassen und Nationen! Dieser schöne Germane heißt Ali Pascha, jetzt ist er ein großer General, doch als er noch ein Magdeburger Junge war, hieß er anders und soll als Schiffsjunge, entlaufen, Ali dem Großwesir, der ihn seither protegierte, Vergnügen bereitet haben; noch zwei Monate, und er wird seine Abenteurerbahn unter albanischen Dolchen beschließen. Der andre freilich: das ist der geborene Orientale, Karatheodory, mit feiner Nase, verschlossenen Lippen, bleich, zurückhaltend, ganz vornehmer Grieche.

Und drüben, neben dem Wiener Baron – geht denn die deutsche Abordnung noch weiter? Das ist Lord Russell, der englische Botschafter in Berlin, mit dem gutartig klugen Gesicht, beweglich, formlos. Auch von dem schönen Apostelkopf daneben mit der herrlichen Stirn und dem blonden Vollbart, würde keiner glauben, daß er Lord Salisbury gehört, dem verdrießlich Exakten, dem Kenner des Orients. Doch bleibt das Auge nicht auf seinen Humanisten-Zügen haften, wenn es den nächsten Kopf einmal erfaßte: diese Hauptperson ist national erst recht nicht zu bestimmen, am wenigsten nach England hin: als der Earl of Beaconsfield noch Disraeli hieß und Romane schrieb, war er der Typus eines schönen jungen Juden; jetzt halb Mephisto, halb Musiker, mit der zu großen Nase, der hängenden Unterlippe, dem harten Knebelbart, die hohe Stirn von leichten Locken umhängt, scheint er ein Schriftgelehrter nach Rembrandt, und als er am Stocke seinen Sitz aufsuchte, hätte trotz der Hofuniform niemand in ihm den Charmeur seiner Königin vermutet.

Doch wo ist Gortschakow, berühmt wie Disraeli? Dort, das zusammengesunkene Männlein? Mit 80, anders als Kaiser Wilhelm, der sich noch wie ein Leutnant hält, hat er seine gichtischen Glieder herauftragen lassen; sieht man ihn näher an, so ist das Gesicht nicht mit dem Körper geschrumpft, der Mund wirkt noch sinnlich, die Wange weich, nur die Nase ist scharf, und wie er da herumspäht, erinnert er, halb deutschen Ursprungs, an einen deutschen Sonderling von Spitzweg und scheint Genießer mehr als Intrigant, ist aber mindestens beides. An diesem Tische zu sitzen, hat er sich von seinem Herrn erzwungen, abzustimmen hat nicht er, sondern sein Botschafter, Geschäfte führt keiner von ihnen beiden, sondern der elegante Nachbar, Graf Schuwalow, Erfinder dieser Tafel, Typus eines französischen Marschalls, klug, Kavalier, unerreicht als Verhandler.

Schon bei Beginn klirren die Gegner leise mit ihren Degen: obwohl der Präsident auf deutschem Boden französisch redet, entgegnet Disraeli auf englisch, das er würdevoll, in klassischem Oxford, aber nur wenigen verständlich spricht, worauf Gortschakow, anstatt russisch zu erwidern (wie Bismarck erwartet), auf französisch lauter Dinge sagt, die keine Antworten sind, und durch seine phrasenreiche Rede den gelangweilten Präsidenten zur Aufzeichnung eines Zettels veranlaßt, auf dem nur steht: Pompos, pompo, pomp, po. Darauf geht alles in den Nebensaal an ein Büfett, mit dem Borchardt »bei jeder der 20 Sitzungen den größten Erfolg des Kongresses« davonträgt.

Bismarck war schon vor der ersten Sitzung wütend, weil die Herren ihn bei der Gegenvisite »auf kleinstädtische Art alle empfangen und ermüdet haben«; nachher macht er sich in geistreichen Invektiven über seine Gäste lustig, sucht in den nächsten Sitzungen auf seine Art zu regieren, sagt, wenn Salisbury einen neuen Antrag stellt, laut: »Encore un de plus!«, nimmt, nach dem griechischen Berichte, »von Einwänden keine Notiz, eilt vielmehr, jeden mit nervöser Ungeduld zu unterdrücken, läßt das Gewicht seiner Autorität in Abstufungen ... alle fühlen«; übrigens spricht er ein feines Französisch, aber stoßweise, wie er Deutsch spricht, auch je nach der Stimmung seiner Nerven, fließend oder gehemmt. »Ich schlief selten vor Sechs, oft erst um Acht früh ein, nur ein paar Stunden, war dann bis Zwölf für niemand da, und in welcher Verfassung ich dann für die Sitzungen war, das können Sie sich denken. Ich trank vorher zwei bis drei Biergläser voll stärksten Portweins, um das Blut ordentlich in Wallung zu bringen, sonst wäre ich unfähig gewesen.« Und doch hat er, nach allen Berichten, durch Abschneiden, Vorbeugen, Einlenken in hohem Maße vermittelnd eingewirkt.

Vertrauen hatte er selber zunächst nur zu Andrassy und Russell, und sucht bei Russell vergebens »nach einem versteckten Laster, denn einen so vollkommenen Engländer kann es gar nicht geben, der überdies alle Sprachen unwahrscheinlich gut spricht«. Salisbury möchte er täglich eine halbe Stunde beim Unteroffizier üben lassen, um ihm eine bessere Haltung beizubringen, und Achmed Ali behandelt er als Renegaten, kalt, fast unhöflich; seinen Feind Gortschakow in ironischer Devotion, und als er dem alten Herrn bei einem Besuch aus dem Sessel helfen will, versteht der Reichshund diese Bewegung als Signal zum Angriff, wird von seinem Herrn angeschrien, wodurch der Russe, der den Hund noch gar nicht sieht, auf plötzliche Rache Bismarcks schließt und entsetzt vor ihm zurückfährt. Als es Bismarck am Abend erzählt, fügt er diese Glosse des politischen Hundevaters hinzu: »Tyras ist mit seiner Dressur nicht fertig geworden, er weiß nicht, wen er beißen soll; wenn er es wüßte, würde er den Türken gebissen haben.«

Die drei großen Abenteurer dieses Kongresses, der Schiffsjunge, der Romanschreiber und Bismarck, reagierten in sehr verschiedener Weise aufeinander. »Ich möchte wissen, ob Beaconsfield den Krieg will«, sagte Bismarck am ersten Abend. Niemand wußte es, man hatte das Gefühl, daß er die Lose hielt. Dabei war er mißtrauisch und ließ sich von Werner, der ihn während der Arbeit malte, immer wieder Unkenntnis des Englischen versichern, lachte aber über die Berliner Witze und hat auch erfahren, daß der Ehrenposten dem Offizier auf seine Frage, für wen er denn hier stände, erwidert habe: »Zu Befehl, für B. A. Cohnfeld.«

Alles an ihm, besonders das Oratorische mußte Bismarck abstoßen, wäre er judenfeindlich gewesen; aber nach wenigen Gesprächen stand er mit ihm besser als mit allen und sagte später: »Ich hatte ihn wiederholt abends bei uns; da er leidend war, kam er nur unter der Bedingung, allein zu sein. Da lernte ich ihn näher kennen: trotz seiner phantastischen Romane konnte man sehr gut mit ihm verhandeln, in einer Viertelstunde wußte man, wie man mit ihm dran war, die Grenze war genau gezogen, wie weit er gehen wollte, und nach kurzer Redaktion seiner Gedanken war man im reinen.« Bis zu Disraelis Tod blieb Bismarck ihm befreundet, obwohl dieser ihn nach dem Kongreß im »Count of Ferroll« dargestellt hat; vierzig Jahre nach Motleys Bismarckroman.

Im Geschäftstone scheint sich Bismarck aber nur gegen Bleichröder geäußert zu haben: »Der Friede steht 66:34, vielleicht 70:30,« sagte er diesem am ersten Abend, Bleichröder gab »ein großes Diner ohne Salzfässer, aber mit viel Musik«; der Kronprinz lud zu einer Wasserfahrt auf dem Wannsee ein, auf dem der ganze Kongreß im Sturm beinah ertrunken wäre, von dort nach Sanssouci, wo, nach Hohenlohes Berichte, der Kongreß »vor dem Diner zwar viele Waschbecken, aber nur ein einziges Porzellangefäß fand, das nicht zum Waschen bestimmt war; um dieses gruppierte sich Europa.«

Die Probleme der Verhandlungen sind längst überlebt, alles Einzelne uninteressant, wichtig nur die Rivalität der drei Orient-Konkurrenten. Sie kulminierte zwischen Rußland und England in Bulgarien, und als die Russen nicht nachgeben wollten, Beaconsfield schon seinen Extrazug bestellt hatte, griff Bismarck ein, da er durch Schuwalow Rußlands gegenwärtige Schwäche kannte, veranlaßte die Engländer zu einer kleinen, dann die Russen zu einer sehr großen Nachgiebigkeit und rettete den Frieden auf Kosten der russischen Freundschaft: denn sofort sprach man von Rußlands »Erniedrigung durch Bismarck«.

Formell handelte es sich, außer der allgemeinen Lüge, daß die Christen gegen die Ungläubigen geschützt werden müßten, um kleinen Länderschacher: Abgrenzung sogenannter Interessengebiete, auf deren Karten die Staatsmänner in London und Petersburg sich nicht besser als die deutschen Vermittler zurechtfanden. Hatte man zum Beispiel dem neuen Bulgarien den Sandschak gegeben, so fand sich, daß dies Land weit über die Vorgebirge des Balkans hinausging, daß England zu viel eingeräumt hatte und es wieder zurückholen wollte. »Wir fanden nach langem Suchen, schreibt Hohenlohe, ein kleines Stück, das wir den Russen abnehmen konnten, einen Gebirgsrücken, ... ob es eine vernünftige Grenze ist, weiß keiner von uns ... Auch sind die Karten ungenau und widersprechend.«

Als man nach vier Wochen unterschrieb, war auf dem Balkan nicht einmal die Ruhe eines Friedhofs geschaffen: Bulgarien war »errichtet«, Serbien, Rumänien, Montenegro »unabhängig«, Griechenland vergrößert, die Donau neutral mit europäischer Kommission, die Meerengen blieben weiterhin geschlossen, Bosnien und Herzegowina aber, die türkisch blieben, wurden von Östreich besetzt und verwaltet: eine Quelle jahrzehntelanger Spannungen, freilich schon ein Jahr vorher im geheimen zwischen Zar und Habsburg vereinbart. Nichts war nach Rassen oder gar nach Wunsch der Eingeborenen geordnet, die Serben blieben in vier Länder zerrissen, die Bulgaren in drei, der Islam war zurückgedrängt, aber noch in Europa: ein dünnes Pergament überdeckte die ungelösten Probleme.

