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Fünfzigste Rune

Der Jungfrau Marjatta wird ein Knabe geboren 1–350. Als Kind geht er verloren und wird endlich im Sumpfe wiedergefunden 351–424. Ein Alter soll ihn taufen, will den Vaterlosen nicht taufen, ehe er besichtigt worden ist 425–440. Wäinämöinen kommt um ihn zu besichtigen und fällt das Urteil, daß man ihn töten müsse, doch das zwei Wochen alte Knäblein weist sein Urteil zurück 441–474. Der Alte tauft es jetzt zum König von Karjala, worüber Wäinämöinen mißmutig wird und davonzieht, vorher aber verkündet, daß er noch einmal einen neuen Sampo, eine neue Kantele und neues Licht schaffen werde; er segelt mit einem kupfernen Boot zu dem Rande des Horizonts, wo sich Himmel und Erde berühren und wo er noch immer weilt; die Kantele und seine großen Gesänge hinterläßt er zur Freude des Suomivolks 475–512. Schlußgesang 513–620.

Marjatta, die schöne Jüngste,
Wuchs schon lange in dem Hause,
In dem Haus des hohen Vaters,
In der trauten Mutter Stube;
Sie vertrug wohl fünf der Ketten,
Sie verbrauchte sechs der Ringe
An den Schlüsseln ihres Vaters,
Die an ihrem Busen glänzten.

Sie verschliß der Schwelle Hälfte
Mit dem schimmernd schönen Saume, [10]
Nutzte ab des Balkens Hälfte
Mit dem feinen seidnen Kopftuch,
Auch die Hälfte eines Pfostens
Mit des weichen Ärmels Mündung,
Und die Bretter auf dem Boden
Mit dem Absatz ihrer Schuhe.

Marjatta, die schöne Jüngste,
Dieses kleingewachsne Mädchen,
Pflegte lange ihre Keuschheit,
War stets schamhaft und bescheiden, [20]
Nährte sich von schönen Fischen
Und von weicher Fichtenrinde,
Nie aß sie ein Ei der Henne,
Die des Hahns Mutwillen folgte,
Aß auch niemals Fleisch des Schafes,
War es schon gepaart dem Widder.

Schickt die Mutter sie zum Melken,
Geht sie dennoch nicht zu melken,
Redet selber diese Worte:
»Nicht wird eine solche Jungfrau [30]
Je der Kühe Euter fassen,
Die die Stiere schon besprangen,
Nicht melkt sie, da von der Färse,
Von dem Kalbe keine Milch fließt.«

Schickt der Vater sie zum Schlitten,
Will nicht in des Hengstes Schlitten,
Bringt der Bruder eine Stute,
Spricht die Jungfrau diese Worte:
»Will nicht mit der Stute fahren,
Die dem Hengste untertan ist, [40]
Fahre nicht, wenn mich nicht Füllen,
Monatalte mich nicht ziehen.«

Marjatta, die schöne Jüngste,
Welche stets jungfräulich lebte,
Mädchenhaft den Kopf stets senkte,
Schöngelockt und rein und schamhaft,
Führt' die Herde auf die Weide,
Schritt zur Seite ihrer Lämmer.

Gehen auf dem Berg die Lämmer,
Auf des Hügels Spitz' die Schafe, [50]
Schreitet auf der Flur die Jungfrau,
Hüpfet in dem Erlenhaine
Bei dem Ruf des goldnen Kuckucks,
Bei dem Sang des Silbervogels.

Marjatta, die schöne Jüngste,
Schauet hin und lauschet fleißig,
Setzt sich auf die Beerenwiese,
An den Abhang hin des Berges,
Redet Worte solcher Weise,
Selber spricht sie diese Worte: [60]
»Rufe du, o goldner Kuckuck,
Singe du, o Silbervogel,
Trillre laut, du Zinnesbusen,
Sprich, du wundersame Beere,
Geh' ich lang noch unbehaubet,
Lange ich als Lämmerhirtin
Auf den weitgedehnten Fluren,
Auf des Haines breitem Boden:
Einen Sommer oder zwei noch,
Fünf der Sommer oder sechs noch, [70]
Oder wohl gar zehn der Sommer,
Oder diesen kaum zu Ende?«

Marjatta, die schöne Jüngste,
Lebte lange so als Hirtin;
Übel ist das Hirtenleben,
Und zumal für eine Jungfrau:
Schlangen kriechen in dem Grase,
Auf dem Boden schleicht die Eidechs'.

