Paul Lindau
Der Prozeß Graef
Paul Lindau

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Der Prozeß Graef

In neun überlangen Sitzungen, vom Montag, 28. September, bis Mittwoch, 7. Oktober 1885, ist vor den Berliner Geschworenen ein Prozeß verhandelt worden, der zu den denkwürdigsten und aufregendsten unserer Tage gerechnet werden darf. Vier Angeklagte haben unter der schweren Beschuldigung entehrender und widerwärtiger Verbrechen – des Meineids, der Anstiftung zum Meineid, der Vornahme unzüchtiger Handlungen und der schweren Kuppelei – auf der Anklagebank gesessen. Als Hauptbeschuldigter ein bisher nicht bloß unbescholtener, sondern sogar in der Achtung und Verehrung seiner Mitbürger hochstehender Mann, der den besten gesellschaftlichen Kreisen angehört, durch Verwandtschaft mit einigen der ersten Familien Berlins eng verknüpft ist und durch die Schöpfungen seiner Kunst Ehren aller Art, den Titel eines Königlichen Professors und die Mitgliedschaft der Akademie erworben und im Kreise seiner Kunstgenossen sowie im großen Publikum Ruhm und Anerkennung gefunden hat. Fünf Anwälte sind den Angeklagten zur Verteidigung ihrer Sache beigetreten. Dem Staatsanwalt, der die Anklage erhoben und durchgefochten, hat sich zur Bewältigung der riesigen Aufgabe ein zweiter Staatsanwalt zur Unterstützung beigesellt. Im Hinblick auf die voraussichtliche Länge und Anstrengung der Verhandlungen sind zu den gewöhnlichen zwölf Geschworenen noch zwei Ersatzgeschworene hinzugelost worden. Ungefähr neunzig Zeugen sind vernommen worden. Sechs Sachverständige, vier Ärzte und zwei Künstler, sind gehört worden. Und dieser gewaltige Apparat hat, wie gesagt, volle anderthalb Wochen lang rastlos gearbeitet, die Beteiligten unausgesetzt in einer Art fiebernder Bewegung und die öffentliche Aufmerksamkeit in sich immer steigender Erregung erhalten – in einer Erregung, die, aus den halbverschlossenen Türen des Schwurgerichtssaales hervorbrechend, zunächst alle Schichten der hauptstädtischen Bevölkerung tief ergriffen und von da, die Bannmeile der Stadt überflutend, die Öffentlichkeit in ganz Deutschland und über die Grenzen unseres Vaterlandes hinaus mit sich gerissen hat.

Die ausführlichen Zeitungsberichte, die den Verhandlungen Schritt auf Schritt gefolgt und in gekürzter Fassung durch den Draht nach allen Windrichtungen hin verbreitet worden sind, wurden wahrhaft verschlungen. Sie haben, soweit das bei derartigen Berichten überhaupt möglich ist und namentlich bei Berichten über Verhandlungen so ganz besonderer Art, den Lauf des Prozesses in allen seinen überraschenden und wundersamen Windungen erkennen lassen.

Es ist nicht der Zweck dieser Zeilen, auf diese dem Namen nach geheimen, in Wahrheit aber in allem Wesentlichen öffentlichen Verhandlungen zurückzukommen. Es soll hier vielmehr der Versuch gemacht werden, die Wirklichkeit, wie sie sich aus den sehr verwickelten und oft verworrenen Verhandlungen für den unbefangenen Beobachter ergeben hat, herauszuschälen, sie wahrheitsgetreu in einer leidenschaftslosen Darstellung zu schildern, den gewaltigen Stoff organisch zu gliedern und die handelnden Personen in ihren eigenen Verhältnissen und in dem Verhältnis, in dem sie zueinander gestanden haben und stehen, möglichst anschaulich hinzustellen.

Bei den durchaus widerspruchsvollen Angaben, die von dieser und jener Seite über die Wahrheit gemacht worden sind, wäre es eine Vermessenheit, behaupten zu wollen, daß der redliche Wunsch, vollkommen vorurteilsfrei das Dargebotene zu prüfen und es dem befundenen Werte nach abzuschätzen, auch schon zur Ermittlung der objektiven Wahrheit führen müsse. Der Verfasser dieser Zeilen kann in vielen Punkten nicht sagen: Das ist nun wirklich so, wie er es schildert. Er kann für seinen Bericht nur das eine in Anspruch nehmen, daß er stets beflissen gewesen ist, aus all den Widersprüchen heraus das als das Tatsächliche zu bezeichnen, was ihm als die subjektive Wahrheit und als das Wahrscheinliche erschienen ist.


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