Deutschland, das kein direktes eigenes Interesse vertrat, verlor durch den Kongreß indirekt ein großes: die russische Freundschaft wurde erschüttert, ohne daß sich eine englische gefestigt hatte; Bismarck führt persönliche Gründe an: »Vor dem Kongreß hatten wir uns mit dem Zaren dahin geeinigt, daß ich jeden Wunsch Rußlands befürworten würde, und daß dafür der Zar versprach, Schuwalow an Gortschakows Stelle zu setzen ... Von dieser Abmachung muß Gortschakow Wind bekommen haben, denn auf dem Kongreß verlangte er immer weniger für Rußland, so daß ich Schuwalow sagte, ich könnte doch nicht russischer sein als Rußland ... Als Gortschakow später das Resultat dem Zaren vorlegte, sagte er: »Diesen schlechten Abschluß haben wir Bismarck zu verdanken«, worauf der Zar geantwortet haben soll: »So! Dann bleibst du Kanzler!« Gewiß ist, daß der Zar in diesem diplomatischen Kampfe sich vom ›ehrlichen Makler‹ verlassen fühlte: die »europäische Koalition gegen Rußland unter Bismarck« nannte er den Kongreß und Schuwalow die Dupe des Fürsten Bismarck.

Der Berliner Kongreß hatte auf dem Balkan Unruhe, unter den Großmächten Spaltungen vorbereitet. Sie kamen bald zum Durchbruch.

XV

»Ermutigt durch Ihre dauernde Freundschaft, lieber Oheim, erlauben Sie mir, den delikaten und mich beunruhigenden Punkt offen auszusprechen. Es handelt sich um die Haltung deutscher diplomatischer Agenten, die seit einiger Zeit sich leider einer feindlichen Art gegen Rußland befleißigen, in vollem Widerspruch zu den Traditionen der Freundschaft, die seit länger als einem Jahrhundert die Politik unserer Regierungen geleitet hat und immer ihren gemeinsamen Interessen entsprach. Diese Freundschaft lebt in mir ganz unverändert, und, wie ich hoffe, auch in Ihnen. Aber die Welt urteilt nach Taten ... Die Türken, von den Engländern und Östreichern, Ihren Freunden, unterstützt ... machen den Bulgaren unaufhörlich kleine Schwierigkeiten. Nun hat die Majorität der Kommissare Europas zu entscheiden; fast in allen Fragen sind Frankreich und Italien für uns, während die Deutschen nach einer Ordre zu handeln scheinen, stets die Meinungen der Östreicher unterstützen, uns systematisch feindselig sind ..

»Verzeihen Sie mir! aber ich halte es für meine Pflicht, Ihre Aufmerksamkeit auf die üblen Folgen zu lenken, die dies in unsere freundschaftlichen Beziehungen bringen ... könnte, wie das die Presse beider Länder begonnen hat ... Ich verstehe vollkommen, daß Sie auf gute Beziehungen zu Östreich halten müssen, aber ich sehe kein deutsches Interesse, die russischen zu opfern. Ist es eines wahrhaft großen Staatsmannes würdig, persönliche Kränkungen in die Wagschale zu werfen, wenn es sich um die Interessen großer Staaten handelt, deren einer dem andern 1870 einen Dienst erwiesen hat, der nach Ihren eigenen Worten unvergeßlich bleibt? Ich hätte mir nicht erlaubt, Sie daran zu erinnern, aber die Umstände sind zu ernst, als daß ich Ihnen meine Furcht verhehlen dürfte, deren Folgen verhängnisvoll für unsere beiden Länder werden könnten. Möge Gott uns davor bewahren und Sie erleuchten!«

Als Wilhelm im August 79 in einem langen Brief des Zaren diese ernste Wendung las, ahnte er ebensowenig wie der Absender die Folgen. Zu oft war in einem Jahrhundert Freundschaft und Interesse der beiden Verbündeten durch Reibung irritiert, doch immer wieder ins Gleiche gesetzt, zu tief war Bismarcks Maxime von der deutsch-russischen Freundschaft gefühlt worden, als daß der Pressekrieg seit dem Berliner Kongreß bis in die dynastischen Stimmungen des Zaren, des Oheim-Kaisers oder gar bis auf Bismarcks Schachbrett hätte vordringen können.

Die lange gemeinsame Grenze und das Fehlen jedes Kriegszieles hatten Bismarck seit 25 Jahren auch in kritischen Lagen zum fast unbedingten Freunde Rußlands gemacht; seit 71 war Frankreichs Wunsch dazu getreten, sich mit Rußland zum furchtbaren Zweifrontenkrieg zu verbinden. Seit acht Jahren war es deshalb Bismarcks Politik gewesen, zwischen den beiden Kaiserreichen zu stehen, die ›Wappentiere‹ getrennt zu halten, in keinem Fall für eins von beiden zu optieren, denn, so hatte er noch vor kurzem zu Mittnacht gesagt: »Träten wir zu Östreich, so bekämen wir in Rußland einen unversöhnlichen Feind und Alliierten Frankreichs.«

Die letzte Nachricht des deutschen Botschafters hatte eine Klage des Zaren über jene angedeuteten Mißstände, andern Tages beim Diner eine Artigkeit und ein Hoch auf die deutsche Armee gemeldet. Aber schon seit einigen Monaten wälzte Bismarck neue Gedanken über Rußland und näherte sich dem ungarischen Freunde Andrassy, den er jetzt auch nach Gastein zu sich bitten ließ. Rache an Gortschakow, der übrigens nur noch formell regierte, kann jetzt den letzten Anstoß nicht gegeben haben. Aber mit jener Beleidigung hatte Bismarcks Mißtrauen angefangen, es war bei Rußlands schlechtem Dank nach dem gefährlichen Kongresse rasch gestiegen, hatte sich am Krieg der Zeitungen, an einer schwer kontrollierbaren Vermehrung der russischen Armee und am steigenden Einfluß des deutschfeindlichen Kriegsministers gestärkt. Nun setzte der Brief des Zaren Bismarcks Kampflust in Flammen. Er beschleunigt die Zusammenkunft mit Andrassy.

Denn was er seinem Herrn nun aus Gastein über den Zaren schreibt, ist das Stärkste, was er seit den Tagen von Ems je über ein Land geschrieben: »Die Worte, mit welchen der Kaiser fortfährt, E. M. seiner Freundschaft zu versichern, verlieren ihre Bedeutung neben der unverhüllten Drohung ... für den Fall, daß E. M. die eigne Politik der russischen nicht ausschließlich unterordnen wollen. Zwischen Monarchen ... ist eine solche Sprache der regelmäßige Vorläufer eines Bruches, wenn letzterer nicht durch Verträge verhindert wird; die zwischen Monarchen übliche Höflichkeit gestattet, auch wenn man den Krieg beabsichtigt, in der Regel eine stärkere Sprache nicht. Wenn E. M. im selben Tone antworten wollten, so würden wir mit Wahrscheinlichkeit dem Kriege entgegengehen.«

Darauf wird der russische Kriegsminister als verkappter Nihilist dargestellt, der wahrscheinlich durch den Krieg zur Republik vorschreiten wolle, Rußlands Zurückhaltung im Jahre 70 wird auf östreichischen Druck zurückgeführt, die Verdienste Preußens für Rußland werden aufgezählt und schließlich wird daraus geschlossen: bisher habe er immer die Hinneigung zu Rußland befürwortet, weil er diese Anlehnung für die gesichertere hielt, aber »mit dem Staate Östreich haben wir mehr Momente der Gemeinsamkeit als mit Rußland. Die deutsche Stammesverwandtschaft, die geschichtlichen Erinnerungen, die deutsche Sprache, das Interesse der Ungarn für uns tragen dazu bei, ein östreichisches Bündnis in Deutschland populärer, vielleicht auch haltbarer zu machen, als ein russisches. Nur die dynastischen Beziehungen und namentlich die persönliche Freundschaft des Kaisers Alexander lagen günstiger in Rußland und gaben den Ausschlag. Sobald dieser Vorzug der russischen Allianz ... unsicher wird, halte ich ... eine eifrige Pflege unserer Beziehungen zu Östreich für nötig.«

Und wenn er dies mit Schrecken gelesen hat, muß der Kaiser auch noch als Bismarcks Wunsch am Schlusse vernehmen, von Gastein nach Wien zu gehen, worauf er ihm mit seltener Festigkeit erwidert: »Auf keinen Fall! weil Rußland dies sofort als rupture mit uns ansehen muß!«

Wenige Tage darauf erhält er eine Depesche Bismarcks über dessen Gespräch mit Andrassy, der ein Defensivbündnis gegen jeden russischen Angriff vorgeschlagen habe. Der alte Herr ist entsetzt und verabredet statt dessen mit dem Zaren selbständig eine Zusammenkunft in einem russischen Grenzort, um jenen Brief klarzustellen. Jetzt ist Bismarck außer sich über solches Entgegenkommen und begründet in großartiger Darstellung, die zehn Druckseiten füllt, dem Herrn seine neue Politik: Gortschakows Eifersucht, Alexanders drohender Brief, Gefahr der Koalition des Siebenjährigen Krieges; dagegen die tausendjährige Gemeinsamkeit mit Östreich, auf die er schon in Nikolsburg hingewiesen habe, Schutz vor Isolierung ohne Übernahme von Pflichten und schließlich die übliche Drohung, eine andre Politik könne er nicht mitmachen.

Dagegen schickt ihm der Kaiser seine eigenhändige Aufzeichnung über die Unterredung mit dem Zaren: Mißverständnisse, keine Spur von Bedrohung, ein Fehler, Bitte, ihn als ungeschrieben anzusehen, Anrufung der hochseligen Väter, herzliche Versprechungen, vollkommene Freundschaft. Um so mehr sei die östreichische Allianz abzulehnen! Bismarck, der sie indessen selbständig weiterbetreibt, schickt nun seinem nach Deutschland zurückgekehrten Herrn aus Gastein beinah tägliche, lange Monologe über Europa und steigert sie im September zur Forderung:

»Die Abhängigkeit unserer Sicherheit von Rußland wäre ein unberechenbarer Faktor. Östreich dagegen ist nicht in gleichem Maße unberechenbar. Nach seiner Lage und seinen Bestandteilen bedarf Östreich so gut wie Deutschland wenigstens einer Anlehnung in Europa, Rußland kann zur Not ganz ohne solche bestehen, ohne Gefahr zu laufen, daß das Reich sich auflöst. In Östreich-Ungarn haben die Völker und ihre Vertreter mitzureden, und diese Völker sind vor allem des Friedens bedürftig ... In Rußland dagegen ist eine kriegerische Politik gegen Deutschland ohne jeden Schaden für die innere Lage des Reiches und an jedem Tage in Szene zu setzen möglich ... Östreich bedarf unser, Rußland nicht. Östreich hat in sozialer Beziehung vielleicht von allen Mächten die gesündesten Zustände im Innern, und die Herrschaft des Kaiserhauses steht fest bei jeder einzelnen Nationalität. In betreff Rußlands weiß niemand, welche Eruptionen revolutionärer Elemente im Innern des großen Reiches plötzlich eintreten können.«

Das Gegenteil hatte bisher Bismarck geglaubt oder doch behauptet: Rußland war rocher de bronze gegen die Revolution, Östreich unterhöhlt von den Eifersüchten seiner Stämme, – und nun soll es das Muster eines Reiches, Rußland aber der Herd von Revolten sein? So überredet man sich und den König, doch das wahre Motiv – er wird es noch oft variieren – schimmert schon durch: Östreich ist schwach und braucht uns, das starke Rußland braucht uns nicht, es droht. Bismarck, gewohnt zu herrschen, hat als Minister, d. h. als Verbündete im Kabinett immer Leute bevorzugt, die er regieren konnte – und nun sollte er einen drohenden Zaren als Freund ertragen? Der Anspruch auf Gleichberechtigung, den er weder in der Partei, noch in der Familie, noch im Kollegium ertrug, ist es vor allem, der ihn von dem kühn heranklirrenden Rußland abstößt. Da ist der Ungar ein anderer Mann, immer verbindlich, den mächtigen Deutschen suchend, glücklich, unterm Schutz des Stärkeren zu leben.