Doch nicht schlichen damals Schlangen,
Nicht die Eidechs' auf dem Boden, [80]
Von dem Berge rief die Beere,
Von der Flur die Preiselbeere:
»Komm, o Jungfrau, mich zu pflücken,
Mich, Rotwangige, zu lesen,
Mich, o Zinnbrust, auszureißen,
Kupfergurt, mich zu erwählen,
Ehe mich die Schnecke aufzehrt,
Eh' der schwarze Wurm mich einschlingt!
Hundert haben mich gesehen,
Tausend haben hier gesessen, [90]
Hundert Mädchen, tausend Weiber,
Kinder auch in großen Scharen,
Keiner hat mich je berühret,
Hat mich Arme je gepflücket.«

Marjatta, die schöne Jüngste,
Ging ein wenig auf dem Wege,
Ging die Beere anzuschauen,
Ging die rote abzupflücken
Mit den schönen Fingerspitzen,
Mit den wunderfeinen Händen. [100]

Sieht die Beere an dem Berge,
Auf der Flur die Preiselbeere;
Ist wie eine Preiselbeere
Anzusehn, und allzu hoch doch,
Um vom Boden, allzu niedrig,
Um vom Baum sie zu erreichen.

Nahm ein Stäbchen von der Heide,
Schlug die Beere drauf zu Boden;
Von dem Boden stieg die Beere
Hin auf ihre schönen Schuhe, [110]
Von den schönen Schuhen stieg sie
Hin auf ihre keuschen Kniee,
Von den keuschen Knieen stieg sie
Auf den klaren Saum des Kleides.

Stieg dann zu des Gürtels Streifen,
Von dem Gürtel zu den Brüsten,
Von den Brüsten zu dem Kinne,
Von dem Kinne zu den Lippen,
Schlüpfet dann in ihren Mund ein,
Schaukelt sich auf ihrer Zunge, [120]
Von der Zunge zu der Kehle,
Gleitet nieder in den Magen.

Marjatta, die schöne Jüngste,
Schwoll davon und wurde schwanger,
Sie erlangte große Fülle,
Wurde überschwer am Leibe.

Fing an ohne Schnür' zu gehen,
Ohne Gürtel sich zu kleiden,
Heimlich in der Badestube,
In dem finstern Raum zu weilen. [130]

Immer dachte schon die Mutter,
Überlegte so die Alte:
»Was geschah wohl mit Marjatta,
Was mit unserm lieben Hühnchen,
Daß sie ohne Schnüre schreitet,
Ohne Gürtel stets sich kleidet,
In die Badstub' heimlich gehet,
In dem finstern Raume weilet?«

Also redete ein Kindlein,
Sprach ein Kindlein diese Worte: [140]
»Das geschah mir der Marjatta,
Dieses Unheil mit der Armen:
Allzulang hat auf der Weide,
Bei der Herde sie geweilet.«

Und es trug des Leibes Schwere,
Seine Fülle sie mit Schmerzen,
Sieben Monate, den achten,
Neun der Monde nacheinander,
Nach der Rechnung alter Weiber
Noch des zehnten Monats Hälfte. [150]

In dem zehnten dieser Monde
Kam die Jungfrau sehr in Schmerzen,
Hart gestaltete ihr Leib sich,
Drückte sie mit großen Qualen.

Bittet um ein Bad die Mutter:
»Meine vielgeliebte Mutter!
Du gewähr' mir eine Stelle,
Einen warmen Raum bereit' mir,
Eine Freistatt schaff dem Mädchen,
Seine Wehen hinzutragen.« [160]

Spricht die Mutter diese Worte,
Gibt die Alte ihr zur Antwort:
»Wehe dir, du Hiisi-Buhle!
Neben wem hast du gelegen,
War's der Unbeweibten einer
Oder der beweibten Helden?«

Marjatta, die schöne Jüngste,
Gibt zur Antwort diese Worte:
»Weder bei dem unbeweibten,
Noch auch beim beweibten Manne; [170]
Ging zum beerenreichen Berge,
Ging die Preiselbeere pflücken,
Nahm, was ich für eine Beere
Hielt, und tat es auf die Zunge,
Rasch glitt es in meine Kehle,
Schlüpfte es in meinen Magen!
Davon schwoll ich, wurde schwanger,
Daher ward mir meine Fülle.«

