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I.

»Da ist einmal nichts zu machen,« sagte Herr Andreas, der Verwalter des schönen Mühlengutes, Fossegaard genannt, das schon seit undenklichen Zeiten sich in dem Besitz der angesehenen Familie Foß befand. »Ganz und gar ist nichts zu machen. Der Herr Kommissär ist eben krank. Ihr müßt doch selbst sehen, daß oben im Eckzimmer beide Gardinen herabgelassen sind; – aber das hat keine Augen im Kopfe.« Diese Worte waren an einen Troß einfacher Leute gerichtet.

»Und also ist er nicht zu sprechen, … auch morgen nicht, … überhaupt die ganze Woche nicht, – ja, am Montag vielleicht.«

Herr Andreas war ein schneidiger Patron mit einer etwas krummen, in eine scharfe Spitze zulaufenden Nase und einem Paar schlauer, lebhaft ausschauender Augen; er verstand es, jedem in geschickter Weise beizukommen und auch heute den Mückenschwarm unbequemer Gäste vom Hofe zu vertreiben.

Er saß im Comptoirzimmer, drüben in dem roten Gebäude, und fertigte die Leute ab, die gekommen waren, sich die Löhne auszahlen zu lassen. Ein ganzer Trupp stand draußen vor der Thür; denn Mads Foß vom Fossegaard hatte um diese Jahreszeit starken Bedarf an Fuhrwerken für seinen Mühlenbetrieb; viele Lasten von Mehl und Korn mußten von und nach der Stadt wie zum Stapelplatz hinabgeschafft werden, desgleichen gingen aus dem ganzen Gebiet von Bjölstad große Holzlieferungen für Rechnung des Herrn Foß ab, und er mußte viel fremdes Gespann zur Hilfe nehmen.

Herr Andreas erfüllte die Obliegenheiten seines Amtes mit einer Stimme, die es gewohnt war, sich unten bei der Mühle im Gebrause des Wehrs vernehmbar zu machen, und die eben jetzt bei dem steten Wiederholen des Gesagten eindringlich zu sein suchte.

»Nein, er ist krank, – und so kann nun einmal nicht baar ausgezahlt werden. Erst wenn er wieder frisch und wohl auf ist. Du fragst: wann? mein Lieber! Nun, in höchstens drei, vier Wochen, sobald der Kommissär die Rechnungsabschlüsse in Händen hat. Aber hier, siehst du, hier hast du etwas, das gerade so gut ist wie baar Geld, einen Schein über ein Guthaben von …

»Wie? Kannst du denn das gar nicht begreifen? Wenn dir der Kaufmann unten auf dies da Mehl und Grütze und Tabak und Salz und Brantwein, und was du sonst noch haben willst, gerade so prompt in deinen Rucksack hineinzählt, wie wenn du des Königs Münze brächtest, so wird das Papier doch wohl Geld sein; wie? … heißt das, wenn du zum Kaufmann Buaas gehst und nicht zu dem andern Racker unten in der Strandgasse.

»Na, kapierst du's endlich, oder kapierst du's noch immer nicht? Meinst du, ich habe niemand andern abzufertigen als dich? Wirst es schon begreifen, wenn du nur erst damit auf dem Heimweg bist. – So, jetzt kommst du daran, Olai. – Warte, warte ein bißchen.«

Der Verwalter guckte zum Fenster hinaus; denn es war Schellengeläute draußen erklungen.

Ein Schmalschlitten lenkte in den Gaard.

»Höre, Nils, renn' 'mal schnell ins Herrenhaus und melde der Jungfer Holst, daß der Major auf Moberg ankommt.«

Mit einem gewohnheitsmäßigen Schlage auf die hintern Rockschöße, als habe er eben auf einem Mehlsacke gesessen, fuhr Herr Andreas sodann zur Thür hinaus.

»Heut abend ist's nichts mit dem Kartenspielen,« murmelte er, während er, die beiden Fäuste in je eine Seitentasche seiner kurzen Jacke vergraben, quer über den Schnee zu dem Schlitten hinüberschritt. Hier blieb er mit freundlich grinsendem Gesichte stehen, vornübergebeugt, daß der Rücken lang wurde, und die Uhrkette von der grüngestreiften Weste aus Beiderwand herabbaumelte.

Er zuckte die Achseln, schüttelte bedeutungsvoll den Kopf und blickte zu dem Gaste empor.

»Ist leider nicht zu sprechen, Herr Major, – liegt bereits seit drei Tagen krank.«

»Recht verdrießlich,« war die kurze, gebrummte Antwort. Das Antlitz des Majors mit dem glänzend schwarzen, gewichsten Knebelbart wurde noch röter, als es von Natur schon war.