– Auf keinen Fall! tönt es vom Kaiser zurück. Jetzt ist er 82, seit 17 Jahren läßt er sich von Bismarck leiten: diesmal scheint er Granit. Warum? Sein Ehrgefühl ist aufgeregt, zugleich das Vermächtnis des Vaters, die Verantwortung des Verwandten, Gewohnheit und Neigung; der russische Neffe hat feierlich und herzlich sich entschuldigt, alles ist ausgelöscht: »Mit dieser Überzeugung im Herzen bin ich Gewissens halber außerstande, auf den Vorschlag des Reichskanzlers einzugehen ... Ich befinde mich in einem schauderhaften Dilemma, aber lieber will ich vom Schauplatz abtreten und die Regierung meinem Sohne übergeben, als daß ich wider meine bessere Überzeugung handle und eine Perfidie gegen Rußland begehe ... Will der Fürst mit dem Grafen Andrassy in eine Besprechung über gewisse Zukunfts-Eventualitäten eintreten, so mag es sein, aber eine Allianz – nein, da gehe ich nicht mit ... Der Fürst hat sich früher selbst dagegen ausgesprochen, daß wir uns durch Allianzen die Hände binden ... und auch gelegentlich Östreich für unzuverlässig erklärt.«

So gut ist das Gedächtnis des alten Herrn, wenn es stört. Bismarcks Antworten bekommen immer größere Linien, man sieht, er ist am Konstruieren: fast scheint es ihm mehr um Überredung des Königs zu tun. Jetzt klagt er über seine erschütterte Gesundheit, daß er solche Friktionen nicht ertrage und abginge, wenn es zum Bündnis nicht käme. »Ich wäre vielleicht imstande gewesen, dem Kaiser noch zu dienen, wenn ich das Glück hätte, daß in entscheidenden politischen Fragen meine Überzeugung mit der S. M. übereinstimmte ... Ich habe die Folgen ähnlicher Friktionen, welche in Nikolsburg und Versailles stattfanden, noch heute in meiner Gesundheit nicht überwunden; heut aber sind meine Kräfte so geschwunden, daß ich an einen Versuch, die Geschäfte unter ähnlichen Bedingungen weiterzuführen, gar nicht denken kann. Am 19. sind es 17 Jahre, daß ich ohne Unterbrechung in diesen und ähnlichen Kämpfen stehe. Ich glaube damit meine Dienstpflicht ... erfüllt zu haben ... Mein amtliches Abschiedsgesuch, also im reichsgesetzlichen Sinne die Erklärung meines Rücktritts aus dem Amte, werde ich, wenn die Situation bis dahin unverändert bleibt, erst in 8 bis 10 Tagen einzureichen haben.«

Nachdem er so die Zündschnur mit Angabe der Zeitdauer dem Kaiser hingelegt hat, wird dieser nur noch wütender und erklärt aufs neue, seinerseits abzudanken, wenn Bismarck auch diesmal mit Abdankung drohe.

So bedrohen die beiden alten Eheleute einander von Berlin nach Gastein und zurück mit Scheidung, wenn der andre nicht nachgäbe. Dabei läßt sich der Kanzler vom Staatssekretär fast täglich die Temperatur der Stimmung drahten, und der Kaiser fragt Hohenlohe: »Der Kanzler ist wohl sehr gereizt auf mich?« Wie wird man nur mit Bismarck fertig, da er jetzt sogar auf eigne Faust die wichtigsten Staatsverträge vorbereitet! Und er schreibt an Bismarck:

»Schwer berührten mich die Worte, daß wir in unserem Verfahren scheinbar eine freundliche Sprache gegen Rußland führen wollten, während wir eine Koalition gegen dasselbe mit Östreich ... abschlössen. Und ein solcher Abschluß schwebt Ihnen bereits so entschieden vor, daß Sie dem Grafen Andrassy Ihr ganzes Projekt nicht nur vortrugen, sondern auch gestatteten, seinem Kaiser von demselben zu sprechen, der auch sofort auf dasselbe eingeht ... Setzen Sie sich einen Augenblick an meine Stelle. Ich stehe vor meinem persönlichen Freunde, meinem Verwandten, Bundesgenossen in guten und bösen Zeiten, um uns über übereilte und sogar mißverstandene Stellen eines Briefes aufzuklären, was zu einem erfreulichen Resultate führt – und nun soll ich gleichzeitig eine feindliche Koalition gegen diesen Souverän schließen, also hinter seinem Rücken anders handeln, als ich sprach? ... Indessen will und darf ich Sie nicht in Ihren bereits getanen Schritten gegen Andrassy und seinen Herrn desavouieren. Sie mögen also in Wien die Eventualitäten einer sich bis zum möglichen Bruche mit Rußland steigernden Disharmonie vorstellen ... Aber zu irgendeinem Abschluß, einer Koalition oder gar Alliance autorisiere ich Sie nach meinem Gewissen nicht ... Ihr treuergebener Wilhelm.«

Zwei Welten halten hier Dialog: das alte Preußen und das neue Reich, Ritter und Diplomat, Gewissen und Klugheit. Aber Mephisto hat stärkere Mittel: Hohenlohe muß aus Paris, Reuß aus Wien, Moltke in Berlin, sämtliche Minister müssen im Kabinettsrat seine Politik unterstützen, eine Demission des ganzen Kabinetts wird angedroht: der Kaiser sieht sich umstellt. Zu bewundern aber ist diesmal weder die Politik Bismarcks noch seine Taktik; nur der alte Kaiser.

Wie Bismarck nach Wien fährt, die Verhandlungen abschließt, bis auf die Unterschrift das Bündnis festmacht, wie er Berlin, Stettin, Baden, die der Kaiser nach und nach aufsucht, trotzig meidet, weil er jetzt den persönlichen Krach fürchten mag; wie der Kaiser Schritt um Schritt seine Ehre doch noch zu wahren sucht, da er seine Politik nicht mehr wahren kann, den Namen Rußland aus dem gegen Rußland geschlossenen Vertrage ausschließen will und schließlich alles verloren gibt: das gleicht einer deutschen Sage.

»Seit vier Wochen, schreibt dann der Besiegte, kämpfe ich gegen eine Stipulierung in Wien, die meinem Ehrgefühl und meiner Pflicht widerstrebten, welchen Kämpfen ich unter der Bedingung endlich nach Erschöpfung aller Gegenvorstellungen gestern nacht nachgegeben habe, daß Rußland die Motive zu dem Schritt im Memorandum mitgeteilt würden. Meine ganze moralische Kraft ist gebrochen! Ich weiß nicht, was aus mir werden soll! Denn der Kaiser Alexander muß mich für wortbrüchig halten, nachdem ich ihm schrieb und sagte, auf Diktat des Fürsten Bismarck, ›de maintenir le legs centenaire de nos pères‹.« Da sitzt er nun, dieser letzte Erbe des Achtzehnten Jahrhunderts, und denkt daran, daß er vor 65 Jahren mit dem Großvater dieses Zaren nach Paris hineingeritten ist, als sie den Großen Napoleon auf seine Insel schickten.

Nun hat er einmal recht, und kann sich doch nicht behaupten! Nicht weil er klarer sähe als sein Minister, sondern weil er, gebannt durch Moral und Tradition, dem Glauben an die dynastische Verwandtschaft mit Rußland angeschmiedet, nicht ohne persönliche Verwundung sich losreißen, weil das Land ohne Gefahr nicht losgerissen werden kann. Weil er uralt ist und sein Geist starrer geworden als seine Glieder, sieht er in diesem Falle die großen Zusammenhänge besser, und niemand hat in späteren Jahrzehnten Bismarcks Entscheidung für Östreich schlagender kritisiert, noch könnte es heute der Nachgeborene, als Wilhelm zur selben Zeit in den Marginalien zu einem Kanzlerbriefe es mit diesen Worten tat:

»Warum sollen wir Östreich gegen Rußland mit unsrer ganzen Macht unterstützen und uns gegen einen Angriff Frankreichs mit einer Neutralität Östreichs begnügen? Was wir für Östreich gegen Rußland tun, muß Östreich für uns gegen Frankreich tun ... Das ist partie inégale!! Der projektierte Vertrag muß Rußland in die Arme Frankreichs treiben, und dieses wird dem Revanchegelüste Genüge tun! Denn eine günstigere Chance kann Frankreich nicht finden, als Östreich und Deutschland zwischen zwei Feuer zu nehmen ... Darum muß das Drei-Kaiser-Bündnis aufrecht erhalten und nicht zerrissen werden durch ein Bündnis à deux ... Das Bekanntwerden oder Vermuten unsres projektierten Vertrages muß Frankreich und Rußland vereinen!«

Jeden dieser Gegengründe hatte Bismarck durchdacht und verworfen. Was ihn dennoch zu dieser größten Wendung seiner Politik bestimmte, scheint mehr durchfühlt als durchrechnet; schon der Ursprung war Gefühl. Was damals Karl Marx schreibt, ist nichts anderes, als was Bismarck selber oben über Gortschakow berichtet hatte: »Das Charakteristischste für Bismarck – schreibt Marx an Engels – ist die Art und Weise, wie er in seinen Gegensatz zu Rußland hineingeriet. Er wollte Gortschakow ab- und Schuwalow einsetzen. Da das fehlschlug, verstand sich's von selbst: Voilà l'ennemi! ... En attendant tut schon der Schwarze Punkt im Osten ihm seinen Dienst: er ist wieder der notwendige Mann ... Das eiserne Militärbudget wird im nächsten Reichstag erneuert werden, es wird vielleicht ›perpetuell‹ gemacht.«

Auch der zweite Grund ist Gefühl: noch nie hatte Bismarck die Volks-Zustimmung als Motiv zu einem Bündnis, ihr Gegenteil als Motiv zur Lockerung eines anderen angeführt; jetzt kehrt sie in allen Äußerungen wieder. In der Tat jubelt Süddeutschland, auch stimmen ihm fast alle Parteien im Reichstage zu, was er voraussah und bei seiner wankenden Mehrheit aus inneren Gründen wünschte. Vollends der dritte Grund steigt ganz aus seinem Charakter empor: »Eine Allianz mit einem Autokraten, sagte er zu Lucius, mit einer halb barbarischen, verhetzten Nation, ist an sich riskant, während die Allianz mit einem schwächeren Staat wie Östreich viele Vorzüge hat«, und ferner: »Wenn ich optieren muß, so werde ich für Östreich optieren: ein konstitutioneller, friedlicher Staat, der unter den Kanonen Deutschlands liegt, während wir Rußland nichts anhaben können.« Wann hatte Bismarck zuvor den Autokraten als Verbündeten gemieden, den Verfassungsstaat gesucht? Seit wann war Östreich friedlicher als Rußland? Autosuggestionen, um sich und anderen die tiefsten Gründe zu verschleiern: ein Verbündeter, der schwächer ist und unter unsern Kanonen, das ist's, was Bismarcks Machtgefühl bevorzugt, vollends, wenn der verbündete Minister sich unterordnet.