Bittet um ein Bad den Vater:
»O mein vielgeliebter Vater! [180]
Du gewähr' mir eine Stätte,
Einen warmen Raum bereit' mir,
Wo die Arme Ruhe finde,
Seine Pein das Mädchen löse.«

Spricht der Vater diese Worte,
Gibt der Alte ihr zur Antwort:
»Gehe, Dirne, du von dannen,
Weich von hinnen, Feuerbuhle,
Zu dem Felsenhaus des Bären,
Zu des Brummers Steingemächern, [190]
Kannst, du Dirne, dort gebären,
Dort, du Schlechte, niederkommen!«

Marjatta, die schöne Jüngste,
Redet weise diese Worte:
»Bin mit nichten eine Dirne,
Wahrlich keine Feuerbuhle,
Werde einen großen Helden,
Einen edlen Mann gebären,
Der den Mächt'gen wird gebieten
Und sogar dem Wäinämöinen.« [200]

In Bedrängnis war die Jungfrau,
Wohin sie die Schritte lenke
Und von wem ein Bad erbitte;
Redet Worte solcher Weise:
»Piltti, du mein kleines Mädchen,
Du die beste meiner Mägde!
Bitte um ein Bad im Dorfe,
Such' ein Bad beim Sarabache,
Wo die Arme Ruhe finde,
Seine Pein das Mädchen löse; [210]
Gehe schnell und eil' behende,
Denn es ist gar bald vonnöten!«

Piltti, dieses kleine Mädchen,
Redet Worte solcher Weise:
»Wen soll um das Bad ich bitten,
Wen um Hilfe ich ersuchen?«

Sprach die gute Marjatta,
Redet selber diese Worte:
»Bitte um ein Bad den Ruotus
An dem Eingang von Saraja!« [220]

Piltti, dieses kleine Mädchen,
War gehorsam ihrem Wort,
Fertig stets auch ungebeten,
Rasch selbst ohne alle Mahnung,
Eilte fort dem Dampfe ähnlich,
Auf den Hof dem Rauch vergleichbar;
Hob den Saum mit ihren Armen,
Mit den Händen ihre Röcke,
Eilt' und lief mit raschem Schritte
Grade zu dem Haus des Ruotus; [230]
Berge bebten, als sie hinschritt,
Hügel wankten, als sie eilte,
Zapfen sprangen auf der Heide,
Steine hüpften auf dem Sumpfe,
Kam zum Hause des Ruotus,
Trat hinein in seine Wohnung.

Aß und trank der garst'ge Ruotus
Grad im Hemd, nach Art der Großen,
Saß zu Häupten seines Tisches,
Angetan mit feinem Linnen. [240]

Bei dem Mahl sprach Ruotus also,
Auf den Tisch gestützt mit Barschheit:
»Was hast, Schlechte, du zu sagen,
Woher kommst du, Wicht, gelaufen?«

Piltti, dieses kleine Mädchen,
Redet Worte solcher Weise:
»Komme um ein Bad zu bitten,
Such' ein Bad beim Sarabache,
Daß die Arme Ruhe finde,
Hilfe der Bedrängten werde.« [250]

Kommt das garst'ge Weib des Ruotus,
Stemmt die Hände an die Seiten,
Schreitet vorwärts auf der Diele,
Eilet auf des Bodens Mitte,
Forschet eifrig selber also,
Redet Worte solcher Weise:
»Für wen willst das Bad du haben,
Für wen bittest du um Hilfe?«

Spricht das kleine Mädchen Piltti:
»Bitte darum für Marjatta.« [260]

Spricht das garst'ge Weib des Ruotus,
Redet selber diese Worte:
»Frei ist hier kein Bad für Fremde,
Keine Badstub' in Saraja;
Bäder gibt's im Schwendenlande,
Einen Stall im Fichtenwalde,
Daß die Feuerbuhl' gebäre,
Dort die Dirne niederkomme;
Wenn das Pferd dort schnauft und atmet,
Könnet ihr im Dampfe baden!« [270]

Piltti, dieses kleine Mädchen,
Läuft zurück mit schnellen Schritten,
Eilt und rennt mit allen Kräften,
Redet, als sie angelanget:
»Ist kein Bad im Dorf zu finden,
Keine Stub' am Sarabache;
Sprach das garst'ge Weib des Ruotus,
Redet Worte solcher Weise:
›Frei ist hier kein Bad für Fremde,
Keine Badstub' in Saraja; [280]
Bäder gibt's im Schwendenlande,
Einen Stall im Fichtenwalde,
Daß die Feuerbuhl' gebäre,
Dort die Dirne niederkomme;
Wenn das Pferd dort schnauft und atmet,
Könnet ihr im Dampfe baden!‹
Solche Worte sprach die Böse,
Solches gab sie mir zur Antwort.«