»Handelt es sich um etwas, Herr Major, das – –« begann Andreas aufs neue mit einem verbindlichen Bückling.

»Hm, hm! Sehen Sie, mein Wertester,« – er griff in seine Brusttasche, – »ich habe da ein gewisses Papier, das zu erneuern wäre. Glauben Sie, daß es sich nicht doch vielleicht machen ließe?«

Andreas blickte in den Schnee hinab und kaute verlegen an einem Getreidekorn aus der Probedüte in seiner Seitentasche.

Eben jetzt kam Margarete Holst eilfertig auf die Vortreppe heraus.

»Es handelt sich darum, meine Liebe,« wandte sich der Major nach kurzem Gruße an das Mädchen, »ob Sie nicht eine eingetunkte Feder nehmen und mit diesem Papier zu Foß hineingehen könnten. Bloß seinen Namen, – hier – da drunter.«

Jungfer Holst schüttelte den Kopf.

»Das ist rein unmöglich, Herr Major!«

»Nur seinen Namen, verstehen Sie?«

»Es muß ganz finster um ihn sein; der kleinste Lichtstrahl schon macht ihm Pein.«

»O, um seinen Namen zu kritzeln, braucht er nicht zu sehen.«

»Nicht einmal das Geläute der Schellen verträgt er,« flüsterte Andreas. »Wir haben Befehl, darauf zu sehen, daß sich selbst auf dem Hofe nichts rühre.«

»Alle Wetter!«

»Es packt ihn immer so gewaltsam, Herr Major,« erklärte die Haushälterin in ziemlich gezwungenem, unsicherem Tone, »und kommt gewiß nur von etwas Unverdaulichem, das er am Sonntag beim Gutsbesitzer Rings genossen. Sie hatten so viel fetten Aal …«

»Hm, hm, – ja; und der muß sich erst ordentlich setzen, Jungfer Holst,« spöttelte der Major, sie unbarmherzig anblinzelnd, da er sah, daß sie rot wurde.

Sie war eine hübsche Brünette, nicht ohne leisen Anflug von Karrikatur in ihrem Wesen, der eben jetzt stärker hervortrat, wie sie so nervös auf dem Absatz oberhalb der Vorstufen hin- und hertrippelte und sich ruhig stellen wollte, um das Haus vor verdächtigenden Mutmaßungen des Majors, – nicht umsonst nannte man ihn die Extrapost, – zu bewahren.

Jemand drehte plötzlich von innen an der Klinke; die Hausthür öffnete sich ganz vorsichtig eine schmale Spalte weit. »Kirsten,« flüsterte eine Frauenstimme. Das Mädchen aber fuhr, dem Major zugewendet, fort: »Dazu hat er sich auf dem Heimwege erkältet. Er ist ungeheuer unvorsichtig, und seit die Frau tot ist, und Marianne geheiratet hat – – und« sie warf einen verstohlenen Blick nach rückwärts – »hat er niemanden, der, wenn er so draußen ist, auf ihn achtgeben würde; denn Hilda ist ja –«

»Kirsten!« flüsterte es von neuem hinter der Hausthür hervor.

»– noch viel zu viel Kind, um über den Vater einige Macht zu haben …«

Die Thür wurde endlich halb aufgerissen, und ein Paar magere Frauenarme sowie die Umrisse eines Kopfes wurden für einen Augenblick sichtbar.

»Kirsten Holst,« kreischte es sodann mit einer ängstlichen Dringlichkeit, die kaum die Worte hervorzustoßen vermochte.

»Sie wollen wahrscheinlich drinnen etwas von Ihnen haben,« sagte Andreas ruhig.

Durch diesen Zwischenfall aus aller Fassung gebracht, verschwand Jungfer Holst, ohne zu grüßen.

»Aha!« flüsterte der Major, »verstehe, Andreas, verstehe! Was glauben Sie, wird es nächste Woche nicht mehr vergeblich sein, zu kommen?« frug er diskret, indem er mit dem Schlitten wendete, um hinwegzufahren. »Wissen Sie nicht, ob der alte Zollinspektor zu Hause ist? – So … Und drüben bei Futen? Kann man dort ankommen?«

Er zog die Zügel an, winkte zum Gruße und lenkte vom Gaard.