Diese Varianten der Empfindung, diese Schatten auf der Seele des Staatsmannes, der nur groß war, wenn er rechnete, haben die große Wendung verursacht, dann gefördert, schließlich entschieden. Schon daß er optierte, war gegen seinen alten Grundsatz; daß er für Östreich optierte, wurde verhängnisvoll. Was er erreichte, war nichts als Schutz gegen eine Macht, die er bisher sich zu verbinden wußte, statt sie von sich zu entfernen. Was er erreichte, war diesmal weniger als er sich vorgesetzt.

Denn statt der bloßen Rückversicherung, die das alte Bündnis der drei Kaiser aufzuheben drohte, ohne ein andres geschaffen zu haben, hatte Bismarck in diesen Wochen ein großes Bündnis mit Östreich gewollt, das den Parlamenten vorliegen, sogar in die Verfassungen beider Länder aufgenommen werden sollte. Auch hier Gefühle als Motore: die Heilung des Zerstörten schwebt vor seiner Phantasie. Vollendung des nicht ganz Gelungenen, Aufrichtung eines größeren Deutschland! War der kalte Rechner der sechziger Jahre jetzt, nach einem halben Menschenalter, etwa verschwunden? War der Gedanke vergessen, der ihn zur Aussperrung jener 8 Millionen Deutscher aus dem Deutschen Reich getrieben, um so viel fremde Völker, um vor allem die Konkurrenz der Habsburger loszuwerden? Die Konkurrenz ist fort, die Völker sind geblieben. Gewiß ist nur, daß Bismarck, der einst Östreichs Kraft gebrochen hatte, nun Östreich suchte, weil es der Schwächere war.

In großen Schicksalskurven kehrt so der Feind zu seinem Opfer heim, verbündet sich dem Gebilde, das er selbst gelockert; er heiratet im Alter eine Frau, die er in der Jugend verlassen. Macht diesen Klügsten der rasche Zugriff seines Partners nicht stutzig? Da kommt Franz Joseph selber, dem er die Hälfte seiner Macht weggenommen, und besucht den Erfinder von Königgrätz nach 13 Jahren in seiner Wohnung in Wien; als aber Bismarck auf seiner Form des Bündnisses beharren will, findet er ein entschlossenes Nein bei seinem Besucher und bei Andrassy. Damals hat er den Deutschen Bund zerstört, jetzt wollen die Geschlagenen seinen Geist nicht wieder beschwören, und wenn Bismarck heute das Schwergewicht des Kontinentes nach Mitteleuropa zurückleiten will, so blickt Östreich lieber nach dem Osten und wird, wenn nötig, sogar nach Westen blicken. Denn für das Elsaß mitzukämpfen, auch dies lehnt Andrassy entschieden ab, und der alte Wilhelm, der von jener Seite Gefahren sieht, darf erstaunt ausrufen: Das ist partie inégale! Zum erstenmal in Bismarcks Leben bringt einer seiner Verträge dem Partner mehr Vorteile als ihm selber.

Denn nun verstärkt sich die antideutsche Stimmung in Petersburg, und wenn sich die Revanche von Paris dort anzuklammern anfängt, vertraut sie auf den westöstlichen Nußknacker, daß er die Nuß in der Mitte leichter zerbricht, wenn eine Hälfte hohl ist. Acht Jahre wird Bismarck brauchen, um diese Gefahr, die er rief, zu beschwichtigen; seine Nachfolger aber werden sie wieder rufen.

Dabei hatte er vor der Option in immer neuen schriftlichen Monologen die Gewichte abgewogen, Rußland die materiell stärkere Verbindung genannt, monarchische Freundschaft, Erhaltungstrieb, Mangel aller Gegensätze sich vorgehalten; ebenso hat er auch später Östreichs Schwächen addiert: »Wandelbare Eindrücke der öffentlichen Meinung in der ungarischen, slawischen und katholischen Bevölkerung ... den Einfluß der Beichtväter der kaiserlichen Familie, die Möglichkeit der Herstellung französischer Beziehungen auf katholischer Grundlage«, endlich die polnische Frage, vor der er noch in den Memoiren warnt, die Frage der Zukunft Polens sei deshalb unter den Vorbedingungen eines deutsch-östreichischen Kriegsbündnisses eine besonders schwierige, und er resümiert: »Absolut sicher für die Dauer war keine der beiden Verbindungen, weder das dynastische Band mit Rußland, noch das populäre ungarisch-deutscher Sympathie«, und der Alpdruck der Koalitionen verläßt ihn nicht: »Wir hoffen und wünschen, schreibt er im Jahre 80, mit Rußland in Frieden zu bleiben; gelingt das aber nicht, weil Rußland uns oder Östreich angreift, so entsteht mit Rußland allein oder mit Rußland im Bunde mit Frankreich und Italien ein Kampf von sehr viel ernsterer Tragweite, in welchem, auch im Falle unseres Sieges, es an jedem begehrenswerten Preise fehlt.«

So steht das Gespenst des Weltkrieges beim Abschluß des östreichischen Bündnisses vor Bismarck. Kein Mann und kein Mittel vermag es zu verscheuchen.

XVI

Bismarcks Option für Östreich war entscheidend: alles, was folgte, folgt daraus, auch der Dreibund; Schwankungen und Krisen interessieren uns heut nach der großen Katastrophe wenig; hat man Gründe und Gegengründe des östreichischen Bündnisses nach den Akten, Motiven und Gefühlen, nach den Charakteren ausführlich dargestellt, so kann man die achtziger Jahre durchfliegen. Bismarck hatte Mitteleuropa wieder errichtet, die Freiheit der Wahl aufgegeben, Rußland sich entfremdet und suchte nun vergebens, sich England zu nähern.

Grade dies Scheitern brachte ihm anfangs Glück: da sich England gegen Frankreich nicht festlegen ließ, fühlte sich Englands Gegner, der Zar, zu den deutschen Mächten hingezogen. Der neue Drei-Kaiser-Bund teilte vor allem die Balkaninteressen ab, der Zar war frei, im Osten gegen England zu operieren, Bismarck hielt ihn durch diese Chance vom Abschluß mit Frankreich noch zurück. Das Bündnis von 81 wurde 84 erneuert; dazwischen ward mit Östreich und Italien der Dreibund geschlossen, der auch Italien von Frankreich abziehen sollte, wenn auch Bismarck von Italiens Hilfe sich nicht mehr versprach, »als daß ein italienischer Trommler mit der Trikolore auf dem Alpenkamm erschiene«. Daß einer seiner beiden Bundesgenossen Todfeind des andern war, wußte er, glaubte es aber zu überwinden.

Keiner dieser Versuche schien ihm entscheidend, alle hatten nur den gemeinsamen Zweck, den Frieden zu sichern. Auch in den Krisen der achtziger Jahre hat Bismarck wie im vergangenen Jahrzehnt niemals den Krieg gewollt, den Frieden aber zwei- oder dreimal erzwungen. Im Rückblick zählt er nochmals alle jene Fragen auf, die das Habsburger Reich unterhöhlten: Völkermischung, römische Einflüsse, Panslavismus, Bosnien, Serbien, die polnische, tschechische, trentiner Frage, und sagt voraus, sie alle »können zu Kristallisationspunkten, nicht bloß für östreichische, sondern auch europäische Krisen werden, von denen die deutschen Interessen nur soweit nachweislich berührt werden, als das Deutsche Reich mit Östreich in ein solidarisches Haftverhältnis tritt ... Es wäre unweise, den Dreibund als sichere Grundlage für alle bösen Zeiten betrachten zu wollen.« Jeden Anspruch Östreichs auf deutsche Hilfe am Balkan hat Bismarck erst beim Abschluß, dann immer wieder im Laufe der Jahre abgelehnt, jeden Abbruch mit Rußland hat er vermieden: nur unter diesen beiden Voraussetzungen war der Dreibund möglich, so lange Bismarck ihn führte. Seine Erben werden dann an die Stelle des lebensgefährlichen Bündnisses die tödliche Nibelungentreue setzen.

Wie Bismarck in der Krisis vor dem Weltkriege gehandelt hätte, läßt sich aus seiner Haltung in den Krisen der achtziger Jahre ziemlich genau erweisen. Als im Jahre 85 das Drei-Kaiser-Bündnis über der bulgarischen Frage in die Brüche ging, Bismarck mit Östreich, Italien, Rumänien verbündet dasteht, die Russen den Battenberger vertreiben und Bulgarien allein regieren wollen, fordern die Wiener plötzlich von Deutschland Hilfe in ihren Balkansorgen. Mit Entschiedenheit sagt Bismarck Nein: nur der Besitzstand sei geschützt, jede Erweiterung gehe auf eigne Rechnung und Gefahr! »Jedem aggressiven Verhalten oder jeder vertragswidrigen Provokation Rußlands gegenüber werden wir Östreich mit voller Macht zur Seite stehen; wenn aber der Krieg mit Rußland dadurch herbeigeführt werden sollte, daß Östreich ohne vorgängliche vertragliche Verständigung in Serbien einrückt, so würden wir einen solchen Fall vor Deutschland als Anlaß zu einem deutsch-russischen Kriege nicht vertreten können.« Vision Juli 1914.

Diese Krisen erneuern seine Unruhe. Zum Kriegsminister sagt er das Kämpferwort: »Wenn wir das Geld für die neuen Rüstungen nicht bekommen, so werde ich es stehlen und dann im Zuchthause ruhiger schlafen als jetzt!«

Inzwischen ist der Zar Anfang 81 ermordet worden, sein Sohn ist schwerer zugänglich, aber nicht antideutsch. Da er das Drei-Kaiser-Bündnis nicht erneuern läßt, dreht Bismarck von neuem die Front und sucht Anfang 87 ein russisches Bündnis. Ja, jetzt, acht Jahre nach dem östreichischen, ist er bereit, wieder stärker mit Rußland zu gehen; aber die Popularität des östreichischen Bündnisses, das ja bestehen bleibt, darf er nicht auslöschen, und wenn er es dürfte, er könnte es nicht: der deutsche Wunsch, mit Deutschen vereint zu sein, ist ein zu natürliches Gefühl, um der Erwägung Raum zu lassen, daß eben nur ein kleiner Teil der Monarchie deutsch, daß aber die meisten Bürger und Soldaten Fremde sind und uns nicht wohlgesinnter als drüben die Franzosen.