Marjatta, die zarte Jungfrau,
Fing darauf nun an zu weinen, [290]
Redet selber diese Worte:
»Werde jetzt wohl gehen müssen
Wie ein armer Tagelöhner,
Wie ein Knecht, den man gedungen,
Gehen zu dem Schwendenlande,
In den Fichtenwald zum Grasplatz.«

Rafft die Kleider mit den Fingern,
Faßt den Rocksaum mit den Händen;
Nimmt in ihren Arm den Quast dann,
Einen weichen Blätterbesen, [300]
Schreitet schnellen Schrittes vorwärts
In des Leibes argen Qualen
Zu dem Haus im Fichtenwalde,
Zu dem Stall am Tapioberge.

Redet Worte solcher Weise,
Läßt auf diese Art sich hören:
»Komm, o Schöpfer, mir zur Hilfe,
Eil', Erbarmer, her zum Schutze
Bei dem mühevollen Werke,
In der gar zu schweren Stunde! [310]
Lös' die Jungfrau von der Drangsal,
Von des Leibes Wehn das Mädchen,
Daß sie nicht in Schmerz vergehe,
Bei der Qual sie nicht ersterbe!«

Als zum Ziele sie gekommen,
Spricht sie selber diese Worte:
»Atme nun, mein teures Rößlein,
Schnaufe nun, du starkes Füllen,
Badedampf hier zu verbreiten,
Bades Wärme mir zu senden, [320]
Daß die Arme Ruhe finde,
Hilfe der Bedrängten werde!«

Atmete das gute Rößlein,
Schnaufte da das starke Füllen
Hin zum schmerzgedrückten Leibe;
Wenn das Rößlein Atem holte,
War es wie der Badstub' Wärme,
Wie der Wassertropfen Sprühen.

Marjatta, die zarte Jungfrau,
Sie, das keusche kleine Mädchen, [330]
Badete nun zur Genüge
Ihren Leib in dieser Wärme;
Bracht' zum Vorschein dann ein Söhnlein,
Legte das unschuld'ge Kindlein
Auf das Heu zur Seit' des Pferdes,
Auf des schönbemähnten Krippe.

Darauf wusch das kleine Söhnlein,
Wickelt' sie es ein in Windeln;
Nahm den Knaben auf die Kniee,
Barg das Kind in ihrem Schoße. [340]

So versteckt hielt sie ihr Söhnlein
Und erzog den Vielgeliebten,
Ihren lieben goldnen Apfel,
Ihr geliebtes Silberstöcklein,
Nährte es in ihren Armen,
Wendet' es auf ihren Händen.

Hielt den Sohn auf ihren Knieen,
Hielt das Kind in ihrem Schoße,
Fing den Kopf an ihm zu bürsten,
Seine Haare durchzukämmen; [350]
Von den Knien verschwand der Knabe,
Von dem Schoße ihr das Kindlein.

Marjatta, die zarte Jungfrau,
Kam alsdann in große Trübsal;
Macht sich auf das Kind zu suchen,
Sucht ihr liebes kleines Söhnlein,
Suchet ihren goldnen Apfel,
Sucht ihr liebes Silberstöcklein,
Sucht es unter einem Mühlstein,
Unter einer Schlittenkufe, [360]
Unter einem großen Siebe,
Sucht es unter einem Tragkorb,
Rührt die Bäume, teilt die Kräuter
Und durchwühlt die weichen Gräser.

Lang sucht sie ihr liebes Söhnlein,
Sucht ihr Söhnlein, ihren Kleinen,
Auf den Hügeln, in den Hainen,
Auf dem weiten Heidelande,
Schaut auf jedes Heideblümchen,
Stochert jeden Strauch im Busch auf, [370]
Gräbt an den Wacholderwurzeln,
Hebt die Zweige an den Bäumen.