»Dilla! 's ist, meiner Seele, Dilla! Gott verzeih mir,« brummte der Major, in sich hinein lachend, »'ne wahre Komödie das! Jungfer Holst wie eine Elster auf dem Treppenabsatz hin- und herwippend, bemüht, den Eingang zu decken; der Andreas bis über die Knöchel im Schnee, sich in Komplimenten überbietend; oben die Gardinen dicht vor die Fenster gezogen und dahinter der alte Foß, der tolle Mücken fängt. Das ist 'was für Futen! Doch zuerst zum Zollinspektor.«

Er trieb das Pferd zu größerer Eile an, blinzelte mit den Augen und lächelte – »Neuigkeiten, natürlich nur » sub rosa! …« Das Wort »Delirium« zauberte ein Bild von entschiedener Komik vor seine Seele. Dessen bloße Nennung war ihm, wie allen den guten Christen und braven Trinkern der Umgegend untrennbar mit einem ganzen Heer erheiternder Vorstellungen verbunden, an die nur gerührt zu werden brauchte, damit sie, wie eine Vogelschar aus einem Boote, daran plötzlich geklopft wird, aufflatterten. Es hatte sogar seinen Kosenamen; – daß sich jemand, milde gesagt, in »Dilla« befinde, konnte zündend wie eine Bombe wirken!

So war die interessante Begebenheit von dem Deliriumsanfalle des Alten denn auch ein Hauptspaß, den der Major nicht schnell genug unter die Leute bringen konnte.

Die arme Kirsten Holst! Der ganze Haushalt ruhte auf ihren Schultern, und wie sollte sie, allein wie sie stand, dem Strom aller jener Leute, die nach dem Tode der Hausfrau die bekannte Gastfreiheit des Foßhofes mehr und mehr zu erproben suchten, genügend starke Dämme entgegensetzen. Sie wußte, es führe zu nichts, die Besucher zu zählen; sie mußten eben empfangen werden.

Das Kartenspiel wurde im Herrenhause mit Hochdruck ganze Nächte hindurch betrieben, wobei der Point zu zwölf Schilling, ja sogar zu mehreren Mark hinaufgeschraubt und dabei eine Unmasse Grog und Punsch vertilgt wurde. Das arme Mädchen war überhaupt stets auf Ungeheuerlichkeiten gefaßt und niemals sorglosen Gemüts; es war ihr in den langen acht, neun Jahren, die sie unter diesem Dach verlebt, längst in Fleisch und Blut übergegangen, daß hier auf dem Foßhofe das Unwahrscheinlichste immer das am meisten zu Gewärtigende sei. Und bei jenen Scenen, welche in seinem Beisein in den unteren Stuben sich abspielen zu sehen Mads Foß nicht eben besonderes Vergnügen bereitet hätte, mußten sie und die Dienstleute gegenwärtig sein, mußten unter Angst und Ekel die Sorge auf sich nehmen, die Gäste, die mehr oder minder unfähig waren, sich selbst zu helfen, in die oberen Gastzimmer zu geleiten und daselbst zur Ruhe zu bringen.

Die Tochter eines früh verstorbenen Zollbeamten unten am Stapelplatze, eines Jugendfreundes des Gaardbesitzers, war Kirsten Holst, um in der Haushaltung auszuhelfen und selbst noch zu lernen, als sechzehn- bis siebzehnjähriges Mädchen hier aufgenommen worden und nach und nach ganz mit der Familie verwachsen. Es würde sie sicherlich in höchliche Verwunderung versetzt haben, hätte jemand im geringsten daran zweifeln wollen, daß sie zu dem Niet- und Nagelfesten im Hause gehöre.

Andreas, der Verwalter, stand nach der eingangs erzählten Scene, die beiden Fäuste stramm in die Seitentaschen seines mehlbestaubten Rockes versenkt, nachdenklich da und schaute dem Schlitten des Majors nach, der sich allmählich in der Allee verlor. »Er weiß sich schon für heute Abend noch eine Spielpartie zusammenzublasen, das alte Posthorn!« brummte er. Dann schaute er zum Herrenhause auf, stieg die Vortreppe empor und trat durch die Außenthüre ein. Drinnen in dem öden, weiten Gange blieb er beim Treppengeländer stehen und horchte.

Aus der Küche vernahm man das unterdrückte Schwatzen des weiblichen Teils unter dem zahlreichen Gesinde, welches noch von der Zeit her, wo die Frau lebte und alle Kinder daheim waren, dem Haushalte einverleibt war. Die zwei oder drei Knechte und die vier oder fünf Mägde waren übrigens für alle die Fremdenstuben, für die auf übertriebene Gastfreundschaft zugeschnittene Wirtschaft und für die vielen Botengänge nicht zu viel in diesem von Besuchern so oft überfüllten Hause. Auf der breiten, weißgescheuerten Treppe, die nach dem ersten Stock führte, war ein Waschbecken mit einem blutigen Schwamme darin stehen geblieben. Aus dem Schlafzimmer oben drang jetzt lautes Rufen, dem, gedämpft durch die Thür des Vorsaals, ein unheimliches Gebrüll, gleich dem Geheul eines Tieres folgte.