Indessen ist Schuwalow endlich Herr der östlichen Politik geworden und erklärt: wenn der Zar die Meerengen haben kann, so mag Bismarck einen preußischen Gouverneur nach Paris entsenden. Diesem neuen Vertrage eifert Bismarck jetzt nach, wie Andrassy vor 8 Jahren dem deutschen: Rückversicherungen waren es beide, aber mit sehr verschiedenen Zielen. Dieser neue russische sollte Bismarck gegen Frankreich schützen.

Nur schützen. Frankreich als Großmacht auch nur zu schwächen, war seine Absicht nie; er rechnet vielmehr schon mit der Möglichkeit eines Gladstoneschen englisch-russischen Bündnisses, das uns auf Frankreich direkt hinwiese, und will sich eine der beiden großen Mächte auf alle Fälle sichern. Aber auch »wenn wir von Frankreich angegriffen würden, so würden wir doch nicht an die Möglichkeit glauben, eine Nation von 40 Millionen Europäern von der Begabung und dem Selbstgefühl der Franzosen vernichten zu können. Es ist das drei großen Reichen im Osten seit hundert Jahren nicht einmal mit der im Vergleich zur französischen so unbedeutenden polnischen Nationalität gelungen ... Wenn aber Frankreich jedenfalls stark bleibt oder nach kurzer Erholung wieder wird, so daß wir mit seiner Nachbarschaft stets zu rechnen haben, so wird sich im nächsten Kriege, wenn wir siegen, eine schonende Behandlung empfehlen, grade wie Östreich gegenüber 1866. Wenn ich im Reichstage anders gesprochen habe, so geschah es, um vom Kriege abzuschrecken. Gelingt letzteres nicht, so würden wir, nach der ersten gewonnenen Schlacht, unter günstigen Bedingungen Frankreich den Frieden bieten. Würden wir geschlagen, so läßt sich kaum annehmen, daß der russischen Politik das geographische Näherrücken der siegreichen französischen Republik sehr willkommen sein könnte.«

Wieder rückt die Kriegsgefahr nahe, im Mai 87, für Bismarck die rechte Zeit, um Schuwalow zum Abschluß zu drängen; und jetzt macht der alte Zauberer einen seiner Überraschungs-Coups: er legt dem Russen sein geheimes antirussisches Bündnis mit Östreich vom Jahre 79 vor! Da sieht der Russe schwarz auf weiß, daß sein Partner gesonnen ist, sich vor einem Verbündeten immer durch den andern zusichern, und so tut er bei diesem Spiele lieber zu seinen Gunsten mit, als daß er es aus Moralität verdürbe; auch ist Alexander III. jünger und kälter als Wilhelm I., der sein Versprechen durchaus nicht brechen wollte. Schuwalow erkauft sich so Bismarcks Ermächtigung zum Zug nach dem Bosporus und nach Bulgarien, wogegen er ihm die unschätzbare Neutralität Rußlands bei einem französischen Angriffe verspricht.

Nun hat Bismarck endlich wieder, wie ehedem, einen Vertrag nach seiner Façon in der Tasche, der ihm soviel nutzt als dem Kontrahenten. Doch auch der Russe kann zufrieden sein: er hat das Versprechen des Deutschen, den status quo auf dem Balkan, also auch gegen Östreich, mit ihm zu erhalten; noch mehr: er braucht jetzt Deutschlands Konspiration mit Östreich nicht mehr zu fürchten, denn wenn dieses ihn angreift, wird Deutschland wohlwollend zusehen. Livadia ist vergessen, und was kann nicht alles wider Östreich entschieden werden, denn niemand kann im praktischen Moment entscheiden, welcher von beiden Seiten der ›Angreifer‹ war!

Diese komische Basis aller Bündnisverträge Europas, wiederkehrend in den Floskeln »unprovoziert, Eroberer, Defensive« hat ihnen allen die praktische Eindeutigkeit, ihre Heimlichkeit hat ihnen zugleich die moralische Schwerkraft genommen. Die Doppelzüngigkeit dieses Systems, mit dem Bismarck sich vor Wiener Ränken durch Petersburger Pflichten, vor Moskauer Tücke durch Wiener Furcht zu sichern suchte, war damals nicht schlechter als der Fond aller Geheimverträge in Europa. Bismarck sah aber den Vorwurf voraus und schrieb sich damals auf:

»Im Gegenteil glaube ich, daß der Kaiser von Östreich einen solchen Abschluß wünscht. Selbst wenn ich mich darin irren sollte, ... würde der Effekt eines östreichischen Mißtrauens weniger gefährlich sein als ein solches des Kaisers Alexander, weil unsre Beziehungen zu Östreich doch auf zu breiter Basis beruhen, um durch vorübergehende Soupçons eines argwöhnischen Souveräns umgeworfen zu werden ... Es schadet uns auch gar nichts, wenn die Sache von Rußland ebruiert wird; im Gegenteil, ich möchte es wünschen. Einmal glaube ich nicht daran, daß der Kaiser von Östreich dadurch beunruhigt werde ... Er wird dann wissen, daß wir nur für drei Jahre das russisch-französische Bündnis aus der Welt schaffen wollen.«

Ein Meisterschüler Machiavells hat diese Zeilen geschrieben. Seine Absicht war, die beiden ruhelosen Nachbarn in ihrer Konkurrenz durch Furcht vor dem mächtigen Dritten zu paralysieren, die beiden Wappentiere auseinander zu halten, und er hat auch gleich darauf, bei Wahl des Koburgers zum Fürsten von Bulgarien, Gelegenheit, den »Kriegsfall« im Sinne seiner Bündnisse dem Angegriffenen auszureden. Wie aber, wenn es herauskommt? Um so besser! Dann sieht Franz Joseph, daß man ihm nur auf drei Jahre mißtraut hat! Dem russischen Souverän aber, den Bismarck souverän behandelt, sagt er in einem letzten, lange vorbereiteten Gespräche, wir müßten sehr wenig Respekt vor Rußlands furchtbaren Heeren haben, wenn wir uns nicht gegen die mögliche Gefahr des Panslavismus beizeiten rüsteten.

So hat Bismarck auf den zwei Folioseiten des russischen Vertrages vier Gefahren auf einmal, wo nicht getilgt, so doch auf ein paar Jahre verschoben: Rußland, nach Byzanz strebend, entlastet unsere Ostgrenzen, Östreich wird vor Balkan-Abenteuern gewarnt, Frankreich von Rußland stärker abgetrennt, England aber wird beunruhigt und uns angenähert: ein Schachspiel höchsten Ranges am Ende der Epoche, in der die Völker Schach mit sich spielen ließen.

Denn England zu gewinnen, ist der letzte Wunsch Bismarcks gewesen; er nennt es einmal sein Hauptbestreben im letzten amtlichen Jahrzehnte. Schon durch den »Orientalischen Dreibund«, den er damals erfunden oder entscheidend gefördert hat, hat er England an den Dreibund anzunähern versucht, denn hier garantierten sich England, Italien, Östreich den Status quo im Mittelmeer. Um aber England selbst in ein Bündnis zu fangen, dafür erschien ihm schon im Jahre 82 als die größte Schwierigkeit »die Unmöglichkeit jeder vertraulichen Besprechung wegen der Indiskretion der Minister dem Parlament gegenüber; ferner der Mangel an Sicherheit eines Bündnisses, für welches in England nicht die Krone, sondern nur eines der wechselnden Kabinette haftbar bleiben würde. Es ist schwer, zuverlässige Verständigung mit England anders als in voller Öffentlichkeit vor ganz Europa einzuleiten und sicherzustellen.« In diesen Zeilen an den Kronprinzen Friedrich wollte er ihm die Nachteile demokratischer Regierung darstellen; freilich mußte eine Politik der Öffentlichkeit Bismarck zuwider sein, und wäre er in seiner auswärtigen Politik genötigt worden, »Indiskretionen« gegen das Parlament zu begehen, so hätte er sie nicht weitergeführt.

So oft er im Laufe der achtziger Jahre und vorher sich England nähert, nimmt er, mit jener Kunst der Einfühlung, die Staatsmann und Dichter gemein haben, das sachliche, langsame Tempo an, das England mit dem Vatikan in der Taktik verbindet; nie ist Bismarck vorsichtiger gewesen, denn schon vor 30 Jahren hatte er geschrieben, er habe für England eine Schwäche, »aber diese Leute wollen sich ja von uns nicht lieben lassen«. Als er während des Kampfes mit dem Kaiser im Herbst 79 das östreichische Bündnis noch nicht gesichert sah, ließ er in London schon anfragen, tat aber gleich darauf wieder, als interessiere ihn die Antwort kaum; ohnehin lähmte ihn damals das Ministerium Gladstone.

Als Salisbury im Jahre 85 wieder zur Macht kam, war Bismarck dabei, sich ein paar Fetzen von Afrika zu sichern; wie er das ohne Flotte fertig brachte, zumindest ohne Kanonenschuß, das ist eines seiner »Spiele mit fünf Bällen« gewesen, das im einzelnen darzustellen seine allgemeine Zurückhaltung und die Überlebtheit des kolonialen Welt-Intervalles überflüssig machen. Als Staatsmann ist er in diesen Kämpfen groß, weil er den Drang seines jungen Reiches nach Expansion durch die Sorge um seine Lage zähmte. Deutschland als ein Weltreich mit England in Konkurrenz zu setzen, ist Bismarck niemals eingefallen, teils, weil er die kolonialen Gaben der Engländer, vor allem, weil er ihre geographische Lage günstiger einschätzte; beides hat er ausgesprochen. Das Grundgefühl, das nach Aufrichtung des Reiches seine ganze äußere Politik durch 20 Jahre beherrschte, war nicht: mehr Land, sondern: mehr Sicherheit! Diese beständige Sorge um Erhaltung der neuen Großmacht trotz ihrer ungünstigen Lage hat seinen Stolz immer überschattet. Während er Frankreich bei Gründung eines großen Kolonialreiches ermutigte, schon um dessen Ehrgeiz vom Elsaß abzuziehen, glaubte er die volle Unterstützung des Reiches den deutschen Pionieren versagen oder nur vorsichtig erzeigen zu dürfen. Und wie er niemals zum Vergnügen weiße Stämme annektiert hat, so hat er Deutschland auch von farbigen zurückgehalten, da ihre Erwerbung dem Reiche vielleicht einigen Nutzen, sicher große Gefahren bringen konnte. Deutschlands Zukunft lag, nach Bismarck, niemals auf dem Wasser.