Denkt nun weiter fortzugehen,
Machet eilig sich ans Wandern;
Kommt ein Sternlein ihr entgegen,
Sie verneigt sich vor dem Sterne:

»Stern, den Jumala geschaffen!
Weißt du nichts von meinem Sohne,
Wo mein keiner Sohn geblieben,
Wo mein goldner Apfel weilet?« [380]

Gibt der Stern ihr diese Antwort:
»Wüßt' ich's auch, würd' ich's nicht sagen;
Denn mich selber auch erschuf er,
Daß ich bei solch schlechten Tagen
In dem Frost muß ewig glänzen,
In den Finsternissen funkeln.«

Denkt nun weiter fortzugehen,
Machet eilig sich ans Wandern,
Kommt der Mond ihr drauf entgegen,
Sie verneigt sich vor dem Monde: [390]
»Mond, den Jumala geschaffen!
Weißt du nichts von meinem Sohne,
Wo mein kleiner Sohn geblieben,
Wo mein goldner Apfel weilet?«

Gibt der Mond ihr diese Antwort:
»Wüßt' ich's auch, würd' ich's nicht sagen;
Denn mich selber auch erschuf er,
Daß ich bei solch schlechten Tagen
Einsam bei der Nacht muß wachen
Und den ganzen Tag lang schlafen.« [400]

Denkt nun weiter fortzugehen,
Machet eilig sich ans Wandern,
Kommt die Sonne ihr entgegen,
Sie verneigt sich vor der Sonne:
»Sonne, Jumalas Geschöpf du!
Weißt du nichts von meinem Sohne,
Wo mein keiner Sohn geblieben,
Wo mein goldner Apfel weilet?«

Klüglich antwortet die Sonne:
»Kenne wohl dein liebes Söhnlein; [410]
Denn mich selber auch erschuf er,
Daß ich in den guten Tagen
In dem Golde rauschend gehe,
In dem Silber schön erstrahle.

»Kenne schon dein liebes Söhnlein,
Kenne, Arme, deinen Kleinen,
Dorten ist dein keines Söhnlein,
Ist dein lieber, goldner Apfel,
Steckt im Sumpfe bis zum Gurte,
In der Heide bis zum Arme.« [420]

Marjatta, die zarte Jungfrau,
Sucht den Sohn nun in dem Sumpfe;
Findet ihren Sohn im Sumpfe,
Bringt von dort ihn fort nach Hause.

Darauf wuchs der Sohn Marjattas,
Wuchs der Knabe voller Schönheit;
Nicht wußt' man ihn zu benennen,
Keinen Namen ihm zu geben,
Blümlein nannte ihn die Mutter,
Fremde ihn den Müßiggänger. [430]

Ward gesuchet, wer ihn taufen,
Wer besprengen könnt' mit Wasser;
Kam ein Alter ihn zu taufen,
Wirokannas ihn zu segnen.

Sprach der Alte diese Worte,
Redet selbst auf diese Weise:
»Werde diesen Zaubervollen,
Werd' den Seltsamen nicht taufen,
Wird er nicht zuvor geprüfet,
Nicht geprüfet und gerichtet.« [440]

Wer wohl sollte ihn da prüfen,
Wer ihn prüfen, wer ihn richten?
Wäinämöinen alt und wahrhaft,
Dieser ew'ge Zaubersprecher,
Kam den Knaben da zu prüfen,
Ihn zu prüfen und zu richten.

Wäinämöinen alt und wahrhaft
Fällte darauf dieses Urteil:
»Da der Sohn vom Sumpf empfangen,
Von der Beere ist entstanden, [450]
Soll man ihn zu Boden legen,
Auf die beerenreiche Wiese,
Oder zu dem Sumpf ihn führen,
An dem Baum den Kopf zerschlagen!«

Sprach das Vierzehntageknäblein,
Das zwei Wochen alte redet:
»O du Alter ohne Einsicht,
Ohne Einsicht, ohne Tatkraft,
Töricht fälltest du das Urteil,
Legtest unrecht das Gesetz aus! [460]
Wurdest nicht ob größrer Sünde,
Nicht ob törichterer Taten
Selber du zum Sumpf geführet,
Nicht am Baum dein Kopf zerschlagen,
Als du einst in jungen Jahren
Deiner Mutter Kind verschenkt hast,
Als ein Lösgeld für dein Leben,
Um dich selber zu befreien.

»Wurdest damals nicht geführet
Und auch später nicht zum Sumpfe, [470]
Als du einst in jungen Jahren
Junge Mädchen sinken ließest
In der Meeresfluren Tiefe,
Auf den schwarzen Schlamm des Bodens.«

Tauft der Alte rasch den Knaben,
Segnet schnell das liebe Kindlein,
Daß es König von Karjala,
Hüter aller Mächte werde.