Man schlich auf den Zehen oben auf dem Gange und sprach eifrig, halb flüsternd. Man fürchtete wohl abermals einen Anfall. Nun öffnete sich die Thür, und Madame Torbjörnsens Stimme scholl kurz und schroff heraus. Sie brauchte das Waschbecken mit frischem Wasser.

»Und noch mehr Essig; du, Hilda, springe hinunter und hole welchen aus der Platmenage.«

Die Sprecherin war die alte, wohlbestallte Wehemutter des Landdistrikts mit ihren selbsteigenen medizinischen Ansichten und der vollen Autorität ihrer langjährigen Doktorpraxis. Sie hatte beinahe alle die Kinder hier im Hause ans Licht der Welt befördert und war die Allbetraute für derlei Fälle von privater Beschaffenheit, welche es nicht eben wünschenswert machten, den Arzt des Hauses herbeizurufen.

Die Treppe hinab und dann mit der Essigflasche in der Hand wieder zurück hinauf huschte ein junges, bleiches Mädchen. Erschrecken lag auf der ganzen zarten Gestalt.

»Am besten, du gehst auf dein Zimmer hinüber, Hilda,« vernahm man jetzt oben Madame Torbjörnsons Stimme. »Sie müssen sie von hier fernhalten, Jungfer Holst! Das ist nichts für das Kind, wie er es drinnen treibt, und wie er brüllt. Denn jetzt hat ihn der Böse; aus allen Winkeln fahren die Teufel, da kreucht's und da pustet's und glotzt es, daß einem die Haare zu Berge stehen.«

Ein plötzlicher Lärm wie von einem umgestürzten größeren Möbelstück wurde von drinnen hörbar.

»Die große Anna soll sich in der Nähe aufhalten,« sagte Frau Torbjörnsen; »denn, wie es jetzt steht, wird er unbändig und springt uns gar aus dem Bette.« Sie eilte in das Krankenzimmer.

Andreas blieb aufhorchend, die Hand auf das Geländer gestützt, stehen.

Es war wieder still geworden, vollkommen still im ganzen Hause.

Die Thüren zur Wohnstube und zu den inneren Gemächern waren hinter Hilda offen stehen geblieben, und des Verwalters Blick glitt mechanisch den Fugen der Dielenbretter entlang an einer Reihe von Sesselbeinen, am Büffet, an dem feinen Glaszeuge, dem Silbergeschirr vorbei zu der alten englischen Schlaguhr mit der mondgroßen, messingenen Pendelscheibe, die hinter dem Glase im Uhrengehäuse mit hörbarem Ticktack auf und niederging. Seine Augen schweiften durch das Empfangszimmer bis ganz hinten hin in das ehemalige Boudoir der Frau, wo die beiden alten Porträts hingen, und wo jetzt der Spieltisch für die angesehensten Gäste aufgeschlagen zu werden pflegte.

Die Strahlen der Vormittagssonne fielen hell hinein. Das Kätzchen schlich mit weichen Pfoten umher, schnurrte und streckte sich wie gelangweilt, war überhaupt ein elektrischer Mitfühler der gedrückten Stimmung im Hanse. Es warf dabei ab und zu einen Blick zu dem Kanarienvogel im Bauer empor; – gab es doch nicht einmal eine armselige Fliege am Fenster zu haschen.

Der unheimliche tierartige Laut aus dem Krankenzimmer drang zuweilen herüber.

Kirsten Holst stand oben vor der Thür des Vorsaals. Sie faßte die Klinke und ließ sie wieder los, drückte endlich doch auf, aber zögernd, als graue ihr, einzutreten. Ein seltsames, heiseres Lachen des Kranken ließ sich vernehmen, als sie endlich öffnete.

Andreas stieß unwillig hervor: »Sollte ein paar handfeste Bursche um sich haben, ihn zu halten, wann das Toben über ihn kommt … So ein armes Frauenzimmer muß es rein von Sinnen bringen.« Er schloß sodann ungeduldig die Thür der Wohnstube. Der Kanarienvogel hatte drinnen in der Einsamkeit wie besessen zu schmettern begonnen.


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