»Das Risiko ist mir zu groß, sagte er in der Emin-Pascha-Frage zu einem Afrikander. Ihre Karte von Afrika ist ja sehr schön, aber meine Karte von Afrika liegt in Europa. Hier Rußland, dort Frankreich, wir in der Mitte: das ist meine Karte von Afrika.« Trotzdem war in den achtziger Jahren seine persönliche Autorität in Europa so groß, daß er beim ersten Einspruch Englands gegen Erwerb von Südwest-Afrika dem englischen Kollegen diese stolzen Worte sagen ließ:

»Wenn wir wirklich Absichten hätten, Kolonien einzurichten, wie kann Lord Granville unser Recht dazu bestreiten in dem Augenblicke, wo die englische Regierung die Ausübung desselben Rechtes der Kolonialregierung am Kap anheimstellt! Es liegt in dieser Naivität des Egoismus eine Verletzung unsres Nationalgefühls, auf die E. E. Lord Granville aufmerksam machen wollen ... Wir wären begierig, zu erfahren, weshalb das Recht zu kolonisieren, welches England in weitestem Maße ausübt, uns versagt sein sollte ... Das Vertrauen bei uns wird erschüttert durch die Überhebung, welche in der Aufstellung von Theorien und Ansprüchen liegt, die mit dem Prinzip der Gleichheit unabhängiger Mächte sich nicht in Einklang bringen lassen.«

Als sich indessen die Gesamtlage Europas, vor allem Deutschlands, verdunkelte, als der Kaiser Neunzig und der Kronprinz im Sterben war, Ende 87, faßte Bismarck die Gedanken längerer Pourparlers zusammen, die sein Botschafter und sein Sohn mit den Engländern gepflogen: er schrieb an Salisbury einen französischen Brief, den Grundriß der deutschen Bündnispolitik, zugleich den Wink an England enthaltend, mit uns zu gehen:

»Mit einem Heere, wie dem unsrigen, welches sich ohne Unterschied aus allen Klassen der Bevölkerung zusammensetzt, ... sind die Kriege der verflossenen Jahrhunderte, welche die Folgen von dynastischen Stimmungen und Verstimmungen oder monarchischem Ehrgeiz waren, nicht mehr zu führen ... Daraus folgt, daß unsere militärische Autorität in erster Linie defensiver Natur und nur bestimmt ist, in Bewegung gesetzt zu werden, wenn die Nation die Überzeugung gewonnen hat, daß es sich um die Abwehr eines Angriffs handelt ... Das Deutsche Reich ... darf die Frage der Koalitionen nicht aus den Augen lassen, die sich gegen dasselbe bilden könnten. Nehmen wir an, daß Östreich besiegt, geschwächt oder uns feindlich gesinnt wäre, so würden wir auf dem europäischen Kontinent isoliert dastehen, in Gegenwart von Rußland und Frankreich und angesichts einer Koalition dieser beiden Mächte ... Östreich, ebenso wie Deutschland und das heutige England, gehört zu der Zahl der Zufriedenen, Saturierten ... und folglich friedliebenden und erhaltenden Mächte. Östreich und England haben in aufrichtiger Weise den Status quo des Deutschen Reiches anerkannt und haben kein Interesse, dasselbe geschwächt zu sehen. Frankreich und Rußland dagegen scheinen uns zu bedrohen ..

»Solange wir aber nicht die Gewißheit haben, von denjenigen Mächten, deren Interessen mit den unsrigen identisch sind, im Stich gelassen zu werden, wird kein deutscher Kaiser eine andre Politik befolgen können, als diejenige, die Unabhängigkeit der befreundeten Mächte zu verteidigen, welche wie wir mit der gegenwärtigen politischen Lage in Europa zufrieden ... sind. Wir werden also einen russischen Krieg vermeiden, solange es mit unsrer Ehre und unsrer Sicherheit vereinbar ist, und solange die Unabhängigkeit Östreich-Ungarns, dessen Bestand als Großmacht für uns eine Notwendigkeit allerersten Ranges ist, nicht in Frage gestellt wird. Wir wünschen, daß die befreundeten Mächte, welche im Orient Interessen zu schützen haben, die nicht die unsrigen sind, durch ihren Zusammenschluß und durch ihre Streitkräfte sich stark genug machen, um das russische Schwert in der Scheide zu halten, oder um demselben Widerstand leisten zu können, falls die Umstände zu einem Bruche führen sollten. Solange kein deutsches Interesse dabei auf dem Spiele stände, würden wir neutral bleiben; aber unmöglich ist die Annahme, daß jemals ein deutscher Kaiser Rußland die Unterstützung seiner Waffen leihen könnte, um ihm zu helfen, diejenigen Mächte niederzuwerfen oder zu: schwächen, auf deren Beistand wir rechnen.«

Salisbury, dem Bismarck in diesen Jahren das Bündnis wiederholt nahelegen ließ, wollte sich nicht binden lassen; das deutsche Ziel hinderte ihn am Bündnis: gegen Rußland war er bereit, nicht gegen Frankreich. So vertagte er die Frage und zog sich Herbert Bismarck gegenüber in die sauersüße Erwägung zurück:

»Leider leben wir nicht mehr in den Zeiten der Pitts; damals regierte die Aristokratie, und wir konnten eine aktive Politik treiben, welche England nach dem Wiener Kongreß zur reichsten und angesehensten europäischen Macht erhoben hatte. Jetzt herrscht die Demokratie, und mit ihr ist das Parteiregiment eingezogen, welches jede englische Regierung in unbedingte Abhängigkeit von der aura popularis gebracht hat. Diese Generation kann nur durch Ereignisse erzogen werden.«

XVII

»Solange meine Kraft reicht, fechte ich!« So rief der 72jährige Kanzler drohend dem Reichstag zu, der ihn bekämpfte.

Mit zweien seiner Feinde hatte er Frieden gemacht: allmählich mit dem Zentrum, gegen das er die meisten Maßnahmen zurücknahm und mit der galanten Warnung im Reichstage schloß: »Wir wollen die Waffen auf den Fechtboden niederlegen, weggeben wollen wir sie nicht.« Schon im Winter 79 war Windthorst zum ersten Male wieder auf Bismarcks Soirée erschienen, mit Zuvorkommenheit empfangen; zugleich hatte der neue Papst dem Kaiser und auch Bismarck geschrieben, den neuen Luther einige Jahre später zum Christusritter ernannt, der Große Orden mit Kreuz und Malteserzeichen trug eine lateinische Inschrift, Bismarck schmunzelte, und der Kladderadatsch meldete: »Puttkamer ist nach Rom abgereist, den Heiligen Vater bei seinem großen Einfluß auf Bismarck um Vermittlung zu bestimmen, daß er seine neue Orthographie genehmige.«

Ebenso innerlich grundlos und nichts-als-opportun, übrigens im ursächlichen Zusammenhange, war der Ausgleich mit den Konservativen gekommen: da sie aus den Wahlen vom Jahre 77 vermehrt, die Nationalliberalen vermindert hervorgingen, begünstigte Bismarck die Spaltung beider Parteien; jetzt den zahmeren Bennigsen ins Kabinett zu nehmen, um den scharfen Lasker zu vereinsamen, war sein Wunsch. Bennigsen aber, im richtigen Vorgefühl, doch nur verbraucht zu werden, will seine Stellung nicht gefährden und fordert den Eintritt zweier Parteigenossen ins Kabinett; kaum ist das Projekt darüber gefallen, so gibt Bismarck denselben Bennigsen preis, den er eben als Kollegen berufen wollte: »Mit unfähigen Politikern wie Bennigsen und Miquel, die auf den Wink der öffentlichen Meinung horchen, kann ich nichts machen, das sind Karlchen-Miesnick-Tertianer!«

Bismarcks Rückkehr zur Partei seiner Jugend wurde damals veranlaßt oder beschleunigt durch den Schutzzoll, den er im Jahre 79, nach 14 jährigem Freihandel, wieder aufnahm; er war ihm nur ein Mittel mehr zur Stärkung der Staatsmacht. Die Eisenbahnen in die Hand des Reiches zu bringen, den Besitz durch indirekte Steuern zu entlasten, schien ihm zur Festigung des Reichsgedankens nützlich; sei sehr war er auf neue Steuern aus, daß er mit Bedauern von einem Überschuß von 39 Millionen aus der Kriegsentschädigung hörte, denn »für die Regierung ist es besser, Mangel an Mitteln zu haben, um neue Steuern durchzusetzen.« Daß diese Steuern den vierten Stand vor allem bedrückten, hindert ihn nicht, die »Luxusartikel der großen Masse«: Tabak, Bier, Zucker, Kaffee, Petroleum zu besteuern. Schutz der Industrie und Landwirtschaft: so hallte es zum ersten Male durch das Deutsche Reich. Bismarcks Begründung war typisch:

»Der Freihandel ist ein Ideal, welches deutscher, ehrlicher Schwärmerei ganz würdig ist; es mag auch erreichbar sein in künftigen Zeiten. In allen diesen Fragen halte ich von der Wissenschaft grade so viel wie in anderen Beurteilungen organischer Bildungen. Die ärztliche Wissenschaft hat diese Rätsel nicht gelöst ... So ist es auch mit denen des Staates. Die abstrakten Lehren der Wissenschaft lassen mich vollständig kalt, ich urteile nach der Erfahrung, die wir erleben ... Nach meinem Gefühl sind wir, nachdem wir unsere Tarife zu tief heruntergesetzt haben ... in einem Verblutungsprozeß begriffen ... Wir müssen dem deutschen Körper wieder Blut zuführen.«

Noch immer heißt es »mein Gefühl«, wie vor 25 Jahren: Erfahrung gegen Wissenschaft, noch immer wird das Geistige als Schwärmerei verspottet. In Wahrheit will Bismarck vom Budgetrecht des Reichstages loskommen, heut wie damals, durch Besteuerung des Einkommens möglichst viel Geld für das Reich gewinnen: ein konservatives Programm.