Ward der alte Wäinämöinen
Drauf beschämt und sehr verdrießlich, [480]
Machte sich dann auf zu gehen,
Wanderte zum Meeresstrande,
Und dort hob er an zu singen,
Sang zum allerletzten Male,
Sang ein Boot sich reich an Kupfer,
Einen erzbeschlagnen Nachen.

Setzte selbst sich an das Ende,
Zog von dannen auf dem Meere,
Also sprach er noch beim Scheiden,
Redete noch dies im Fahren: [490]
»Laß die liebe Zeit nur hingehn,
Tage gehn und Tage kommen,
Man wird meiner schon bedürfen,
Nach mir schauen, nach mir suchen,
Daß ich neu den Sampo schaffe,
Neu das Saitenspiel erbaue,
Neu den Mond zum Himmel führe,
Frei die neue Sonne mache,
Wenn nicht Mond noch Sonne scheinen
Und der Welt die Freud' entschwindet.« [500]

Fuhr der alte Wäinämöinen
Mit der Segel lautem Rauschen
Auf dem kupferreichen Boote,
Auf dem erzbeschlagnen Nachen,
Bis zum Orte, wo die Erde
Und der Himmel sich begegnen.

Blieb mit seinem Boot dort haften,
Mit dem Nachen dorten stehen,
Doch zurück ließ er die Harfe,
Ließ das schöne Spiel in Suomi, [510]
Seinem Volk ließ ew'ge Freude,
Großen Sang er seinen Kindern.

Werd' den Mund nun schließen müssen,
Meine Zunge fest nun binden,
Werde von dem Liede lassen,
Von dem muntern Sange abstehn;
Ruhen müssen selbst die Rosse,
Wenn sie lange sind gelaufen,
Auch der Sense Stahl wird stumpfer,
Wenn sie Sommergras gehauen, [520]
Auch das Wasser sinket nieder,
Wenn es in dem Flusse laufet,
Selbst das Feuer muß verlöschen,
Wenn es in der Nacht gelodert;
Warum sollt' der Sang nicht endlich,
Nicht das Lied zuletzt ermatten
Nach des Abends langer Freude,
Nach dem Untergang der Sonne?

Also hört' ich oftmals sagen,
Hört' ich oftmals wiederholen: [530]
»Selbst des Wasserfalles Strömung
Läßt nicht alles Wasser fließen,
Also wird der gute Sänger
Auch nicht alle Lieder singen;
Besser ist's die Weisheit sparen,
Als inmitten abzubrechen.«

So verzichtend, so beendend,
So beschließend, so verlassend,
Wickle ich zum Knäul die Lieder,
Roll' ich sie zu einem Bündel, [540]
Tu' sie zu der Kammer Vorrat,
Wohlbewahrt vom Schloß aus Knochen,
Daß sie niemals dort entrinnen,
Nicht im Lauf der Zeit entkommen,
Ohne daß das Schloß man öffnet,
Daß die Knochen auf man tuet,
Daß die Zähne auf man sperret
Und die Zunge man beweget.

Was auch wär' es, wenn ich sänge,
Viele Lieder von mir gäbe, [550]
Wenn in jedem Tal ich sänge,
Jeden Föhrenhain durchgirrte?
Nicht am Leben ist die Mutter,
Nicht die Alte wach hier oben,
Nicht mehr kann die Goldne hören,
Kann die Liebe es vernehmen;
Tannen sind es, die mich hören,
Fichtenzweige, die's erlernen,
Zärtlich neigen sich die Birken,
Mich umfangen Ebereschen. [560]

Klein verließ mich meine Mutter,
Unerwachsen mich die Teure,
Wie die Lerche auf dem Felsen,
Wie ein Drosselchen auf Steinen,
Gleich der Lerche dort zu zwitschern,
Gleich der Drossel dort zu lärmen,
In der Obhur einer Fremden,
In stiefmütterlicher Pflege;
Diese trieb den armen Knaben,
Trieb das Kind ohn' alle Liebe [570]
Nach der Windseite der Stube,
Nach der Nordseite des Hauses,
Daß der Wind den Schutzentblößten,
Unbarmherzig mich entführte.

Fing als Lerche an zu ziehen,
Fing als Vöglein an zu wandern,
Still am Boden hinzuschreiten,
Mühvoll meinen Weg zu wandeln,
Lernte jeden Wind da kennen,
Jedes Brausen ich begreifen, [580]
In dem Froste lernt' ich zittern,
In der Kälte lernt' ich klagen.

Gibt auch jetzt gar viele Menschen,
Oftmals Leute, welche zu mir
Mit gehäss'ger Stimme reden,
Mit gar barscher Stimme stechen;
Welche meiner Zunge fluchen,
Über meine Stimme schreien,
Die mein Summen tadeln wollen,
Die mein Singen lästig finden, [590]
Sagen, daß ich übel singe
Und das Lied nicht richtig sage.

Mögt ihr nicht, o guten Leute,
Gar Verwundern drob verspüren,
Daß ich Kind so viel gesungen,
Daß ich Kleiner schlecht gezwitschert!
Bin in keiner Lehr' gewesen,
War nicht bei den mächt'gen Männern,
Hab' nicht fremde Wort' empfangen,
Keine Rede aus der Ferne. [600]

Andre waren in der Lehre,
Ich nur konnte nicht von Hause,
Von der Seite meiner Mutter,
Aus der Nähe dieser einz'gen;
Hatt' zu Hause meine Lehre,
Unterm Sparren unsres Speichers,
An der Spindel meiner Mutter,
An dem Schnitzspan meines Bruders,
Schon in meiner frühsten Jugend,
In dem ganz zerlumpten Hemde. [610]

Doch wie dieses nun auch sein mag,
Zeigt' ich doch den Weg den Sängern,
Zeigt' den Weg und bog den Wipfel,
Brach die Zweige, bahnt' die Pfade;
Hier nun führt der Weg in Zukunft,
Hier eröffnet sich der Fußpfad
Für die kundigeren Sänger,
Für die reichern Runensprecher
In der Jugend, die emporsteigt,
In dem wachsenden Geschlechte. [620]


Anmerkungen

Vers 1 ff. Lönnrot selbst faßte diese Rune, als er sie entdeckt hatte, als die Darstellung eines historischen Ereignisses, der Einführung des Christentums in Finnland auf; er schrieb in einem Briefe (1833, zitiert von Kaarle Krohn): »So verworren und unabgerundet dieses Lied auch ist, sieht man doch, daß es sich auf die Ankunft des Christentums bezieht und daß der Knabe wahrscheinlich den Erlöser selbst und Marjatta die Jungfrau Maria bedeutet.« Kaarle Krohn hat in seiner Untersuchung über diese Rune (deutsch in den Finnisch-ugrischen Forschungen IV.) diese Auffassung berichtigt; doch liegt dem Lied zweifellos, wenn auch kein eigentlich historischer Bezug, so doch eine historische Grundstimmung zugrunde, wie denn Krohn selbst hinzufügt, mit dem Entweichen Wäinämöinens habe der Volkssänger sicherlich das Verschwinden des Halbheidentums gemeint, das sich in seinen eigenen epischen und magischen Liedern äußere. – Der Name des Mädchens stammt anscheinend von marja, d. i. Beere; doch heißt es in den meisten Varianten Marketta, und es ist wohl möglich, daß auf die Lesart Marjatta der Name der Jungfrau Maria von Einfluß gewesen ist. Daß es sich dabei nicht um eine lediglich sprachlich begründete Verschmelzung handelt, geht daraus hervor, daß die Geburt des Heilbringers aus einer gegessenen Beere oder Frucht ein weitverbreitetes mythisches Motiv ist (vgl. Hartland, The Legend of Perseus I. The Supernatural Birth).

64. Wörtlich: deutsche Erdbeere (»deutsch« bedeutet fremd, hier fremdartig).

109 ff. In dem alten Kalewala steht hier ein fast dialogischer Vorgang zwischen dem Mädchen und der Beere. Marjatta sagt: »Steig empor, du kleine Beere, Zu dem Saume meines Kleides«. Die Beere tut es. Nun fordert das Mädchen sie auf, zum Gürtel zu steigen usw.

219. Ruotus weist anscheinend auf Herodes hin; in der ersten Kalewala-Fassung stand Ruotuksen und Ruotas.

351 f. Mehr als an Luc. 2,44 erinnert diese Stelle an die talmudischen Erzählungen von dem Messias, der seiner Mutter als Kind vom Winde entführt wurde (s. M. J. bin Gorion, »In Bethlehem, in Jerusalem und in Rom« im Sammelbuch »Vom Judentum«, Leipzig 1913, S. 267 ff.).