Zwei Jahre später gab das Volk die Antwort: über 100 Freisinnige, 100 Zentrum wurden gewählt, beide gegen die neue Wirtschaft: keine Mehrheit für den Kanzler! »Diese Wahlen, schreibt damals Gustav Freytag vertraulich, sind für ihn, für unser Volk und das Ausland ein Symptom, daß die Herrschaft des Einen, welcher der Nation sein Bild und Gepräge aufgezwungen hat, nicht unbedingt ist und ihrem Ende naht ... Seine Künste haben viel von ihrer Wirkung verloren; man kennt jetzt ziemlich genau die Mischung von Löwe, Wolf und Fuchs, welche in der Seele dieses dramatischen Charakters vereint sind. Spät und langsam erkennen die Deutschen, daß der Mann, dem sie nach deutscher Art alles Große und Gute angedichtet haben, nicht alle Eigenschaften eines Biedermannes besitzt ... Es wird Zeit, daß er zurückgetreten wird, aber er ist so groß und dick und klug.«

In solcher Stimmung erneuert sich, zehn Jahre nach der Reichsgründung, zwanzig Jahre nach dem Konflikte, Bismarcks Kampf gegen die Majorität der Nation. Von einer Vorlage zur andern muß er sich neue Mehrheiten konstruieren, ein wandelbares System von Bündnissen: ganz wie in der äußeren Politik. Da schleudert er jeder Opposition seinen besten Fluch entgegen: Zentrum, Elsässer, Polen, Sozialisten, alles Reichsfeinde! Hört man ihn jetzt von der Tribüne, der Kämpfer scheint verjüngt. Im Jahre 80: »Ich habe gelebt und geliebt, gefochten auch, und ich habe keine Abneigung mehr gegen ein ruhiges Leben. Das einzige, was mich in meiner Stellung hält, ist der Wille des Kaisers, den ich in seinem hohen Alter nicht habe verlassen können.« Ein Jahr später, nach den feindlichen Wahlen: »Ich werde auf der Bresche sterben, so Gott will, vielleicht auf dieser Stelle dermaleinst, wenn ich nicht mehr leben kann. Ein braves Pferd stirbt in den Sielen. Ich hatte früher die Absicht zurückzutreten ... Ich halte es für nützlich, zu konstatieren, von dieser Velleität ganz zurückgekommen zu sein: J'y suis, j'y reste! ... Des Kaisers Wille ist das einzige, was mich aus dem Sattel heben wird. Es hat viel zu meiner Überzeugung auszuhalten beigetragen, daß ich gesehen habe, wer sich eigentlich freut, wenn ich zurücktrete ... Da habe ich beschlossen, solange ein Faden an mir ist, will ich dem Vaterlande dienen.«

Wieder ein Jahr darauf: »Was fesselt mich denn überhaupt noch an diesen Platz, wenn es nicht das Gefühl der Diensttreue ... ist? Viel Vergnügen ist nicht dabei. Ich habe in früheren Zeiten meinen Dienst gern und mit Passion und mit Hoffnung getan, die Hoffnungen haben sich großenteils nicht verwirklicht. Ich war damals gesund, ich bin jetzt krank, ich war jung, ich bin jetzt alt. Und was hält mich hier? Ist es denn ein Vergnügen, hier zu stehen wie der Auff vor der Krähenhütte, nach dem die Vögel stoßen und stechen, und der außerstande ist, sich frei zu wehren gegen persönliche Injurien und Verhöhnungen? ... Und wenn mich der König heut in Gnaden entlassen würde, so würde ich von Ihnen, meine Herren, mit Vergnügen und auf Nimmerwiedersehn Abschied nehmen!«

So werfen seine Stimmungen Haß und Zorn an den Strand, in großartigen Wort-Kaskaden brechen sich die Wellen. Das ist Bismarck, der ohne Schmuck und ohne den Willen zum Pathos in seinen langen, bewaffneten Sätzen, mit zornigem Blick und der Gebärde des Beleidigten seine Hörer für ein paar Augenblicke außer Atem setzt, und wenn er nun die Aktenmappe nimmt und geht und dreht der Versammlung den riesigen Rücken zu, und man sieht nur noch den gelben Kragen am blauen Waffenrock in der Tür verschwinden, dann ist mit dem Haß auch der Respekt seiner Feinde, doch zugleich ist seine eigene Verachtung gewachsen.

Zuweilen wird er auf seine Art rhapsodisch, dann klingen seine Worte wie Mahnungen des Propheten oder wie ironische Entsagung: »Ich kann nicht leugnen, sagt er im Reichstag, daß die Analogie unserer deutschen Geschichte mit der deutschen Göttersage in den letzten 20 Jahren mich ununterbrochen gequält hat. Der Völkerfrühling hielt nur wenige Jahre nach dem großen Siege vor ... Dann kam, was ich unter dem Begriff Loki verstehe: der alte deutsche Erbfeind, der Parteihader, der in dynastischen und konstitutionellen, in Stammesverschiedenheiten und Fraktionskämpfen seine Nahrung findet, der übertrug sich auf unser öffentliches Leben ... Und der Parteigeist, wenn er mit seiner Loki-Stimme den Urwähler Hödur verleitet, daß er das eigene Vaterland erschlage, er ist es, den ich anklage vor Gott und der Geschichte, wenn das ganze herrliche Werk unserer Nation von 66 bis 70 wieder in Verfall gerät ... In unserer Jugend ist ein ganz anderer nationaler Schwung, ist eine großartigere Auffassung des politischen Lebens als in allen meinen Altersgenossen, die durch die Jahre 47-48 mit dem Parteistempel notwendig hindurchgegangen sind und den nicht von ihrer Haut abwaschen können. Lassen Sie uns einmal erst alle sterben: dann sollen Sie sehen, wie Deutschland in Flor kommen wird!«

In den Wahlen von 81 hatten sich unterm Ausnahmegesetz auch die Sozialdemokraten verstärkt. Unter dem Kampfminister Puttkamer wurden die Hauptstädte wieder belagert, in Leipzig die Führer wegen verbotener Zeitungen zu Zuchthaus verurteilt; doch zugleich wurde das Versprechen verwirklicht, man wolle den Arbeitern auch helfen. Das Unfall-Gesetz, das diese Maßnahmen eröffnet, und das der regierungsfreundliche Bamberger chimärisch nannte, gefolgt vom Kranken-Versicherungs-Gesetz, dann im Jahre 88 das Alters- und Invaliditäts-Gesetz: lauter Schritte auf dem Wege jenes Staats-Sozialismus, den Bismarck schon im Verkehr mit Lassalle gewittert hatte.

Der Einfall war nicht der seine, Napoleon der Dritte, »König Stumm« und andere hatten es vorgemacht, aber Bismarck faßte die Initiative für das Deutsche Reich. »Man muß realisieren, was in den sozialistischen Forderungen gerecht erscheint und im Rahmen der gegenwärtigen Staatsordnung verwirklicht werden kann.« Das entwirft er schon im Jahre 71 dem Handelsminister; zehn Jahre später sagt er wahrhaft prophetisch zu Busch: »Der am leichtesten Geld aufbringen kann: der Staat muß die Sache in die Hand nehmen. Nicht als Almosen, sondern als Recht auf Unterstützung, wo der gute Wille zur Arbeit nicht mehr kann. Warum soll nur der, der im Kriege oder als Beamter erwerbsunfähig geworden ist, Pension haben, nicht auch der Soldat der Arbeit? Diese Sache wird sich durchdrücken, sie hat ihre Zukunft. Es ist möglich, daß unsere Politik einmal zugrunde geht; aber der Staats-Sozialismus haut sich durch. Jeder, der diesen Gedanken wieder aufnimmt, wird ans Ruder kommen.«

So klar sieht Bismarck plötzlich in die Zukunft, wenn er einmal platonisch gestimmt ist; deckt er aber seine Motive auf, so sind es nur die alten Rechnungen, Zahlen, die niemals grausamer klingen, als wenn sie vertraulich sein »praktisches Christentum« begründen: »Wer eine Pension hat für sein Alter, der ist viel zufriedener und leichter zu behandeln. Sehen Sie den Unterschied zwischen einem Privatdiener und einem Kanzleidiener oder Hofbedienten: der muß sich viel mehr bieten lassen als jener, denn er hat ja Pension zu erwarten ... Die Zufriedenheit der Enterbten ist auch mit einer großen Summe nicht zu teuer erkauft ... Eine gute Anlage des Geldes, auch für uns: wir beugen damit einer Revolution vor, die ... ganz andere Summen verschlingen würde.« Nach diesen Zynismen heißt es aber auf der Tribüne: »Auch der Ärmste soll das Gefühl menschlicher Würde ...«

Weil er den Sinn der Bewegung ganz verkennt, erreicht Bismarck nichts mit seinem Regime: in die Millionen wachsen die roten Stimmzettel. Dazu wird auch noch von einer Wahl zur anderen während dieser christlichen Maßregeln das Ausnahmegesetz erneuert; im Jahre 87 wird die Vorlage so verschärft, daß allen Verurteilten die Staatsangehörigkeit entzogen werden kann; eine Ächtung, die der Reichstag ablehnt.

Unter solchen Kämpfen im Innern, Konflikten nach außen, wird Kaiser Wilhelm 90 Jahre alt. Die Grenze des Lebens scheint nun so nahe, daß alles sich in den Märztagen 87, während des Festes fragt: wie lange noch, und was wird folgen? Da flüstert ein Hofgerücht, der Thronfolger sei krank, beim Geburtstag habe er heiser gesprochen. Zwei Monate später weiß es alle Welt: dem Greis wird ein Jüngling folgen.

Bismarcks Pulse beschleunigen sich: er wittert eine Entscheidung des Schicksals wie nie seit Neujahr 61,als der letzte König starb. Jetzt fragt Europa nach jeder Ausfahrt des Uralten, niemand traut sich mehr, ein Bündnis zu erneuern, Mißtrauen, Furcht und Vorurteil lockern das kunstvolle Geflecht des Kanzlers; Salisbury fragt, ob nicht der junge Prinz bei seiner Neigung zu Rußland englandfeindlich wäre, der Zar aber läßt sich von dem Prinzen Geheimnisse gegen England anvertrauen. Als Alexander Ende 87 nach Berlin kommt, ist die Stimmung ungewiß. Krieg steht bevor.

Bismarck setzt dem königlichen Greise einen Leitfaden auf für seine Unterhaltung mit dem Zaren, des Inhalts: der nächste Krieg wird zwischen Revolution und Monarchie entscheiden; siegt Frankreich, so wird Deutschland der Revolution näher geführt; ob der Zar aller Reußen dies wolle, und durch seinen Bund mit Frankreich die Monarchien des Ostens bedrohen mag? Zerfällt dabei Östreich, so bilden sich an seiner Stelle Republiken, auch auf dem Balkan; so kann Rußland nur verliefen. Auch soll ein Monarch jeden Krieg schon deshalb vermeiden, weil heutzutage die Völker ihre Herren für Niederlagen verantwortlich machen, wie im Jahre 70 geschehen: sogar in Deutschland würden nach einer Niederlage die Aussichten der Republik sich steigern, die französischen Anarchisten würden sich den deutschen Sozialisten und der russischen Revolution verbünden. Heut gibt es keinen Kabinettskrieg mehr, nur noch die Rote Fahne gegen die Ordnung!

Tagelang memoriert der Greis diese Sätze, die Bismarck auf seine und auf des Zaren Gedankenwelt abgestimmt hat. Nachts aber schreckt den Alten ein Traum, in dem der Zar, von niemand empfangen, auf dem Bahnhof gestanden; diesen Traum erzählt er immer wieder. Schließlich aber sitzen die Kaiser friedlich zusammen, versichern sich ihrer Freundschaft wie die Minister, die einen Vertrag geschlossen haben.