434. Vgl. Anmerkung zu XX 54.

465 ff. und 471 ff. Diese Andeutungen können, wenn überhaupt auf in dem Epos erzählte Vorgänge, nur auf Ilmarinens Verlockung nach Pohjola und auf Ainos Schicksal bezogen werden; in beiden Fällen decken sich jedoch die Andeutungen nicht recht mit den Kalewala-Erzählungen. Das hängt anscheinend damit zusammen, daß Lönnrot Wäinämöinens Richterspruch und Abschied als ein freistehendes Lied vorfand, an keine anderen Gesänge über den Helden angeknüpft. In dieser Richtung ist auch bemerkenswert, daß dies die einzige Stelle des Epos ist, wo von Wäinämöinens »Jugend« gesprochen wird; unmittelbar nach seiner Geburt, wie schon vor ihr, trägt er das Epitheton des Alten.

505 f. Wörtlich: Zu den obern Erdenräumen, Zu den untern Himmelskreisen. Kaarle Krohn weist (»Väinämöinens Richterspruch und Abschied«, Finnisch-ugrische Forschungen IV.) auf eine Variante hin, in der statt dieser Verse die folgenden stehen:

Steuerte ununterbrochen
In der Walfischzunge Wendung,
Zu den untersten Erdenmüttern,
In die alleruntersten Himmel.

Und auf eine zweite, in der die Verse lauten:

Steuerte in Kräuselwellen
In den Kehlenschlund des Wirbels,
In der Walfischzunge Wendung.

(Vgl. in Castréns Nordischen Reisen und Forschungen, deutsche Ausgabe, Bd. I, S. 88, die Variante, nach der Gott, um Wäinämöinen zu bestrafen, weil er sich höher als Gott dünkte, ihn für die Ewigkeit »in den Schlund des Wasserwirbels, in des grausen Meeres Rachen« schickt.)

Anschließend gibt Krohn einige Hinweise, die um ihrer Bedeutsamkeit willen hier angeführt seien: Nach der Auffassung der Finnen in Lappland findet sich im Meer ein reißender Wasserfall, der so stark ist, daß er meilenweit Schiffe mit Mann und Maus unter die Erde verschlingt, wohin die Gewässer sieben Jahre lang hineinstürzen und sieben Jahre lang wieder zurückfließen. Wer mit Kost für sieben Jahre versehen ist, kann also gut auskommen und unbeschädigt wieder zurückkehren. Im sawolacischen Dialekt ist eine volkstümliche Erzählung veröffentlicht, wie ein Schiff aus dem Rachen des Strudels durch die Hilfe des größten Walfisches in der Welt, der in der Nähe des Strudels umherschwimmt, gerettet wird. Der Erzähler, ein alter Schiffer, schildert diesen Ort in folgender Weise: »Der Rachen des Strudels ist nämlich die Stelle hinter der Welt, wo alle überflüssigen Gewässer unter die Erde fließen. Auf einer Weite von zehn Meilen fängt es im Meer an zu wirbeln, wie im Fluß vor dem Wasserfall. Dann ist da, in der Mitte, ein großer Schlund, so ein ungeheuer großer Schlund, so weit, daß ganze Städte dahinein gehen würden, und dieser Schlund schlürft das Wasser unter die Welt.« ... Gewöhnlich wird erzählt, daß Wäinämöinen auf diesem Weg verschwunden sei. So hat auch Lönnrot noch im alten Kalevala die Sache verstanden. Aber bald danach, im Jahre 1836, fand sein Reisekamerad Cajan in Uhtua einige Mischformen der Fahrt ins Totenreich (Tuonela) und zu Wipunen, wo Wäinämöinen in dem selbstverfertigten Kupferboot aus dem Bauche der Tuoni-Tochter auf das Meer hinausrudert. »Ist noch nicht zurückgekehrt, aber man ahnt, daß er zurückkommt«, fügt der Sänger hinzu, oder: »kommen muß er, bevor die Welt untergeht«. Ebenso schließt eine spätere Aufzeichnung von Wäinämöinens Richterspruch und Abschied in Wuonninen mit der Bemerkung: »Dahin ist gegangen Wäinämöinen; aber man sagt, er komme wieder – noch lebt er.«

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Dieses Buch wurde bei Poeschel & Trepte in Leipzig in der Weißfraktur gedruckt.

Achtzig Stücke wurden auf handgeschöpftem Bütten abgezogen, handschriftlich numeriert und in den Werkstätten von Hübel & Denck, Leipzig in Pergament handgebunden


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