Aber die Schatten wachsen, und wer besitzt, der muß gerüstet sein. Jetzt, wo sich die Epoche Wilhelms des Ersten sichtbar dem Ende nähert, kehrt sein Lehensmann zu seinen Anfängen zurück: den Schild zu halten und zu stärken, war seine erste Tat für den König; es wird seine letzte sein. Wieder wie Anno 62 kämpft er um den Heeresetat, wieder schickt er das Parlament nach Hause, erzwingt günstigere Neuwahlen, und nun bewilligt der bessere Reichstag Soldaten und Kanonen für sieben Jahre (Septennat). Da betritt Bismarck noch einmal die Tribüne, und vier Wochen vor dem Ende seines Königs hält er die letzte seiner Reichstagsreden. Sie ist sehr lang, und der Augenblick, wo er sich während ihres Ablaufes setzt, um auszuruhen, ist dem 73Jährigen peinlich; auch ist die Rede nicht an Bildern oder Gleichnissen reich, sie ist sachlich und wirft einen Blick auf die Weltlage, wie er ihn ähnlich oft gegeben. Aber da schwebt eine heimliche Warnung zwischen den kühlen Sätzen, die Spannung Europas, Deutschlands, verdunkelt durch jene Krankheit des Thronfolgers, das Gefühl einer neuen Epoche: all dies geistert durch die Rede und läßt an diesem Tage alle Feinde verstummen.

»Wir müssen in diesen Zeiten so stark sein wie wir können,« sagt Bismarck, »und wir haben die Möglichkeit, stärker zu sein als irgendeine Nation von gleicher Kopfzahl in der Welt ... Wir liegen mitten in Europa, haben mindestens drei Angriffsfronten ... sind außerdem der Gefahr der Koalitionen ... mehr ausgesetzt als irgendein anderes Volk ... Die Hechte im europäischen Karpfenteich hindern uns, Karpfen zu werden, indem sie uns ihre Stacheln in unseren beiden Flanken fühlen lassen ... Sie zwingen uns auch zu einem Zusammenhalt unter uns Deutschen, der unserer innersten Natur widersteht, sonst strebten wir auseinander ..

»Ein Staat wie Östreich verschwindet nicht, sondern wird dadurch, daß man ihn im Stiche läßt, entfremdet und wird geneigt werden, dem die Hand zu bieten, der seinerseits der Gegner eines unzuverlässigen Freundes gewesen ist. Kurz, wenn wir die Isolierung verhüten wollen, so müssen wir einen sicheren Freund haben ... In der Ziffer (der Truppen) sind die anderen ebenso hoch wie wir, aber in der Qualität können sie es uns nicht nachmachen. Die Tapferkeit ist ja bei allen zivilisierten Nationen gleich: der Russe, der Franzose schlagen sich so tapfer wie der Deutsche ..

»Mit der gewaltigen Maschine, zu der wir das deutsche Heerwesen ausbilden, unternimmt man keinen Angriff. Wenn ich heute vor Sie treten wollte und Ihnen sagen – wenn die Verhältnisse eben anders lägen –: wir sind erheblich bedroht von Frankreich und Rußland, es ist vorauszusehen, daß wir angegriffen werden, meiner Überzeugung nach glaube ich es als Diplomat, nach militärischen Nachrichten, es ist nützlicher für uns, daß wir als Defensive den Vorstoß des Angriffes benutzen, daß wir jetzt gleich schlagen, ich bitte also um einen Kredit von einer Milliarde oder einer halben: ich weiß nicht, meine Herren, ob Sie das Vertrauen zu mir haben würden, mir das zu bewilligen. Ich hoffe nicht! Aber wenn Sie es täten, würde es mir nicht genügen. Wenn wir in Deutschland einen Krieg mit der vollen Wirkung unserer Nationalkraft führen wollen, so muß es ... ein Volkskrieg sein ... Ein Krieg, zu dem wir nicht vom Volkswillen getragen werden, der wird geführt werden, wenn schließlich die verordnenden Obrigkeiten ihn für nötig halten und erklären, aber es wird nicht von Hause aus der Elan und das Feuer dahinter sein ... Natürlich glaubt jeder Soldat, dem Gegner überlegen zu sein, er würde beinahe aufhören, ein brauchbarer Soldat zu sein, wenn er den Krieg nicht wünschte und an seinen Sieg darin glaubte ... Wir glauben ebenso fest an unseren Sieg in gerechter Sache, wie es irgendein ausländischer Leutnant in seiner Garnison beim dritten Glase Champagner glauben kann, und wir vielleicht mit mehr Sicherheit ...

»Die Drohung des Auslandes in der Presse ... ist eigentlich eine unglaubliche Dummheit ... Jedes Land ist auf die Dauer doch für die Fenster, die seine Presse: einschlägt, irgendeinmal verantwortlich; die Rechnung wird an irgendeinem Tage präsentiert in der Verstimmung des anderen Landes. Wir können durch Liebe und Wohlwollen leicht bestochen werden, vielleicht zu leicht, aber durch Drohungen ganz gewiß nicht! Wir Deutsche fürchten Gott, aber sonst nichts in der Welt, und die Gottesfurcht ist es schon, die uns den Frieden lieben und pflegen läßt.«

Als er geendet hat, applaudiert ihm zum erstenmal seit Jahren das ganze Haus; jeder spricht von einem europäischen Ereignis. Auch der Kaiser liest noch, was Bismarck gesprochen hat, und kurz vorher, als der Krieg vor der Türe stand, hat er erklärt, führen könnte er nicht mehr, aber ins Hauptquartier müßte er unbedingt mit. Eben hat er sein 80jähriges Militär-Jubiläum gefeiert, und wenn er vor einem Bilde steht »Auszug der Freiwilligen aus Breslau 1813« und sieht statt des Zaren den alten Blücher ganz vorn auf dem Bilde reiten, da sagt er: »Nein, das ist nicht richtig. Ich erinnere mich ganz genau, ich bin mit meinem Vater und mit dem Zaren nach Breslau zurückgeritten, aber Blücher war nicht dabei. Der Künstler soll aus Blücher den Kaiser Alexander machen, dem wir zu großem Dank verpflichtet sind!« So redet die lebendige Geschichte.

Die Sorge um den sterbenden Sohn scheint kleiner als die um das Land; in voller Unruhe über die Vorbildung des jungen Enkels und wie man ihn ausbilden könne, ohne den Kranken zu verletzen, schreibt der Alte Weihnachten 87 an Bismarck seinen letzten Brief; er legt die Ernennung Herberts zur Exzellenz bei, »um dieselbe Ihrem Sohne zu übergeben, eine Freude, die ich Ihnen nicht versagen wollte. Ich denke, die Freude wird eine dreifache sein, für Sie, für Ihren Sohn und für mich ... Ihr dankbarer Wilhelm«.

Anfang März löst er sich auf, er fühlt es selbst, läßt den Kanzler an sein Bett kommen, fordert von ihm das Versprechen, seinem Enkel zu helfen, und als er es erhält, »war die einzige Antwort darauf ein etwas fühlbarerer Druck seiner Hand. Dann aber traten Fieberphantasien ein, ... er glaubte, der Prinz Wilhelm säße an meiner Stelle neben dem Bette, und mich plötzlich mit Du anredend, sagte er: – Mit dem russischen Kaiser mußt du immer Fühlung halten, da ist kein Streit notwendig. – Nach einer langen Pause des Schweigens war die Sinnestäuschung verschwunden, er entließ mich mit den Worten: – Ich sehe Sie noch«. Am andern Morgen war er tot.

Mittags gab Bismarck dem Reichstage die amtliche Kunde; während dieser kurzen Rede unterbrachen ihn wiederholt die Tränen. »Ich hatte die Bitte an S. M. gerichtet, nur den Anfangsbuchstaben zu unterzeichnen, S. M. aber haben mir darauf erwidert, daß sie glaubten, den vollen Namen noch unterschreiben zu können. Infolgedessen liegt dieses historische Aktenstück der letzten Unterschrift vor mir ... Es steht mir nicht zu, von dieser amtlichen Stelle aus den persönlichen Gefühlen Ausdruck zu geben ... Es ist dafür auch kein Bedürfnis, denn die Gefühle, die mich bewegen, leben in dem Herzen eines jeden Deutschen, es hat deshalb keinen Zweck, sie auszusprechen ... Die heldenmütige Tapferkeit, das nationale hochgespannte Ehrgefühl und vor allen Dingen die treue, arbeitsame Pflichterfüllung im Dienste des Vaterlandes, ... mögen sie ein unzerstörbares Erbteil unserer Nation sein.« Am Schlusse bedeckte er sein Gesicht.

Wie Bismarck hier die formelle Pflicht tut und sich doch auch in diesem Augenblicke treu bleibt, wie er die innere Ergriffenheit nicht scheut und doch nicht paradieren läßt, wie er sich und die Hörer von jedem Ausbruch der Trauer fern hält; wie er, anstatt vom Kaiserreich zu reden, die letzte Unterschrift zum Symbol gestaltet; wie er vor allem kein einziges Wort zuviel sagt, den Toten weder groß noch siegreich, weder klug noch weise nennt, nur mutig, stolz und fleißig, wie er war: das sind Zeichen hoher Reife, die in solchen Augenblicken doch nur das Selbstgefühl eines ergriffenen Herzens hervorbringt.

Die Hauptstadt und das deutsche Volk, Europa und die fremden Erdteile nahmen an der Leichenfeier des Königs teil, Als aber der Zug die Linden passierte, drang durch die Stille ein Ruf, der die erstaunliche Bahn dieses Fürsten mit drei grotesken Worten zusammenfaßte; aus den Bäumen rief jemand laut: Da kommt Lehmann! Als »Lehmann« war Prinz Wilhelm nach England geflohen, heut vor 40 Jahren, fast auf den Tag, damals, als dieselben Linden im gleichen kalten Märzwind über dem Aufruhr desselben Volkes sich bogen und alles rief: Nieder mit dem Kartätschen-Prinzen! Damals hatte sich dieser Thronfolger auf der Pfaueninsel versteckt, und seine Frau vertraute nicht einmal dem Junker aus Schönhausen den Schlupfwinkel an; als er fort war und sich die Geschichte des falschen Passes verbreitete, da gab es Spottgedichte in Berlin auf Lehmann; Bismarck hat sie gewiß gelesen.

Ob ihn heute der Ruf aus der Linde erreicht? Was denkt er, hinter dem schwarzen Wagen? Neben ihm setzt Moltke im Pelz die uralten Beine voreinander, ihm ganz fremd und zudem beinah Neunzig; Roon ist nicht mehr dabei. Wer ist noch dabei aus jenen alten Zeiten? Niemand, kein Offizier, Minister, Hofmann von einiger Bedeutung. Augusta lebt, aber die alte Frau ist daheimgeblieben. Was hier in Uniformen glänzt, ist jüngeren Datums, besonders der Enkel, der als der Erste ganz allein hinter dem Wagen schreitet. Der neue Kaiser liegt im Schloß im Sterben. Die Zeugen des alten Preußen sind tot.

Bismarck ist der Letzte.


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